Manchmal kann ich Wörter hassen. Vor allem hasse ich Modewörter mit moralischem Zwangsindex – also Wörter, mit denen Leute ‚ein Zeichen setzen‘ wollen, zum Beispiel, oder ‚klare Kante zeigen‘, oder ‚Stellung beziehen‘; Wörter, bei denen deshalb immer der moralische Zwangsindex mitintoniert werden muss, das kann man in Perfektion bei Nachrichtensprechern erleben, die ihn vollständig verinnerlicht haben, ein permanentes Empörungs-Tremolo. Ein Aufsteiger in diesem sprachlichen Juste-Milieu ist (neben ‚relevant‘, das Rennen ist noch im Gang) die wertschätzende Haltung, der wertschätzende Umgang, die wertschätzende Kommunikation. Früher hat man vielleicht noch einmal etwas ‚gewürdigt‘ (Würde! es lebe der Wortstamm!) oder ‚anerkannt‘ (Kennen!), vielleicht sogar war man, gelegentlich, dankbar. Heute hingegen schätzt man Wert, überall, es müssen auch gar keine materiellen Werde sein, eher im Gegenteil (natürlich bildet trotzdem der Geldwert die Folie für all die Schätzung, darüber spricht man aber nicht gern). Befragt darauf, welcher Wert denn nun genau geschätzt würde, würde man wahrscheinlich keine Antwort bekommen, sondern nur einen vorwurfsvollen Blick, genau so wenig wie auf die unschuldige Frage: Relevant für was genau? Nein, der Wert hat sich verselbständigt, er ist natürlich ein moralischer, aber welcher im Einzelnen – irrelevant. Wir, die Gutfühlenden, -denkenden, -glaubenden, teilen eine Wertegemeinschaft, die im Wesentlichen dadurch zusammengehalten wird, dass niemand allzu genau auf ihre einzelnen Bestandteile schaut (manchmal sehnt man sich nach den guten alten Zeiten der Tugenden zurück; da kannte man auch noch Laster!). Es ist aber eher ein Eintopf denn eine Consommé.
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In den guten alten Zeiten aber, wo man noch zu sagen wusste, was man denn nun schätzte und würdigte, waren das zunächst natürlich das Wahre-Gute-Schöne; was eine Zeitlang unproblematisch zusammenfiel, dann begann das Schöne seine eigenen Wege zu gehen, und auch die Wahrheit suchte sich andere Bettgenossen. Übrig blieb das Gute, das so ganz allein aber weder besonders schön aussah noch besonders überzeugend wirkte, so dass es sich schließlich selbst in die Unverbindlichkeit verabschiedete: bedingungslos relevant werden, universell wertschätzend, eine Globalphrase.
Besonders deutlich ist dieser Prozess in der Ästhetik zu verfolgen, also bei den Wechselwerten des ehemalig Schönen. Schon im 18. Jahrhundert bekam es ernsthafte Konkurrenz vom Interessanten; ganze Gattungen, wie der Roman, dieser Plebejer der Gattungsgeschichte, wurden auf seinem Rücken zum Erfolg getragen, und bis heute ist ‚interessant‘ immerhin eine mögliche Antwort darauf, was man denn an einem Text gut finde. ‚Interessant‘ war eigentlich ein ganz ordentliches Wort: Es drückte, vom Wortstamm her, Teilnahme aus, etwas zwischen Fühlen und Denken: Ich widme diesem Ding jetzt meine gesteigerte Aufmerksamkeit, weil mir an ihm liegt. Weil ich es verstehen will. Man kann es nicht essen (dann hätte man Hunger), man kann es nicht kaufen oder verkaufen (dann wäre es materiell); aber ich erwarte mir etwas davon, mich mit ihm zu beschäftigen, an ihm teilzunehmen, es in mein Leben und mein Denken hineinzulassen. Es war ein sachliches Wort, aber es war auch ein wertendes; es sagte: Eine Sache ist mir persönlich eine gewisse Mühe wert. Ich habe etwas an ihr entdeckt, das mich betrifft, aber ich bin darüber hinaus auch an der Sache selbst interessiert.
Irgendwann jedoch stieg ‚interessant‘ ab, in die zweite Wort-Liga, wo nicht mehr die ganz großen Wortgefechte ausgetragen werden; nur noch augenzwinkernd sagte man es noch, „interessant, nicht?“ und signalisierte damit, etwas sei bestenfalls bedeutungslos, wahrscheinlich aber doch zu langweilig, um die Mühe zu rechtfertigen. Auf hingegen stieg ‚spannend‘. Auf jeder Tagung, in jedem Interview, in jedem besseren feelgood-bullshit-Bekenntnisgespräch finden nun ständig Leute Dinge spannend. Was natürlich dramatischer klingt, klar: Spannend nimmt uns mit, spannend ist ein Krimi oder Game of Thrones, und eine Spannung kann hoch professionell aufgebaut und wieder abgebaut werden, auf jeden Fall aber wird sie einer Lösung zugeführt, so dass man hinterher entspannt ist, und wer will das nicht. Interessant war offenbar nicht spannend genug; auch für geistige Geschäfte braucht man in einer Welt, in der die Zahl der virtuellen Ablenkungsmöglichkeiten die der nur ‚interessanten‘ Tätigkeiten um ein Vielfaches übersteigt, inzwischen härtere Drogen.
Die Steigerungsform von ‚spannend‘ ist übrigens, auch im wissenschaftlichen Jargon, ‚sexy‘. Dass Theorien sexy sein können, hätte Einstein sicherlich überrascht, und wenn es je eine Theorie gab, die wirklich sexy war, dann wäre die Relativitätstheorie schon ein ziemlich guter Kandidat dafür gewesen. Was es aber für geistige Tätigkeiten oder gar die Wissenschaft bedeutet, wenn sie nicht mehr nur milde interessant, sondern mindestens spannend sein müssen – also, sagen wir: eher auf Unterhaltung und Aufregung aus als auf Erkenntnis, und mit dem Versprechen auf ein gutes oder schlechtes, auf jeden Fall aber ein reinigendes, kathartisches Ende; oder wenn sie gar sexy sein sollen – also von instinktgetriebener Attraktivität und von dem damit gewöhnlich einhergehenden proportionalen Verlust von Selbstbeherrschung und geistiger Freiheit begleitet – das wäre eine Frage, die interessant, vielleicht sogar spannend, wenn auch nicht gerade sexy wäre; außer man nähme die Fruchtbarkeit als Kriterium hinzu. Aber dem hat die Verhütung einen Riegel vorgeschoben: Ideen haben sich nicht ungeregelt zu vermehren, wo kämen wir denn dahin!
Vielleicht sollte man also doch dem Känguru folgen? Das Känguru nämlich, dessen anarchistische Weisheiten sehr gut geeignet sind, allen möglichen Globalphrasen die Luft herauszulassen, lässt nur noch eine Kategorie zu in ästhetischen Dingen: witzig. Klingt wie ein Witz, hat aber was. Denn was ist witzig? Das wirklich Unerwartete, die befriedigende Auflösung einer Spannung in einer Pointe – aber nur dann, wenn man aufgepasst und gut zugehört und mitgedacht hat. Um aber einen Witz zu machen oder zu verstehen, muss man zurücktreten. Sich selbst nicht mehr so ernst nehmen. Die Realität – nein, nicht zu ‚hinterfragen‘, auf ihre Relevanz gar, um Gotteswillen!; nein, die Realität so übertrieben ernst nehmen, bis sie wieder lustig wird. Witzig ist das Gegenteil nicht von ‚nicht witzig‘ oder ‚langweilig‘. sondern von wehleidig. Witzig ist die Weisheit in einer Nussschale, und wenn man sie ganz allein geknackt hat, spritzen die Fetzen in alle Richtungen! (Nussknacker aber sind für Weicheier).
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Früher waren Dinge auch einmal: ‚wichtig‘. Vielleicht waren sie sogar ‚bedeutend‘ – ein Goethe-Wort, wenn es jemals eines gab, und schon bei Goethe habe ich mich regelmäßig gefragt: Bedeutend für was denn bitte? Denn bedeutend, oder, wie man heute an jeder Straßenecke hört: ‚relevant‘ benötigt eine Qualifikation, technisch gesprochen: einen Index–- bedeutend für was (denn ein be-deuten muss ja auf etwas Konkretes deuten, sonst deutet es nicht), relevant für wen oder was, in welchem Kontext, warum? (re-levare bedeutet: einen Messbalken wieder in die Höhe heben; aber vielleicht ist es ja durchaus von einer gewissen Bedeutung, was dieser Messbalken misst, Kilogramm oder Kilometer oder Kilojoule?). Aber nein, etwas ist einfach ‚relevant‘ – und die verbreitetste Suggestion ist dabei: gesellschaftlich relevant, politisch relevant, moralisch relevant, was aber alles irgendwie unscharf ineinander übergeht, da diese früher einmal durchaus bedeutenden Grenzen längst gefallen sind.
‚Relevant‘ ist deshalb das Lieblingswort des Politisch Korrekten: Es ist ein Aufmerksamkeitsmarker, dem sich keiner entziehen darf, ohne sofort – nun, nicht der völligen Irrelevanz zu verfallen, was ja noch hinnehmbar oder gar annehmbar wäre, sondern als moralischer Blindgänger, politischer Populist oder gesellschaftlicher Hinterwäldler (denn: hinter den Bergen wohnen keine Leute, sondern Hinterwäldler!) gebrandmarkt zu werden. Nein, alle Sachverhalte, denen man das Etikett ‚relevant‘ anheften kann, steigen sofort und vor allem: automatisch einige Stufen auf der Messlatte des fortgeschrittenen politischen Bewusstseins, dessen Maximum übrigens heutzutage in der Reichweite eines jeden liegt, der bedeutungsschwanger ‚relevant!‘ sagen kann. Denn wenn man sich nun darüber verständigen müsste, für was, für wen, warum – oh weh, wie leicht könnte da ein unergiebiger Streit aufkommen, und dahin, dahin wären all die schöne Einigkeit und das volle Gefühl der eigenen Bedeutung (das aber eigentlich nur von einem undefinierten Gegenstand geliehen ist, eine Art Bedeutungs-Leasing, sozusagen, und das wahrhaft Schöne ist: Es nutzt gar nicht ab dabei, und kosten tut es auch nichts!). Nein, relevant ist relevant, und ein Ignorant, wer dahinter eine trost- und sinnlose Tautologie vermutet!
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Genauso ist es übrigens den ‚Werten‘ überhaupt ergangen. Frühere Zeiten haben sich mühsam gestritten, haben argumentiert, sich exaltiert, sich resigniert, widerlegt, behauptet, verworfen, bestritten, auf jeden Fall jedoch: sich Mühe gegeben zu definieren, was das denn überhaupt sei: ein Wert, und welches der höchste sei, und welche vielleicht untergeordnete, mitgeteilte, notwendige oder hinreichende, verpflichtende oder freiwillig anerkannte Werte – aber alles umsonst, wie sich nun herausstellt. Dass, worauf es ankommt, ist, dass man Werte hat; welche, ach Gott, wer wüsste das schon so genau! Europäische, universale, freiheitliche, es gibt einige zertifizierte Qualifikationsstempel, und die tragen nicht besonders zur Präzisierung bei (außer: sie diffamieren natürlich, im Handumdrehen sozusagen, nicht-europäische, partikulare, begrenzt geltende Werte, für die man einiges, durchaus Gewichtiges, anführen konnte). Heutzutage kann man endlose Wertedebatten führen, ohne dass man nur einmal sagen muss, welchen Wert man denn genau und im Einzelnen meint. In einem umfangreichen Handbuch zum Thema ‚Literarische Wertung‘ ist es mir nicht gelungen, auch nur einen Artikel zu finden, der konkret sagt, was denn ein literarischer Wert sein könnte; nein, aber endlose Abhandlungen über die Relativität von Werten, ihre problematische Bestimmung, ihre zweifellos unentbehrliche Funktion, ihre diversen Ausdrucksformen, ihre scharfsinnige Kritik und ihre wechselhafte Geschichte – was auch immer, aber niemals eine Währung, eine Maßeinheit, eine Bestimmung eines Einzelwertes. In einer Diskussion mit Fachphilosophen ist es mir nicht gelungen zu vermitteln, dass es noch andere Werte als moralische geben könnte (Physik ist natürlich eine ziemlich mindere Form von Philosophie, und Ökonomie definitiv nur für Halb- und Viertelgeister!). Der Wert ist ein Wert an sich! (und schon schaut die totalitäre Tautologie wieder um die Ecke und grinst, weil sie immer schon da ist, während die Argumente noch mühsam vor sich hin kriechen und die Dialektik wieder die Kurve zu scharf genommen hat und schon auf dem Rückweg ist)
Als meine kleine, private Form der Rache praktiziere ich gern folgendes: Ich verwende den zweifellos philosophisch (wenn man damit einfach meint: Selbstdisziplin des Denkens mit Begründungspflicht) relevanten Begriff des ‚Grundes‘ ohne jegliche Qualifikation. Ich sage einfach, vorsichtshalber, bevor noch eine Begründung einer verwegenen These eingefordert werden kann: „mit Gründen“. Die Kurzform davon ist, im Übrigen, das hat die Jugendsprache hervorragend und so viel klarsichtiger als die Philosophen erkannt: „weil“, allerhöchstens noch versehen mit fragender Intonation am Schluss? Einfach „weil“. Begründungen sind für Luschen und Loser! Es kommt schließlich nicht darauf an heutzutage, welche Gründe im Einzelnen; sie würden auch das Denkvermögen der meisten Leute überfordern, das völlig erschöpft ist, wenn es nur energisch irgendetwas gefordert hat, weil es relevant ist! Gründe? Ach, ich hätte Gründe. Schöne Gründe, gute Gründe, gelegentlich sogar: tiefe Gründe. Aber gegen den Abgrund an Begründungsverweigerung und Bedeutungsbehauptung kommt man nicht an. Gründe sind letztlich, im Grunde, dem letzten – irrelevant.
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Wenn es übrigens etwas gibt, das noch ansteckender ist als Corona (von dem in Wirklichkeit niemand weiß, wie ansteckend es ist), dann sind es die Floskeln, mit denen Corona medial bewältigt wird. Nachdem wir erst alle Fachleute im Epidemiologie-Speech wurden (flatten the curve, nein, gemeint ist nicht der Bierbauch; Reproduktionszahl, nein, es geht nicht um die weiter kontinuierlich sinkende Kinderzahl in zivilisierten Staaten; Übersterblichkeit, nein, hat nichts zu tun mit Unsterblichkeit oder damit, dass es über dem Sterben noch irgendetwas anderes gäbe, ein höheres Prinzip, qualitätvolles und nicht einfach alternativloses Leben zum Beispiel, nein, nein, nein!), sind wir mit der abgeflachten Kurve auch alle auf ein neues Paradigma umgeschwenkt: Es heißt ‚Verhältnismäßigkeit‘ (oder, in den sehr flach argumentierenden kritischen Qualitätsmedien, die nach dem epidemiologischen Imperativ noch übrig geblieben sind): Unverhältnismäßigkeit. Eigentlich sollte ich mich darüber freuen. Eigentlich ist das eines meiner Lieblings- und Herzenswörter; na gut, es ist nicht besonders schön, eher umständlich, wie der Sachverhalt, den es beschreibt. Gemeint ist nämlich eine Abwägung von Verhältnissen gegeneinander, auf eine Seite der Waage legt man dieses, auf die andere Seite jenes, und das so lange, bis die Waage stillsteht, weil auf beiden Schalen das gleiche liegt, nein, nicht das Gleiche, sondern: dass mit unterschiedlichen Dingen ein gleichgewichtiges Verhältnis hergestellt ist. Mein Opa hatte in seiner geheimnisvollen Werkzeugkammer neben dem bedrohlichen Schraubstock eine alte Waage, auf die man Gewichte legte. Es gab kleine Klötzchen mit einer Art Hut obendrauf, mittlere Klötzchen, große Klötzchen, und auf und nieder ging die Waage, bis sie auf einmal, schön in der Mitte, stillstand. Alte Marktfrauen hatten auch solche Waagen, und eigentlich wussten sie es im Blut, wieviel Kartoffeln man auf die eine Seite legen musste, damit es mit den Klötzchen auf der anderen aufkam. Ach, Verhältnismäßigkeit, Ausgewogenheit, Abgewogenheit, Urteilskraft – ich könnte ganze Hymnen auf diese alten Tugenden singen, man muss es ja nicht gleich die ‚goldene Mitte‘ nennen, ganz normale Klötzchen aus Messing oder Blei (unedle Metalle, es glänzen auch Dinge, die nicht Gold sind) tun es auch. Aber wenn man nun ganz ungleiche Dinge auf die beiden Seiten legt, sagen wir: die Bedrohung der Gesundheit (für die meisten) und des Lebens (für weniger) durch einen weitgehend unbekannten und geheimnisvollen Virus auf der einen Seite und die Bedrohung durch einen gänzlichen Stillstand von Wirtschaft und Verkehr, Konsum und Handel, Geselligkeit und Austausch auf der anderen – woher soll man die Einheiten nehmen, wer gibt uns die Klötzchen, wer hat sie gewogen? Tatsächlich ist das nicht leicht, sondern sehr, sehr schwer. Man müsste lange nachdenken und Dinge abwägen; man käme in Zielkonflikte und gelegentlich sogar wäre man konfrontiert mit der einen oder anderen Unwägbarkeit (ist das Leben wägbar? verhältnismäßig gesehen?). Aber zum Glück ist es ja gar nicht so schwierig. Denn, als reine Floskel betrachtet, ist Verhältnismäßigkeit, also: nackte Verhältnismäßigkeit sozusagen, völlig unabhängig von lästigen Inhalten, gewogenen Dingen, konkreten Bezügen. Es reicht zu sagen: Aber ist das denn verhältnismäßig? Genauso wie man sich angewöhnt hat zu sagen: Aber ist das denn relevant? Für was, in welcher Hinsicht, in welchem Grad, unter welchen Bedingungen auch immer, scheint definitiv irrelevant, um nicht zu sagen: völlig unverhältnismäßig. Verhältnismäßig eben! Relevant eben!
An dieser Stelle bekomme ich immer eine altmodische Phantasie: Vor meinem inneren Auge taucht der Android Data aus Star Trek Voyager auf. Wenn man Data nach seinem Befinden fragt, runzelt er etwas künstlich die künstliche Stirn und sagt dann: „Ich funktioniere innerhalb normaler Parameter!“ Auch Nachfrage könnte er sie natürlich nennen. Es fragt aber nie jemand. Wenn wir Details zu Corona wollen, fragen wir den gerade diensthabenden Meinungs-Epidemiologen (oder den, der am meisten einer Meinung ist mit uns, wenn wir ganz sicher gehen wollen). Dafür brauchen wir keine Waage. Keiner braucht Waagen, wenn er entweder Floskeln (fürs grobe Meinungsbilden) oder Experten für den Rest hat. Denn wenn man eine Floskel auf eine Waage legt, rührt sich gar nichts, nicht mal ein lindes Lüftchen. Luftworte haben kein Gewicht. Floskeln sind inhaltsneutral. Zu Bedeutungen halten sie Sicherheitsabstand. Vor Nebenwirkungen für die geistige Gesundheit warnt kein Apotheker und nicht der Lieblingsexperte unserer Wahl. Aber leider wirken sie extrem ansteckend. An einem Impfstoff arbeitet die Menschheit, seit sie ihr Bewusstsein gefunden hat (die Evolution hatte sich einen Moment schlafen gelegt, mit fatalen Folgen). Bisher ohne sichtbaren Erfolg.
WENN MAN DAS DING NICHT HÄTTE
The right thing; is that even a thing? Ach ja, das Ding. Irgendwie hat es seine begriffliche Unschuld verloren in den letzten Jahren; es ist nicht mehr Rilkes Alltags- oder Kunstding, das einfach nur existierte, als Nicht-Menschliches, aber Alterndes, Nützliches (oder: dezidiert Unnützes), Anfassbares; ein Gefäß für Vieles, was anderswo nicht recht hinpasste. Und genau diese Gefäßhaftigkeit war wohl sein Untergang: Denn jetzt ist einfach alles ein „Ding“ geworden, was – ein komplexer Sachverhalt ist, seinem Kern nach; ein Zusammenhang von Phänomenen, Ursachen, Wirkungen, eine Verkettung, die zwar als solcher erkannt wird, aber eben – keinen eigenen Namen hat. „Ding“: Das ist wortgewordene Reduktion von Komplexität! Denn wenn wir es „System“ nennen würden, klänge es zu technisch; wenn wir es „Idee“ nennen würden, klänge es zu geistig; „Problem“ klingt zu gefährlich, und „Tatbestand“ zu technisch, „Komplex“ zu leer. Das ist auch nicht alles das Gleiche, eben nicht! Aber anstelle zu entscheiden, um welche Art von geronnener Komplexität es sich handelt, flüchtet man sich lieber ins „Ding“. Is it even a thing? – das meint: Hat es eine irgendwie wahrnehmbare Abgrenzung gewonnen, die es unterscheidbar macht von dem, was einfach so vorgeht, im Modus des „Seinesgleichen passiert“. Wenn ja, dann kann es angeeignet werden und wird „mein Ding“; oder abgelehnt werden, „Nicht mein Ding!“ Es kann auch moralisch affirmiert werden, doing the right thing. Weitere Präzisierung nicht nötig, das wäre ja auch zu kompliziert. Nein, der große Vorteil des systemtheoretisch ausgeweiteten „Ding“ ist ja gerade, dass man nicht spezifizieren muss, was sein Inhalt oder sein ideeller Status oder seine genaue Funktion ist; es ist eben ein komplexes Ding, ein Zusammenhang von irgendetwas mit irgendetwas, der immer wieder so auftritt, im Großen und Ganzen jedenfalls. Und seine Inhaltsleere korrespondiert aufs schönste mit der von anderen Worten, die auch nur noch geistleere Hülsen sind: „Werte“, zum Beispiel; es ist eigentlich egal, welche, Hauptsache, man hat „Werte“! (notfalls: Freiheit und Demokratie; und keines von beiden ist ein Wert im eigentlichen Sinne, das eine ist eine Idee, bestenfalls, und das andere ist eine Staatsform). Oder: „Kultur“! Alles, was sich zu einem undefinierbaren Knäuel von Handlungen und Normen verfestigt hat und auf dessen Boden nun Verhaltensweisen gedeihen, die genauso gut nützlich und menschenfreundlich wie schädliches Unkraut sein können, ist jetzt eine „Kultur“ – und sei es eine des Lügens, Verschweigens und Vertuschens oder Mobbens. War es nicht schön, als Kulturen noch Orte der tatsächlichen Fruchtbarkeit waren, mit kultivierter Kommunikation, kultivierten Ausdrucksformen, kultivierten Produkten und einem schönen Nebeneinander von Hoch- und Populärkulturen? (nicht aber solchen der Unkultur). Dazu die heilige Trias der modernen Kollektivschuld: „Rassismus“, „Kolonialismus“, „Hass“. Alles einmal Worte mit relativ konkreten Bedeutungen; sie bezogen sich auf unterscheidbare Konzepte, konkrete historische Vorgänge oder, im Falle des allgegenwärtigen „Hasses“: auf menschliche Emotionalität, und zwar in konkreten Fällen. Nun: Totschlagargumente, und man mag noch nicht einmal von „Argumenten“ sprechen, nein: es sind rhetorische Todesurteile, gegen die kein Einspruch möglich ist.
KAUFPRÄMIEN
Das Allheilmittel gegen Corona und alle damit verbundenen, verhältnismäßigen wie unverhältnismäßigen Leiden ist aber sowieso Geld. ‚Whatever it takes‘! ist die eine Universal-Maxime der Zeit. Ihren verhältnismäßigen bzw. eher unverhältnismäßigen Wert kann man gut dadurch erproben, indem man sie beispielsweise verschiedenen Personen in den Mund legt. Wir könnten natürlich gleich mit Adolf Hitler anfangen, aber das ist ein klein wenig unfair; heute wären die meisten ja schon zu Tode erschrocken, wenn Donald Trump sagen würde: „Whatever it takes!“ und dazu die Tolle schüttelte! Whatever it takes ist ein Lieblingssatz von Mafiabossen, Tyrannen und Psychopathen. Und der Satz wird auch nicht besser, wenn wir ihn Mahatma Gandhi in den Mund legen oder Albert Einstein. Beide hätten ihn auch nie und nimmer gesagt. Na gut, Gandhi vielleicht, aber er meinte nur: Er persönlich sei zu jedem Opfer bereit, und das ist völlig in Ordnung. Der Satz ist aber nicht vergemeinschaftungsfähig. Jeder kann ihn nur für sich selbst sagen. Und besonders hellhörig muss man werden, wenn er mit seinem nahen Verwandten auftritt, nämlich dem vergemeinschafteten Risikoabtritt, der zweiten Krisen-Universalmaxime: „Niemand soll in der Krise schlechter gestellt werden!“ Entschuldigung, was genau ist dann das Krisenhafte an einer Krise? Muss ja geradezu das Paradies sein, so eine Krise, denn im normalen Leben ist bekanntlich immer jemand schlechter gestellt. Von Geburt an, da kann man noch so lange auf der Chancengleichheit herumreiten, am Ende bricht der Gaul müde zusammen, weil er keine Chance hatte. Begabtere Gäule haben ihn überholt. Oder reichere. Oder schlauere, egal. Die Welt ist nämlich nicht gerecht, und Chancengleichheit interessiert die Evolution einen feuchten Kehricht; Mutation interessiert sie, Veränderung, Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Situationen (nein, ich sage jetzt nicht „Herausforderungen“. Situationen). Wenn alle Menschen gleiche Chancen jemals gehabt hätten, wären wir tot. Oder im Neandertal, und würden uns mit absolut gleich großen Steinen die absolut gleich großen Köpfe einhauen. Nimmt man nun beide zusammen, „Whatever it takes“ + „niemand soll in der Krise schlechter gestellt werden“, ist das zum Glück eine mathematische Aufgabe, die einer Lösung zugeführt werden kann, sie lautet: Geld. Unbegrenzte Mengen Geld. Schutzschirme, bis einen nicht mehr ein Staubkorn treffen kann, geschweige denn ein versprengtes Corona-Aerosol, Schutzschirme, einer über dem anderen, vielleicht helfen sie auch noch vor der Klimakatastrophe! Bei Helikoptergeld sind sie aber schnell wieder einzuziehen.
Als dann noch die Idee mit der Kaufprämie kam, konnten wir nicht einmal mehr zynisch lachen. Gestern haben wir noch das Klima mit Unser-Aller-Greta durch Konsumverzicht gerettet, und heute werden wir belohnt, wenn wir unser sowieso fast neues Auto auf den Müll tun (äh, den Müll müssten wir natürlich auch reduzieren, eigentlich) und ein Neues kaufen. Es mag ja Elektro sein, das macht es aber kaum besser, zumal der Strom ja auch nicht direkt natürlich aus der Steckdose wächst. Seitdem wollen wir eigentlich für alles Prämien. Die geplagte Touristik-Industrie? Eine Kreuzfahrtprämie! Notleidende Restaurants? Speisegutscheine, all you can eat! Darbende Kulturschaffende? Jeder Opernbesucher ein Opernglas umsonst! Die größte Prämie wollen wir aber fürs Wählen. Es tut jedes Mal mehr weh, seinen demokratischen Pflichten nachzukommen. Und das Ergebnis ist eigentlich immer so, dass man hinterher noch einen Schutzschild mehr braucht. Vor Dummheit hat aber noch nie ein Schutzschild geschützt.
OPFER
Noch eine Anekdote. Das Wort ‚Opfer‘ hat ja sowieso schon eine ziemlich buntscheckige Geschichte mit mehreren Häutungen hinter sich. Ist es heutzutage nun gut oder schlecht, ein Opfer zu sein? Als Opfer bekommt man zwar Opferschutz und Opferprämien, aber man will ja auch nicht auf dem Schulhof auf „Du Opfer!“ hören! Früher, gaaaanz früher, da waren Opfer mal eine ehrenhafte Angelegenheit. Na gut, man will jetzt auch nicht abraham-mäßig seinen Sohn opfern, und Leute, über die sich der Priester mit der grusligen goldenen Maske und dem sehr scharfen gebogenen Messer in der Hand beugte, hatten dazu sicherlich auch sehr klare Meinungen. Aber im Großen und Ganzen war klar: Die Götter wollen Opfer, die Priester wollen Opfer, und der Rest fühlt sich eigentlich auch besser, wenn gelegentlich, verhältnismäßig natürlich, etwas geopfert wird. Alle Religionen haben das begriffen, und der Rest darf für Brot für die Welt spenden. In Indien gibt es überall kleine Altäre; sie hängen an den mächtigen Straßenbäumen, sie sich durch Vorhänge in kleinen Tempeln zu erspähen, und niemals hätte man sich ihnen, so religiös unbegabt und schlecht ausgebildet man auch ist, mit Schuhen genähert. Ach, ich bin sogar sentimental genug, in katholischen Kirchen Kerzen anzuzünden (und sie zu bezahlen, natürlich). Damit ein Licht brennt, es ist immer gut, wenn ein oder zwei mehr Lichter brennen auf der Welt. Natürlich sind das keine echten Opfer, das weiß ich schon. Aber wenigstens bilde ich mir ein, erkannt zu haben, dass Opfer sein müssen.
Und damit nun endlich auf wieder einmal gewundenen Umwegen zur Anekdote. Sie ist schon lange her, also: viel vor Corona, und sie spielt nach einer wissenschaftlichen Tagung. Man hatte sich nett und zivilisiert ausgetauscht, und nun saßen wir in einem großen Taxi, das uns zum Bahnhof brachte. Mit mir auf der Rückbank saß ein älteres Ehepaar; er ein emeritierter Altphilologe, schmal, hochgebildet, ein wenig alterweise wirkend, und seine ebenfalls wache und intelligente Frau, eine gut zusammengewachsene Einheit. Und irgendwie kamen wir auf Privates zu sprechen, es ging um die Enkelkinder, und beide klagten unisono, es sei ja so schwierig für die jungen Leute, beide hätten ja Berufe, in denen sie viel arbeiten müssten, und natürlich würden sie aushelfen, aber es sei doch – eine Schwierigkeit (nein, ich glaube nicht, dass sie ‚Herausforderung‘ sagten). Ich sah etwas unkonzentriert auf die vorbeihuschenden Weimarer Vororte und sagte so nebenher und vielleicht ein wenig zu sehr aus der Hüfte: „Tja, da wird wohl jemand mal ein Opfer bringen müssen!“ Als ich mich zu den beiden netten Älteren herumdrehte, vielleicht wollte ich sie auch allzu gern als Philemon und Baucis imaginieren, starrten sie mich mit offenen Mündern an. Äh, sagten sie vielleicht, und dann sagten sie gar nichts mehr. Der Gedanke, dass irgendjemand ein Opfer bringen müsste, freiwillig, gar zum Wohl der eigenen Kinder, wohlgemerkt, die „unsere Zukunft“ und das Tollste und Beste und Höchste überhaupt sind, war ihnen so fremd, dass ihnen noch nicht einmal eine zivilisierte Floskel mehr einfiel. Heimlich hoffe ich bis heute, dass ich sie zum Nachdenken gebracht und nicht nur zu Tode erschrocken habe; ich hätte ja auch noch nachschieben können: „Seid ihr nicht die Generation gewesen, die noch im Krieg war?“ Aber so ist das, wenn man zwischendurch aus Versehen eine kleine Wahrheit abschießt. Das eigentliche Opfer ist man immer selbst, und es wird bezahlt mit Liebesentzug. Es ist ein Opfer, das zu bringen ist.
DIE ABHOLGESELLSCHAFT
Bei den meisten Metaphern weiß man nicht, wer sie erfunden hat; was eigentlich schade ist, denn bei einigen könnte man mit den Lizenzgebühren ziemlich reich werden. Leider sind es nicht immer die besten, aber warum sollte das mit Metaphern anders sein als mit realen Produkten? Man muss die Leute eben ‚dort abholen, wo sie stehen‘, und nicht, wo man sie lieber haben möchte – und damit sind wir auch schon beim Thema. Es ist nun schon einige Jahre her, dass die Redewendung aufkam, sei es in Bezug auf nicht ganz so lernwillige Schüler, nicht ganz bildungsgereifte Studentinnen, von Gebrauchsanweisungen überforderte Konsumenten oder dann doch nicht so ganz mündige Bürgerinnen: Man müsse die Menschen (und ja, es muss bei solchen Formulierungen immer ‚Menschen‘ heißen, nichts anderes menschelt so schön) dort abholen, wo sie stehen! Gemeint war, und der Gedanke ist ja so falsch nicht, dass man niemand völlig überfordern soll, sondern im Blick behalten, was tatsächlich möglich und machbar ist in einer gegebenen Situation mit einem gegebenen Personal (ja, Menschen). Ein Entgegenkommen der Klügeren, Gebildeteren, Überprivilegierten, der Experten und Spezialisten, der Alleskönner und Alleswisser gegenüber dem Rest der Menschheit; und nein, ich verwende jetzt nicht den engen Verwandten des Abholens, die ‚Augenhöhe‘, darüber gibt es einen eigenen Artikel, falls ich mir die Lizenzgebühren noch leisten kann. Alles schon ganz recht so, man vergisst aber gelegentlich, dass die solcherart Abgeholten sich eigentlich, gelegentlich, auch ganz gut auf eigenen Füssen ein wenig fortbewegen könnten, einem entgegenkommen sozusagen, damit man sich auf halbem Wege trifft, und beide könnten sich freuen, weil sie sich bewegt haben und ein wenig Mühe gegeben und den eigenen Standort verlassen (nennen wir es: ‚Bringschuld‘? die Metapher ist etwas aus der Mode gekommen, nur noch wenig Lizenzgebühren! Auch ‚Entgegenkommen‘ selbst war eigentlich ganz schön). Weil, wenn man die Menschen immer abholt, dann –
Aber machen wir ein Beispiel, zum Glück haben wir eine Metapher, ihr Geburtsort ist die Realität, das Bild, die Anschauung, und wir folgen ihr einfach mal dorthin, für einen kleinen Ausflug; wir holen sie, sozusagen, mal ein wenig ab dort, wo sie eigentlich herkommt. Denn abgeholt werden, heutzutage zumindest, nicht so sehr Menschen im Allgemeinen, sondern eher im Besonderen: Kinder. Und zwar immer und überall. Erst hingebracht und dann abgeholt. Mit einem Auto, vorzugsweise einem großen. Dadurch ergeben sich, wenn man den Polizisten glauben darf, inzwischen regelmäßig Gefahrensituationen vor Schulen oder Kindergärten, die sich vermeiden ließen, wenn man darauf verzichten würde, die Kleinen überall abzuholen und hinzubringen; sie haben nämlich, durchaus, kleine Füße, und sie können sogar damit laufen! Und die Gefahren, die auf dem Wege drohen – ach, sie sind eher gering im Vergleich zu denen, die bei der Abholung durch unkontrollierte Anhäufung zu vieler PS auf zu wenig Platz samt gestresster Eltern drohen. Aber nein, in der Abholgesellschaft schützen wir lieber die Kleinen zu Tode als ihnen einen unkontrollierten Realitätskontakt zuzumuten (Hunde, ob angeleint oder nicht; gelegentliche Schubsereien unter Schulkameraden; Wetter! Straßenüberquerungen!). Natürlich wehren sich die solcherart Abgeholten nicht; ist ja auch wirklich bequemer so, und man hat mehr Zeit für Computerspiele am Nachmittag! Außerdem bringt man sie ja später zum Fußball. Zum Ballett. Zum Tennis. Und holt sie wieder ab (wir reden von bildungsnahen Familien, natürlich, wie alle immer, der Rest wird nicht abgeholt, sondern stehengelassen, vielleicht sogar: ‚im Stich gelassen‘?). Schöne, überdachte, von Trainern betreute Bewegungssportarten. Nein, das Problem mit dem Abholen ist gar nicht so sehr die körperliche Bewegung (aber auch); es ist das Bedürfnis, die Abzuholenden vor Realität und der geistigen Anstrengung zu deren Verarbeitung zu schützen, und es ist das damit verbundene Training zur Passivität. Denn wer immer nur ‚abgeholt‘ wird, verlernt, sich selbst einen Anstoß zu geben. Menschen aber, wenn sie überhaupt irgendeinen Grund zur Überheblichkeit gegenüber ihren Mitgeschöpfen haben, sind Wesen, die sich selbst in Bewegung setzen können; die sich Ziele setzen können, Mühe geben und lernen, ohne dass man sie zum Jagen tragen muss. Wer sie immer nur abholt, gibt ihnen keine Chance, Füße zu entwickeln (von Flügeln ganz zu schweigen).
AUF AUGENHÖHE HERABGELASSEN
Na gut, also doch gleich die ‚Augenhöhe‘! Früher, in den guten alten Zeiten, die hier immer wieder beschworen werden, obwohl es sie wirklich nicht gab, hat man sich noch gebückt oder ist hingekniet, wenn man mit Kleinkindern Kontakt aufnehmen wollte. Sieh her, sagte die Geste, ich bin gar nicht größer, stärker, erwachsener, klüger als du! Schau mir in die Augen, ganz nah, wir sind Freunde, wir können uns vertrauen; hör mir zu, wir können auch flüstern, damit die Großen uns nicht verstehen; fass mich an, du darfst mich auch an der Nase krabbeln oder an den Haaren ziehen! Und es stellte sich heraus, dass die Welt aus der Hocke gleich ganz anders aussah. Das Gras war näher, die Blumen sprangen einem verführerisch in die Hand, und unter dem Tisch konnte ein neues Leben beginnen. Zwar waren die Möbel auf einmal größer und die Fahrzeuge gefährlicher, alles war einem über den Kopf gewachsen; aber man konnte sich auch vorstellen, unten durchzuschlüpfen, unbemerkt, neben Kindern und Katzen und anderen Kleinlebewesen. Es war eine Erfahrung der Demut. Nicht umsonst kniete man auch in den guten alten Religionen vor seinem Gott oder seinen Göttern und senkte seinen Kopf und empfand seine Kleinheit.
Demut aber ist wohl die verlorenste aller verlorenen Tugenden in unserer schönen neuen Welt, und das nicht nur, weil Bücken rückenschädlich ist und man beim Knien die Designerhose ausbeult. Die Moderne trägt ihren Kopf hocherhoben und befindet von oben herab: Nur Duckmäuser ducken die Köpfe, nur Kriecher machen sich klein, nur Untertanen werden unterdrückt! Angesagt ist stattdessen die strikte Orientierung aufwärts: der Aufstieg auf der Karriereleiter, der Spitzensportler, -manager, -politiker, der Höhenrausch – bis auch noch der letzte Kleingläubige auf dem Rücken zweier (eher kleinwüchsiger) Sherpas den Mount Everest bezwungen hat und der Welt vom absoluten Gipfel herab endlich von Gleich auf Gleich gegenübersteht. Die dazugehörige Metapher hat ebenfalls einen steilen Aufstieg hingelegt: ‚Auf Augenhöhe‘ begegnet der moderne Mensch im zweiten Jahrtausend seinen Herausforderungen und Mitmenschen, vorzugsweise jedoch denen, die er naturgemäß unter sich wähnt – also eigentlich allen.
Aber: Nichts wird so leicht und so folgenschwer unterschätzt wie die Tücken der Dialektik! Denn wer den Anderen energisch zu sich heraufzuziehen meint – „wir sprechen hier auf Augenhöhe!“ –, muss ihn zuvor als unterlegen, untergeordnet, eben: als kleiner wahrgenommen haben. Der Überlegene fordert den Unterlegenen rhetorisch zur Erhebung auf; die Oberschicht lässt die Unterschicht zu Wort kommen, auch wenn man kaum noch die gleiche Sprache spricht; der underdog darf einmal mit dem Leitwolf heulen, ganz von gleich zu gleich (später sollte er aber besser wieder den Bauch zeigen!). ‚Auf Augenhöhe‘ ist die Sprache gewordene Herablassung schlechthin; sie signalisiert, dass für eine bestimmte – und natürlich begrenzte! – Situation die ansonsten klare Hierarchie im Modus des ‚Als ob‘ aufgehoben werden kann: Wir tun einfach mal so, als wären wir alle gleich groß, niemand muss mehr zu einem anderen hinaufschauen, niemand muss sich mehr bücken; der Politikprofi redet mit dem Graswurzeldemokraten, der Großaktionär mit dem Kleinanleger, die Weltmacht mit dem Zwergstaat so, als wären sie tatsächlich gleichgestellt, gleichberechtigt, gleichmächtig. Das gilt natürlich nicht nur im großen Maßstab, sondern auch im kleinen: Frauen dürfen das gleiche arbeiten, entscheiden, verdienen wie Männer – auch wenn sie immer höhere High-Heels tragen müssen, um endlich auch physisch auf Augenhöhe zu kommen; ja sogar Kinder werden immer mehr auf Augenhöhe gezerrt, damit man endlich mit ihnen reden kann wie mit Erwachsenen! Und der dialektische Doppel-Hauptgewinn ist: Gerade durch die Herablassung bestätigt man sich selbst noch in seiner Größe – und den anderen, logischerweise, in seiner Kleinheit!
In den guten alten Zeiten hat man sich noch gebückt oder ist in die Hocke gegangen. Natürlich war nicht alles gut in den guten alten Zeiten, das hat sich sogar unter Nostalgikern und Wertkonservativen herumgesprochen. Es war aber auch nicht alles schlecht, und dass die Größe ihre Tücken ebenso hat wie die Kleinheit, der Aufstieg ebenso wie die Herablassung, ist, dialektisch eben, in eine sonst allzu glatt aufgehende Rechnung zu stellen. Und ist es nicht eigentlich – aber nun kommen wir ins Allgemeine, und damit auf eine höhere und umso gefährlichere Ebene – sowieso eine moralische Selbstverständlichkeit, den Anderen so zu behandeln, wie man selbst an seiner Stelle behandelt werden möchte? Der gute alte ‚Kategorische Imperativ‘, auch bekannt als ‚goldene Regel‘, ist nichts anderes als eine Aufforderung, seine eigene Position zu verlassen und die Stelle des Gegenüber tatsächlich einzunehmen; also wie ein Kind von unten zu schauen, oder wie ein Armer auf den Reichen, ein Machtloser auf den Mächtigen (aber auch: wie ein Großer auf den Kleinen, ein Reicher auf den Armen, ein Mächtiger auf den Machtlosen!). Man könnte ihn geradezu eine Maxime der ‚inneren Augenhöhe‘ nennen. Er beruht auf einem Positions- und Perspektivwechsel, nicht auf einer momentanen Verschleierung faktisch weiter bestehender Unter¬schiede; er ist eine Übung in Empathie ebenso wie in geistiger Gymnastik und gedanklicher Flexibilität. Nur wer geistig und emotional ebenso in die Knie gehen kann wie sich erheben, kommt damit wirklich ‚auf Au¬genhöhe‘: mit einer wahrhaft modernen Gesellschaft, die Unterschiede nicht mehr rhetorisch retuschieren und politisch korrekt ruhigstellen muss, anstelle sie in ihrem je eigenen Größenanspruch differenziert (verhältnismäßig?) zu würdigen.
GUT AUFGESTELLT ODER GUT AUFGELEGT?
Noch eine Universal-Plattitüde. Alle wollen heutzutage ‚gut aufgestellt‘ sein. Früher war man vielleicht noch gut aufgelegt, aber das reicht offensichtlich nicht mehr: Nur wer gut aufgestellt ist, kann sich durchsetzen (eigentlich eine veraltete Metapher: wer sitzt, hat schon verloren); nur wer gut aufgestellt ist, hat eine Chance im globalen Wettbewerb, wird seine Konkurrenten ausschalten, wird der Sieger sein und am Ende: überleben. Wer hingegen schlecht aufgestellt ist, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt, setzt die falschen Prioritäten, wird am Ende: nicht überleben, nicht bestehen, untergehen. Die Metapher signalisiert: Strategie ist alles! Analysiere deine eigenen Stärken, erkenne die Schwächen deiner Gegner; kontrolliere die Gegenwart, beherrsche die Zukunft; sei flexibel, wenn sich die Situation ändert, aber behalte immer eines im Auge: Das Ziel ist der Erfolg, die Durchsetzung der eigenen Interessen gegen eine niemals schlafende Konkurrenz. Nur wer gut aufgestellt ist, überlebt, sei es als internationaler Konzern oder als professioneller Selbstvermarkter in der globalisierten Ego-Gesellschaft.Ist Strategie wirklich alles? Überprüfen wir das zuerst an demjenigen Bereich, dem die Metapher vom ‚Gut-Aufgestellt-Sein‘ entnommen ist, nämlich dem Krieg. In der ausgeklügelten Schlachtordnung und der daraus abgeleiteten Aufstellung auf dem Kampffeld dokumentiert sich seit jeher das Wissen der großen Strategen. Die Griechen erfanden die Phalanx – das militärische Abbild ihrer frühen Demokratie –, eine geschlossene Reihe von Soldaten, bewaffnet mit Speeren und Schildern, die gemeinsam vorrückten: bedrohlich in der Front, aber verletzbar an den Flanken. Die Römer machten nicht nur der Demokratie ein Ende, sondern entwickelten auch andere Schlachtordnungen. Jeder kennt die ordentlich in Schachbrettmuster aufgestellten Manipel oder die berühmte ‚Schildkröte‘ aus der Asterix-und-Obelix-Lektüre: Aus den Einzelkämpfern sind nun Kampfkollektive geworden, gepanzert nach allen Seiten und vom Feldherrn wie Schachfiguren auf dem Feld hin- und hergeschoben. Das Mittelalter mit seiner klaren pyramidalen Gesellschaftsordnung entwickelte deren strategisches Abbild, den Keil. Kampfentscheidend war nun die schwere Reiterei, die militärische Elite; das Fußvolk trat als Pulk oder ‚Gewalthaufen‘ auf und wurde immer mehr zum Kanonenfutter. Die Kanonen allerdings bewirkten, dass man schnell wieder zur Linientaktik zurückkehrte, um die Verluste geringer zu halten (auf einen Pulk lässt sich einfach besser zielen als auf eine Reihe). Dabei ergab sich jedoch das neue Problem, dass die gedungenen Söldner, aller guten Aufstellung zum Trotz, wenig mit dem Herzen bei der Sache waren und angesichts schweren Artilleriefeuers scharenweise die Flucht aus der offenen Linie antraten (aus einer Schildkröte kommt man so leicht nicht weg) – und wer will es ihnen verdenken?
Der Blick über die Schlachtfelder der Geschichte zeigt: Gute Aufstellung kann verschiedene Formen annehmen, dient aber immer in erster Linie den Interessen des genialen Feldherrn als oberstem Aufsteller; die Aufgestellten selbst bezahlen auch den Sieg mit ihrem Blut, nicht nur die Niederlage. Das mag sich ändern im Krieg der Drohnen, der aber gerade deshalb den allzu leicht verdrängten Preis des Gut-Aufgestellt-Seins demonstriert: In der asymmetrischen Kriegsführung des 21. Jahrhunderts sterben nur noch diejenigen, die niemals eine Chance hatten, sich selbst gut aufzustellen (oder wenigstens strategisch die Flucht zu ergreifen). Und wenn die Schlachtordnungen zudem ein relativ genaues Abbild der sozialen und politischen Realität ihrer Zeit geben, sollten uns eigentlich angesichts des Krieges der Drohnen doch starke Zweifel an unserer vermeintlich so fortgeschrittenen Humanität überfallen: Die einen haben den Himmel erobert und schicken Blitze wie verheerende Gottheiten auf die anderen, die Fußvölker dieser Welt.
Aber muss es denn gleich der Krieg sein? Tatsächlich gibt es noch einen zweiten Bereich, wo die Strategie des Gut-Aufgestellt-Seins alles zu sein scheint: den Mannschaftssport nämlich. Die Aufstellung einer Fußballmannschaft vor einem großen internationalen Wettkampf wird von den Trainern meist als eine Art Staatsgeheimnis behandelt, obwohl es nur eine begrenzte Anzahl von Varianten bei elf Spielern mit festgelegten Einsatzgebieten geben kann. Immerhin steht hier aber der Teamgedanke im Vordergrund: Zwar agiert der Trainer als eine Art entmilitarisierter Feldherr, und es geht zweifellos wie im Krieg um Sieg oder Niederlage (weshalb man ja auch von ‚Angriff‘ oder ‚Verteidigung‘ spricht, der Mannschaftssprecher der ‚Kapitän‘ ist und Tore ‚geschossen‘ werden; von den Kriegsgesängen extremer Fan-Gruppierungen ganz zu schweigen), aber in der Aufstellung müssen die Stärken und Schwächen einzelner Spieler ausgewogen berücksichtigt werden, sodass sich eine optimale Mannschaftsleistung ergibt. Gleichwohl ist auch hier die Aufstellung nicht direkt ein demokratischer Akt, sondern wird mit überlegenem Herrschaftswissen des Aufstellers legitimiert, während die Aufgestellten die schweißtreibende Fußarbeit erledigen müssen. Zudem scheint über dem Kampfgedanken dann und wann doch die Spielfreude etwas zu leiden: Wer gut aufgestellt ist, will auch gewinnen; dass dabei ein anderer verliert, interessiert den Gewinner weniger.
Jenseits der militärisch oder pseudo-militärisch geprägten Strategie von Sieg und Kampf hat sich inzwischen auch eine eigene Wissenschaft von der Aufstellung etabliert: Die Proxemik behandelt die unterschiedlichen räumlichen Formen von Nähe und Distanz von Individuen und deren soziale Aussagekraft. Lange bevor es Corona-Distanzierungsregeln und markierte Diskretionszonen vor Post- und Bankschaltern gab, wusste schon die Alltagsmetaphorik: Wenn man jemand auf die Pelle rückt, tritt man ihm zu nahe; man macht Annäherungsversuche oder distanziert sich von jemand und muss Abstand gewinnen. Die Proxemik fasst dieses intuitive Wissen in Zahlen: Bis zu 45 cm spricht sie von der ‚Intimdistanz‘; bis 120 cm von ‚persönlicher Distanz‘; die ‚soziale Distanz‘ liegt zwischen 120 und 360 cm, die ‚öffentliche Distanz‘ beginnt jenseits von 360 cm. Je deklassierter ein Mensch oder eine soziale Gruppe ist, desto stärker wird sie ‚unberührbar‘ und in messbarer Distanz gehalten; je vertrauter ein Mensch wird, desto näher darf es uns kommen, bis hin zu einer Entfernung, die physische Berührung nicht nur erlaubt, sondern geradezu nahe-legt (die ‚Nächstenliebe‘ bekommt unter diesem Gesichtspunkt eine ganz neue Bedeutung!). Ebenso sozial bedeutungshaltig ist die räumliche Vertikale: Man kann auf jemand von oben herabsehen oder ehrfürchtig zu ihm aufblicken; und es hat seinen guten Grund, dass kleingewachsene Diktatoren gern auf hohen Schuhen stehen. In unserem Sozialverhalten sind wir insofern immer schon, instinktiv und intuitiv, gegeneinander aufgestellt. Damit können wir aber auch durch bewusste Aufstellung manipuliert werden, können uns größer oder kleiner machen, die Nähe oder das Weite suchen, eine Gruppe eng beisammenhalten oder die Herde sich zerstreuen lassen. Aufstellung im Alltag und in der Politik ist eine bewährte Strategie der sozialen In- und Exklusion – und damit ebenso ein Machtinstrument.
Eine besondere Variante der Aufstellung schließlich, sozusagen die kleinste Form des räumlichen Selbstverhältnisses, ist die seit einiger Zeit ebenfalls in der Alltagssprache zu einiger Berühmtheit gelangte comfort zone. Sie ist derjenige psychische Zustand, innerhalb dessen der Einzelne angstfrei handeln kann, da er vollständig entspannt, unbedroht, mit sich selbst im Reinen ist: gut aufgestellt im besten Sinne. Oder doch nicht? Denn, so haben die Psychologen herausgefunden: Etwas Neues entsteht nur dort, wo ein Mensch seine comfort zone verlässt, in der er sich allzu heimisch eingerichtet hat; Neuland wird nur beschritten in der an die comfort zone angrenzenden optimal performance zone, indem man seinen Horizont erweitert und neue Räume erschließt. Das muss allerdings mit Maß geschehen: Denn der optimal performance zone auf der anderen Seite benachbart ist die danger zone, in der Überforderung und Stress lauern und das Gegenteil einer optimalen performance bewirken. Sinnvoll ist aus raumpsychologischer Perspektive deshalb die schrittweise Ausweitung der eigenen comfort zone; und wahrhaft ‚gut aufgestellt‘ nur derjenige, der sich nicht in der Kuschelkammer seines Ich oder die Echokammer seiner Gesinnungsgenossen verkriecht, sondern danach strebt, seine Persönlichkeit zu erweitern, ihr schrittweise neue Räume zu erschließen, in Bewegung zu bleiben, ohne jedoch gleich die ganze Welt erobern zu wollen.
Das kann natürlich eine Strategie des Selbst-Marketings sein und damit das individuelle Äquivalent zum auf Gewinn angelegten Gut-Aufgestellt-Sein der Feldherren und Fußballtrainer (die optimal performance zone spiegelt sprachlich natürlich genau ein solches Marketing-Ideal). Altmodisch hätte man aber eher von einer Pflicht zur Selbstbildung, zur Persönlichkeitsformung, zur ‚Entwicklung‘ gesprochen – wobei, um in der Metapher zu bleiben, bei der Entwicklung etwas zum Vorschein kommt, was vorher eingewickelt, verschlungen, als Gestalt unsichtbar war. Und das Ziel einer solchen Entwicklung wäre weniger der Sieg im Kampf um die gelungenste Selbstausbeutung und die atemberaubendste Selbstdarstellung samt den damit verbundenen Platzvorteilen im allgegenwärtigen gesellschaftlichen Wettbewerb, als – man wagt es kaum zu sagen: die Entwicklung selbst; ein dynamischer Prozess jenseits von Sieg und Verlust und ohne Opfer auf dem Schlachtfeld konkurrierender Ich-Entwürfe.
IN DER TIEFE, ODER: DEEP
Früher hat man in der Tiefe entweder Monster oder tiefe Gedanken vermutet. Der Unterschied ist bei genauerer Betrachtung so groß nicht. Beides konnte man nicht recht beobachten oder beschreiben, aber dafür durfte die Phantasie aufs schönste ins Kraut schießen: Siebenarmige Monster kreuzten zwischen versunkenen Brigaden, und gelegentlich nahmen sie einen vorbeischwimmenden, besonders tief gefühlten oder gedachten oder auch nur ausgedachten Gedanken zwischen die Tentakel und stöhnten wohlig: „Oh, wie tief!“ Auch stille Wasser waren angeblich tief, aber eigentlich kann man das gleiche von flachen Tümpeln sagen, auf denen auch eher selten Tsunamis entstehen. Tiefe war jedenfalls – beinahe so gut wie ein geistiger Adelsschlag, und dass man den einen oder anderen tiefen Gedanken doch eher für nur oberflächlich dahinplätschernd halten konnte oder für ein getarntes Monster der bodenlosen Spekulation, hat der allgemeinen Wertschätzung der Tiefe nicht geschadet. Oberflächlichkeit hingegen – ein Todesurteil, nicht nur in geistiger Hinsicht, und wer verschämt auf eine gewisse verborgene Dialektik von Tiefe und Oberflächlichkeit aufmerksam machte (sind die tiefsten Gedanken nicht manchmal die simpelsten? Ist Tiefe nicht manchmal nur ein Tarngewand, das die Leere trägt? Hat nicht so manche Oberflächlichkeit ihren tieferen Sinn, geht man ihr nur gründlich auf den, wenn auch flachen, Grund?), war einfach noch nicht reif für die Herausforderung der Tiefe.
Heute hingegen sind Dinge nicht mehr tief, sondern sie sind ‚deep‘ – und das ist nur auf den ersten Blick eine einfache Übersetzung, eigentlich aber eine Art maritimer Quantensprung. Man weiß nämlich inzwischen, dass auf dem Boden der Tiefsee alle Arten von Wesen wohnen, die vielleicht gelegentlich monsterhaft anmuten, aber eigentlich nur auf besonders geniale und ziemlich komplexe Art und Weise ihrem etwas problematischen Habitat angepasst sind (und uns aus ihrer Tiefsee-Perspektive der ewigen Dunkelheit für Monster des gnadenlosen Lichtes halten würden). Und an die Stelle des tiefen, tiefen Sinnes ist die Komplexität getreten: Im deep learning baut sie Schichten auf Schichten, Modelle auf Modelle, lernt beim Lernen das Lernen und dringt maschinell immer tiefer in Galaxien vor, die früher nur dem Menschen (wenn auch eher zufällig, aufgrund eines glücklichen Loses im Evolutions-Lotto) zugänglich waren. Währenddessen hat man den Eindruck, dass das menschliche Lernen immer flacher wird, eine Art von shallow learning, das nur noch über die Oberfläche dahinhuscht, gelegentlich mal einen kleinen Gedanken schnappt, ihn aber bald wieder fallen lässt, so dass er keinerlei tiefere Spuren hinterlassen kann. Gelernt wird in Brocken, vorgekaut und kleingeschnitten, auf Schlagworte zugerichtet, mit Sensationen versüßt – und am Ende, in einer Art Bildungs-Bulimie, werden die nur unzureichend verdauten Brocken wieder ausgespuckt. Deep learning, wer hätte dazu noch Zeit?
Auch deep reading war einmal, als es noch handfeste Bücher gab und nicht flackernde Bildschirme; heute halten gerade noch einige wenige Philologen verzweifelt daran fest, schließlich haben sie nichts anderes gelernt! Aber einen Text Wort für Wort zu lesen und fest daran zu glauben, dass sich der Autor, die Autorin etwas dabei gedacht habe; dass dabei etwas zu erfahren ist über ein summary mit bullet points hinaus; dass dabei sogar eine gewisse Entdeckerfreude stattfinden kann, über neue Worte, neue Zusammenhänge, ungeahnte Gedanken, sie mögen auch klein oder oberflächlich sein – nein, damit sind wir fertig. Wir wissen doch schon, was in allen Texten steht; notfalls wissen wir jedenfalls, was darinstehen sollte (und falls es nicht darinsteht, verbieten wir sie besser schnell, bevor sich jemand verletzt fühlt von einem fremden, unkorrekt gekleideten Gedanken). Wir wissen auch, dass der Autor eine Fiktion ist; eigentlich aber ist er ein Tiefseemonster, in dessen Fangarmen sich die Diskurse verknotet haben und nun darauf warten, dass sie jemand dekonstruiert. Dass auch ein Text Schichten hat, die sich aufeinander aufbauen oder sich ineinander verkreuzen; dass er einen mehrfachen Schriftsinn haben kann (das Mittelalter glaubte an den vierfachen Schriftsinn, heute ist man schon für einen einfachen Doppelsinn dankbar); dass man beim Lesen das Lesen lernen kann – ach, dafür werden wir auch noch eine Maschine finden! Dabei ist es doch ein geradezu schöner und aufbauender Gedanken, dass in der Tiefe keine Monster wohnen (sie verstecken sich gewöhnlich in plain sight, dem besten aller Verstecke) und kein unergründlicher, verschlossener tiefer Sinn, sondern nur – Komplexität, die schönere Schwester der Kompliziertheit (komplizierter Gedanke, ich weiß; egal).
SAUBERE WORTE, ODER: SERENDIPITY
Man sollte mehr Fremdsprachen können. Nicht nur, um damit zu prahlen oder im Urlaub nicht für einen Idioten gehalten zu werden oder um eine fremde Kultur in ihrer Eigenheit besser und intimer, von innen heraus zu verstehen (das alles sind auch Gründe, wenn auch unterschiedliche gute und gültige). Nein, es ist eine Form sprachlicher Hygiene. Das Schöne an der Muttersprache ist, dass man in ihr zuhause ist und nicht viel nachdenken muss und alles einfach sagen kann, was man denkt. Das Schlechte an der Muttersprache ist, dass man in ihr zuhause ist und nicht viel nachdenken muss und leider wirklich alles sagt, was man denkt. Dadurch leiden die Wörter mit zunehmendem Alter: Sie fasern aus an den Rändern und werden unscharf, sie haben sich in schlechten Milieus herumgetrieben und sich üble Assoziationen gefangen, sie sind am Ende vollständig leergehudelt (lasst uns nicht von ‚Liebe‘ reden). Wenn man nur etwas sprachempfindlich ist, hat man zu vielen Wörtern der eigenen Muttersprache eine persönliche und längere Beziehung – und das ist, leider, allzu häufig keine gute Sache. Man fragt sich dann: Könnte man nicht gelegentlich ein neues Wort erfinden, ein ganz sauberes, mit einer schönen klaren Bedeutung und einer noch ganz unverbrauchten Geschichte? Doch nein, man muss gar nicht! Man kann einfach gelegentlich die Sprache wechseln. Das Gute an einer Fremdsprache ist – dass sie sehr lang (vielleicht nicht immer, und wahrscheinlich nicht bei täglichem Gebrauch) eine Fremdsprache bleibt. Die Wörter, wenn man sie einmal gefunden hat, sind ganz leicht; man hat keine belasteten Kindheitserinnerungen an sie, man freut sich über jedes neue, man reichert sie allmählich ein wenig an mit Bedeutung, aber zum Glück bleiben sie immer: ein wenig fremd (und könnte man daraus nicht sogar eine Lehre über Integration im Allgemeinen ziehen? Über das Schöne im Fremden, dem man seine Fremdheit ein wenig lässt, und das man nicht mit aller Gewalt zum Eigenen machen muss?).
Vielleicht ist es also gar kein Zufall, dass ‚serendipity‘ ein Lieblingswort so vieler muttersprachlicher wie nicht-muttersprachlicher Englischsprechenden ist: ein kleiner Zungenbrecher, den man in keine Sprache der Welt übersetzen kann, sondern nur vage von allen Richtungen umschreiben. Aber er bleibt immer ein wenig das, was er auch bedeutet: eine völlig unerwartete Entdeckung von etwas, was man niemals gesucht hätte, aber das nun von bleibender Bedeutung ist.
SUPERLATIVE DER NEGATIVITÄT
Seit einigen Jahren kann man in der englischen Jugendsprache und dem Teil von ihr, der in den allgemeinen Sprachgebrauch auch in Deutschland eingegangen ist, ein neues Phänomen beobachten: Es ist die Neigung, Negatives zu steigern, das Fehlen von etwas hervorzuheben, das Nichtgeschehen von etwas zu fordern. Früher brauchte man Superlative oder Steigerungsformeln eigentlich vor allem zum Loben oder zum Prahlen, und das ist natürlich auch weiterhin so, ja sogar eher gesteigert: Alles Mögliche ist heute mindestens great, fantastic, wonderful, oder, der neueste Favorit: totally awesome! Die Skala hat sich jedoch auch zur anderen Seite erweitert, und man weiß gar nicht mehr, wie man vorher ohne diesen Teil auskommen konnte: So not cool! worst pizza ever! oder, besonders knapp auf den Punkt: Let’s not! (hier wenigstens gibt es ein würdiges deutsches Äquivalent: „wie wäre es, wenn nicht?“, und das ist nun wirklich oft eine sehr gute Frage). Auch Verben haben eine Negativ-Hälfte bekommen: Man ist nicht nur overwhelmed, sondern auch underwhelmed; zum Overachiever gesellt sich der Underperformer und man kann ebenso wenig unsee wie unhear irgendetwas, was man nun fatalerweise gehört oder gesehen hat. Man kann nur vermuten, was es mit dieser neuen Prominenz des Negativen auf sich hat: eine Welt, die immer mehr zu Extremen tendiert, und zwar in beiden Richtungen? (ganz sicher, um nicht zu sagen: absolutely!) Eine neue Ehrlichkeit, die gelegentlich bedenkliche Nähe zur Rücksichtslosigkeit aufweist? (who cares?) Oder doch nur ein sprachlicher Unernst, der in einer sprachlich geradezu übererschlossenen Welt sich ein letztes freies Feld erobert hat, nämlich die vernachlässigte Verneinung in Zeiten der enthusiastischen Jasager, professionellen Positivdenker und höchstens Vielleicht-Zweifler? Let’s not als jugendliches Lebensmotto – eine kleine Revolution, immerhin. Nicht-Handeln ist immer auch eine Alternative (Nicht-Denken nicht. You can’t unthink thoughts).