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Kleine Geschichte der Naturlyrik.
Eine Vorlesung

 

Joachim Patinir, Überfahrt in die Unterwelt, 1515-1524 

 

 

Inhalt

1. Natur – welche Natur? – Zur Begriffsgeschichte

2. "Bis du alles begreifst, welche Gestalt der Natur ureigenem Wesen zum Schmuck ward" – Naturlyrik und Naturlehre in der Antike 

3. "Ach Gott, der du mit so viel Gut /  Bekrönst des Jahres Zeiten"– Jahreszeitenlyrik und Weltlandschaft im Barock

4. "Um nur Gottes Werk zu preisen, Und nicht, meinen Witz zu weisen" – Frühaufklärung und Physikotheologie

5.  "Da, wo die Freiheit herrscht, wird alle Mühe minder" – Arkadien in Malerei und Dichtung

6. "Der Schattenwald/ wandelt uns sich in Tempe" – Anakreontik und Empfindsamkeit

7. "Das Dasein nach eigenen Gesetzen" – Natur und Kultur bei Schiller

8. "Die lebenden Teile als solche erkennen" – Goethe und die Morphologie

9.Da erschienst du, Seele der Natur!" – Friedrich Hölderlin und die Liebe als Naturerlebnis

10. Die "innere Musik der Natur" – Novalis und die Natur als Universalanalogie

11. "Im Herzen tief da rauscht der Wald" – Landschaftsmalerei und Naturlyrik der Hochromantik

12. "Das Leben ist ein Recht" – Heinrich Heine und der Abgesang auf die Romantik

13. "Und das Meer zieht seine Bahn / Um die Welt und um den Kahn" – Annette von Droste-Hülshoff und die biedermeierliche Natur

14. "Gaukelst du im Kreis mit Fabeldingen/ Oder hast du Blut in deinen Schwingen?" – die 'grüne Stelle' als Reservat im Realismus

15. "Der Satyr wie der idyllische Schäfer unserer neuen Zeit sind beide Ausgeburten einer auf das Ursprüngliche und Natürliche gerichteten Sehnsucht" – Naturlyrik der Jahrhundertwende und der Begriff des 'Lebens' in den Naturwissenschaften 

16. "Er kann kein Vogelgezwitscher vertragen" – Künstliche Welten im Symbolismus

17. "Was sind das für Zeiten, wo / ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist" – Bertolt Brecht und die Probleme der Naturlyrik im 20. Jahrhundert

18. "Inzwischen ist es fast zu einem Verbrechen geworden, / nicht über Bäume zu sprechen" – Ökolyrik und die Grenzen des Wachstums 

19. "Die Natur ist nicht dunkel, die Welt ist dunkel" – Neues Sprechen von der Natur bei Naturlyrikerinnen des 21. Jahrhunderts

20. Warum sprechen Menschen in Gedichten von der Natur, und was ist dadurch gewonnen? – Zur Zusammenfassung 



Leseprobe: 

1.Natur – welche Natur? Zur Begriffsgeschichte

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

An diesem Zitat von Bertolt Brecht hat sich vor allem die Naturlyrik des 20. Jahrhunderts – nach Auschwitz, sozusagen – hart abgearbeitet. Assoziierte es doch das lyrische Sprechen über Natur nicht nur mit einer gewissen Banalität und einer zutiefst apolitischen Haltung, sondern auch noch mit einem schlechten Gewissen dabei. Selbst wenn man die von Brecht ziemlich radikal vorgetragene politisch-emanzipatorische Verpflichtung der Literatur nicht nachvollziehen will – die Naturlyrik trägt schwer an ihrem Erbe als zutiefst bürgerliche, sentimentale und allgemein weltflüchtige Angelegenheit. Und obwohl sie gerade für das traditionelle Bildungsbürgertum den Inbegriff von Lyrik schlechthin darstellte, ist noch nicht einmal ganz klar, was mit dem Begriff überhaupt genau gemeint ist. Denn als Gattungsbegriff ist "Naturlyrik" ebenso so trivial wie unscharf: Naturlyrik ist eben das, was in Versform von der Natur spricht. Aber welches Gedicht spricht eigentlich nicht von der Natur, irgendwie, mehr oder weniger? Vielleicht sollte man genauer sagen: Zur Naturlyrik gehört jedes Gedicht, das die Natur – bzw. einzelne natürliche Phänomene – zum zentralen Thema hat. Einmal vorausgesetzt, wir wüssten, was eigentlich genau mit dem Begriff 'Natur' gemeint sei, bleibt aber immer noch problematisch, dass damit über das allgemeine Verskriterium hinaus, das für alle Subgattungen und Unterarten von Lyrik gilt, noch immer keine präzisere Formbestimmung gegeben ist. Das 18. Jahrhundert war da immerhin schon einen Schritt weiter; dort sprach man nämlich von der Naturpoesie, und das war ein sehr wohl definierter Begriff: Er bezeichnete nicht nur das poetische Sprechen von der Natur, sondern auch ein natürliches Sprechen von der Natur. 'Naturpoesie' ist eng verbunden mit der Vorstellung vom Dichter-Genie, der, wie die Natur, aus sich selbst heraus schöpferisch tätig wird und keinen anderen Regeln als denen seiner eigenen Dichter-Natur unterworfen ist. Naturpoesie ist darüber hinaus nicht nur ein Gegenpol zur gelehrten oder normativen Dichtung früherer Epochen wie des Barock, sondern auch verbunden mit der Vorstellung einer Volkspoesie, die auch ungebildeten Hörern eben ihrer Natürlichkeit wegen unmittelbar zugänglich ist.

Dieses Konzept der 'Naturpoesie' jedoch hängt aufs engste mit bestimmten ästhetischen und philosophischen Ideen zusammen, die sich Ende des 18. Jahrhunderts herausbilden und ist deshalb leider nicht auf die Naturlyrik insgesamt übertragbar. Ein Gattungsbegriff von Naturlyrik insgesamt müsste ein lyrisches Schaffen, das von der Antike bis zur unmittelbaren Gegenwart reicht, umfassen. Aber auch die üblichen gattungstheoretischen Tricks helfen in diesem Falle nicht besonders weiter. So kann man Gattungen häufig gut definieren, indem man sie zu verwandten bzw. entgegengesetzten Gattungen abgrenzt. Was wären solche Wahlverwandtschaften der Naturlyrik? Wohl die Liebeslyrik; die ist aber unglücklicherweise ähnlich schwach definiert. Als Gegenpol hingegen wird gemeinhin, siehe oben zu Brechts Bäumen, die politische Lyrik genannt – Naturlyrik sozusagen als das Unpolitischste schlechthin, was man sich vorstellen kann. Dagegen spricht einerseits aber, dass gerade Brecht selbst durchaus politische Naturlyrik verfasst hat; zum anderen ist das ein sehr moderner Gedanke, der in Epochen, die über ein vergleichbares Konzept von Gesellschaft nicht eigentlich verfügten, nicht besonders gut greift. Interessanter wird es, wenn man diejenigen Charakteristika aufgreift, die bei der Naturpoesie aufgezählt wurden. So könnte man fragen, ob es in naturlyrischen Texten besonders bevorzugte Darstellungstechniken oder bildnerische Verfahren gibt; also ob das Sprechen von der Natur bestimmte Kommunikations- und Darstellungstechniken nahelegt oder andere abweist. Zum zweiten könnte man untersuchen, wie die Beziehung zwischen Autor und Leser in naturlyrischen Texten hergestellt wird: Wird ein bestimmtes Bild vom Leser entworfen? Stilisiert sich der Autor in einer bestimmten Weise? Legt die inhaltliche Fixierung auf Natur also auch eine bestimmte Textproduktion bzw. -rezeption nahe?

Blickt man nun auf die Geschichte der Naturlyrik – auch das kann für Gattungsdefinition hilfreich sein –, so ist es bemerkenswert, wie wenig innere Dynamik sie aufweist: Sowohl die von ihr verwendeten Themen und Bilder wie auch die von Naturlyrikern aller Zeiten benutzten Techniken sind relativ konstant geblieben, es scheint sich um eine Art literarischer Naturkonstante zu handeln. Trotzdem hat sich natürlich über die Jahrhunderte seit der Antike hinweg die Art geändert, wie Dichter über die Natur sprechen; man kann also sozusagen Konstanten und Variablen des lyrischen Sprechens über die Natur unterscheiden: Welche Themen werden bevorzugt? Welche Gedichtformen werden benutzt? Welche Bilder, Motive, Topoi werden verwendet? Anhand der Naturlyrik kann man damit eine kleine Geschichte der Lyrik in nuce verfolgen, zwar mit verschiedenen geschichtlichen Schwerpunkten (Naturlyrik war mal mehr, mal weniger populär), aber ansonsten relativ kontinuierlich vom Barock bis zur Gegenwart (kleine Ausflüge in die Antike inbegriffen).

Das Interessanteste an der Naturlyrik – und gleichzeitig das, was wohl am häufigsten übersehen wird – ist die Tatsache, dass sie über die Natur spricht. Aber welche Natur eigentlich? Der Begriff Natur gehört nämlich zu den allgemeinsten, bedeutungsreichsten und gleichzeitig schwammigsten Wörtern der europäischen Begriffsgeschichte. Von Natur sprechen wir, wenn wir von unserer natürlichen Umwelt reden, und zwar sowohl von deren Einzelheiten (Blumen, Bienen und Bäumen) wie auch von deren Gesamtheit: die Natur im Großen und Ganzen, die Natur als Kosmos. Wir reden aber auch von der 'Natur der Sache' in Bezug auf komplexe Sachverhalte; offenbar meinen wir dann so etwas wie das Wesen eines Gegenstandes oder Sachverhaltes im allgemeinsten Sinn. Die 'Natur des Menschen' ist ein eigenes und nicht weniger umfangreiches Thema; und das, was 'naturgemäß' ist und was nicht, eine Streitfrage seit Anbeginn der Begriffsgeschichte. Es gibt unendlich viele Kompositabildungen mit Natur; unter anderem paart sich Natur gern mit anderen großen Begriffen wie in Naturphilosophie, Naturgeschichte, Naturwissenschaft, Naturrecht. Mit all diesen Themen beschäftigen sich eigene wissenschaftliche Disziplinen: Die Natur wird beileibe nicht nur in den Naturwissenschaften thematisiert (die zudem historisch eher jung sind), sondern seit jeher vor allem in der Philosophie. Und sie ist natürlich nicht nur ein prominenter Gegenstand der Literatur, sondern auch der bildenden Kunst. Und auch hier gibt es, natürlich, wieder Konstanten und Variablen. So ist die heutzutage zu so außerordentlichen Ehren gekommene Ökologie ein antikes Konzept des Wirtschaftens und Haushaltens; der Evolutionsgedanke hat seine Wurzeln spätestens im 18. Jahrhundert, und selbst für moderne naturwissenschaftliche Konzepte des 20. Jahrhunderts lassen sich teilweise antike Vorbilder ausmachen.

Zunächst also zum Begriff Natur. Der erste Schritt einer jeden Begriffsgeschichte ist die Klärung des etymologischen Wortursprungs. Natur kommt von lateinisch "nasci" (geboren, hervorgebracht werden): Natur ist also dasjenige, was biologisch ge- oder erzeugt wird (und, wie man ergänzen könnte, auch natürlich vergehen wird). Das ist immerhin ein erster Ansatz, wenn auch vielleicht noch ein bisschen schwach definiert und unterkomplex. Um ihn einzugrenzen, ist es ein beliebter Trick der der Begriffsgeschichte, die Definition durch Gegenbegriffe zu verschärfen: Welche Begriffe wurden historisch als Kontraste zur Natur gesehen und benutzt? Was ist die Natur also alles nicht? Und auch hier zeigt sich, dass Natur ein äußerst schwer zu fassender Terminus ist, es gibt nämlich sehr viele Gegenbegriffe. Die wichtigsten sind, in vage historischer Reihenfolge ihres Auftretens:

a) Natur vs. Kultur/Technik: Natur ist das, was – s.o. – geboren wird, sich natürlich entwickelt und stirbt; im Gegensatz zu dem, was künstlich vom Menschen gemacht wird, statt eines Lebens höchstens eine Geschichte hat und nicht stirbt, sondern kaputt geht. Es geht hier also um den Ursprung der Dinge; nennen wir es die ätiologische Dimension des Naturbegriffs.

b) Natur vs. Konvention/Sitte/Gebrauch/Gesetz: Natur ist das, was nicht erst von Menschen vereinbart, geregelt oder restringiert werden muß, sondern schon immer so ist, wie es ist. Natur hat hier also eine – im weitesten Sinne – soziale und ethische Dimension.

c) Natur vs. Geist/Vernunft: Natur ist das, was den Naturgesetzen unterliegt, im Kontrast zu dem, was diese auf irgendeine Art transzendiert und immateriellen Charakter hat. Hier geht es damit um Metaphysik bzw., bezieht man das Kontrastpaar auf den Menschen, um Anthropologie.

Diese drei Gedanken finden sich alle bereits, mehr oder weniger, in antiken Schriften über die Natur. Für C gibt es eine spezifisch mittelalterlich-theologische Variante, nämlich:

c1) Natur vs. Gott: Natur wäre dabei die sinnliche, der Vergänglichkeit unterworfene Welt des Diesseits, Gott die transzendente, ewige Welt des Jenseits.

d) Spezifisch neuzeitlich ist das Paar Natur vs. Geschichte: Natur wäre dann das, was sich nach Naturgesetzen entwickelt, Geschichte dasjenige, was durch die freie Entscheidung des Menschen entsteht. Auch hier geht es um Metaphysik bzw. Anthropologie, vor allem aber um Verlaufsformen, also eine Art dynamische oder prozesshafte Dimension.

e) Ebenso stärker neuzeitlich profiliert ist Natur vs. Unnatur: Auch hier muß man einen freien Willen bzw. ein geistiges Prinzip annehmen, dass es speziell dem Menschen ermöglicht, sich von seiner Natur zu befreien und ihr zuwider zu handeln. Diese Opposition ist meist eher moralischer Natur, könnte aber auch ontologisch gedacht werden, indem sie zunächst einmal behauptet, es gebe überhaupt etwas, was nicht natürlich ist.

Die Aufstellung zeigt zum ersten, dass man den Naturbegriff in verschiedene Richtungen akzentuieren kann: Es gibt philosophisch-metaphysische, kosmologische, anthropologische, kulturelle, soziale und ethische Bedeutungsvarianten, die historisch zu verschiedenen Zeit auch unterschiedlich gewichtet werden (und, auch das ist wichtig, sehr stark ideologisch aufgefüllt werden können; Natur ist häufig auch ein Kampfbegriff gewesen). Daneben hat die Methode der Definition durch Gegenbegriffe gerade beim Naturbegriff einen entscheidenden Nachteil: Es könnte einem nämlich entgehen, dass eine sehr starke Begriffsdefinition nicht dualistisch ist, sondern monistisch: Die Natur in dieser Begriffsausprägung ist All-Natur, umfasst alles, was war, ist und sein wird, sie hat keinen Anfang und kein Ende und prägt durch ihre Gesetze jegliche Form der Existenz. Sie ist deshalb schlechthin nicht durch Gegensätze zu definieren, sondern höchstens in sich selbst zu differenzieren – bzw., und das ist ein weiterer Trick der Begriffsgeschichte, durch Synonyma zu ersetzen. Das erschließt sich deutlicher, wenn man die historische Begriffsentwicklung von der Antike an nachzeichnet.

Antike

Die früheste antike Philosophie, die uns bekannt ist, ist vor allem anderen Naturphilosophie. Die sogenannten vorsokratischen Philosophen sind die ersten, die versuchen, Naturerscheinungen nicht mehr durch den Mythos zu erklären – also indem sie Götter erfinden, die bestimmten Naturerscheinungen zugeordnet werden (wie der Blitz dem Jupiter) oder Geschichten erzählen; diese Art von Naturerklärung ist eine der zentralen Funktionen des antiken Mythos schlechthin. Vielmehr schlagen die Naturphilosophen nunmehr rationale Begründungsmodelle vor. So war Thales von Milet (um 625 v. Chr.-um 547 v. Chr.) beispielsweise der Ansicht, dass das Wasser der Ursprung aller Dinge sei (was noch in der modernen Evolutionsbiologie einiges für sich hat); Heraklit (um 550 bis um 480) hingegen favorisierte das Feuer, das er als gleichzeitig als Inbegriff der Vernunft, des logos, verstand. Heraklit war darüber hinaus der Meinung, dass sich die gesamte natürliche Welt auf Gegensätzen aufbaut und deren Spannungen untereinander dazu beitragen, dass sie ständig im Werden ist (der Krieg ist der Vater aller Dinge, so die populäre Variante eines seiner Sprüche). Wenige dieser Aussprüche sind überliefert, und die überlieferten sind wegen ihrer Dunkelheit und ihrer Neigung zu Paradoxa berüchtigt. Das alles mag trivial klingen, ist jedoch ein erster Versuch, die Vielfalt der Naturphänomene, die einen umgeben und von denen man buchstäblich nichts weiß, auf einige wenige Vernunft- und Ursprungsprinzipien zurückzuführen. Und die Wirkungsgeschichte besonders Heraklits ist beachtlich, reicht sie doch bis hin zu beispielsweise Friedrich Nietzsche.

Den Gegenpol zur Philosophie des Werdens bei Heraklit bildet die Philosophie des Seins bei Parmenides aus Elea (um 515 bis um 445). Von Parmenides ist zumindest fragmentarisch ein Lehrgedicht mit dem Titel Über die Natur (Natur übrigens, im griechischen, ist physis) überliefert, in dem der Dichter von der Göttin Dike über die Wahrheit belehrt wird. Und diese Wahrheit ist: Es gibt kein Werden (wie Heraklit behauptet hatte), sondern in Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit und Ewigkeit existiert nur das Sein. Alles, was wie Werden aussieht, ist Schein und trügerisch und kann deshalb auch nur in Paradoxa erkannt werden; hingegen kann nur das reine Sein mit der Vernunft, dem logos, erfasst werden. Die nachträgliche Stilisierung von Heraklit und Parmenides zu Gegenpolen hat schon Platon vorgenommen. Unabhängig von ihrer Angemessenheit im Detail bleibt jedoch trotzdem eindrucksvoll, dass am Anfang der griechischen Philosophie sozusagen zwei Extrempositionen zur Natur vorgezeichnet sind: Entweder die Natur ist Fluss, Veränderung, allgemeines Bewegungsprinzip; oder sie ist dasjenige, was hinter der äußeren Erscheinung steht, Substanz, Wesen, die ewige und immer gleiche 'Natur der Sachen'.

Ein bereits relativ elaboriertes Naturmodell bieten wenig später die Atomisten mit ihrem Hauptvertreter Demokrit (um 460 bis um 380). Für die Atomisten sind das wahrhaft Seiende die Atome: Unendlich viele, unteilbare und winzig kleine körperliche Teilchen, die sich im unendlichen leeren Raum (der das Prinzip des Nicht-Seienden verkörpert) bewegen und durch die dabei entstehende, im wesentlichen zufällige Mischung alles Seiende hervorbringen, von den kleinsten Lebewesen bis zu den größten Welten. Diese These wurde von vielen neuzeitlichen Philosophen wie auch den ersten Physikern aufgenommen und tradiert; ihr naturwissenschaftlicher Beweis konnte erst ab dem 19. Jahrhundert geführt werden, und die Teilchenphysik ist ein bis heute unabgeschlossenes Teilgebiet der modernen Physik. Auch die Atomisten haben damit sozusagen ein urbildliches Naturbild geschaffen: Die Natur ist für sie durchgängig materialistisch bestimmt; und der Zufall spielt bei ihrer Entwicklung eine gewisse Rolle, da die Teilchenbewegungen im Einzelnen nicht vorhersagbar sind.

Ziemlich gleichzeitig wurde auch die Natur des Menschen verstärkt wissenschaftlich thematisiert. Der Arzt Hippokrates (um 460 bis 370; bekannt vor allem durch die von ihm gestiftete Eidesformel) definierte die physis des Menschen als gesunden Normalzustand des menschlichen Körpers und seiner Organe. Seine sogenannte Humoralpathologie beruhte auf einer Lehre von den vier Säften im menschlichen Körper: Blut, gelbe Galle, schwarze Galle, Schleim: daraus ergeben sich die vier Temperamentstypen des Sanguinikers, des Cholerikers, des Melancholikers und des Phlegmatikers. Die vier Säfte müssen im gesunden menschlichen Körper in einem harmonischen Verhältnis zueinander stehen müssen. Wenn diese Harmonie nicht gegeben ist, entsteht Krankheit; und der Arzt wirkt bei der Heilung, die die Natur selbst in die Wege leiten muß, als eine Art Steuermann. Die vier Säfte konnten darüber hinaus den vier Elementen zugeordnet werden; damit war eine Verbindung zwischen der großen Natur des Alls, dem Makrokosmos, und der kleinen Natur des Menschen, dem Mikrokosmos möglich. Auch von der Säftelehre des Hippokrates und dem damit verbundenen Naturmodell geht eine lange Rezeptionstradition aus, die den Naturbegriff an Konzepte wie Gesundheit und Krankheit, Harmonie und Disharmonie, naturgemäßes und nicht-naturgemäßes Verhalten anknüpft.

Bei Platon (427-348 v. Chr.) ist die naturphilosophische Variante des Naturbegriffs eher schwächer ausgeprägt, umso stärker treten jedoch nun die anthropologische und die ethische Dimension hervor. Das wahrhaft Seiende sind für Platon allein die Ideen – abstrakte, unkörperliche, rein ideelle Urbilder, die den Dingen unserer Erfahrung zugrunde liegen. Und auch die Natur partizipiert an diesem Ideenreich: Im Menschen ist sie verkörpert als unsterbliche und immaterielle Seele, im Universum als Weltseele; zwischen beiden besteht die schon von Hippokrates bekannte Analogie von Makro- und Mikrokosmos. Besonders wichtig für den Naturbegriff Platons ist der späte Dialog Timaios. Dort beschreibt Platon, wie die sichtbare Welt des Naturkosmos von einem göttlichen Demiurgen (einem Schöpfer) nach dem Modell einer Ideenwelt hervorgebracht wird. Der Kosmos entspricht gleichzeitig der Weltseele, die alle Einzelseelen in sich enthält. Das sozusagen Naturhafte an der menschlichen Einzelseele ist dabei, dass sie sich selbst bewegen kann, also unabhängig von äußeren materiellen Einflüssen gedacht werden kann (eine Vorform dessen, was später 'freier Wille' heißen wird). Praktisch äußert sich die physis im Menschen in seinen Naturanlagen, weshalb sie auch besonders wichtig für die gesellschaftlichen Erziehungsprozesse wird, die Platon beispielsweise in seinem Dialog Politeia schildert.

Für Platon ist wegen der dominant metaphysischen Ausrichtung seiner Philosophie der Naturbegriff nicht gerade zentral. Gleichwohl bildet er sozusagen einen weiteren Extrempunkt aus, nämlich ein Naturmodell, das beinahe gänzlich immateriell gedacht werden kann und allein auf abstrakten Prinzipien und Werten beruht. Zudem wird sein weltenschaffender Demiurg ein wesentlicher Bezugspunkt der christlichen Schöpfungslehre. Demgegenüber erhält der Naturbegriff bei seinem ziemlich anders gearteteten Schüler Aristoteles (384-322 v. Chr.) nun einen fundamentalen Stellenwert. Die Natur macht das Wesen alles Seiendem aus, sofern es Bewegung und damit Leben hat. Sie umfasst die Lebewesen, die Pflanzen, aber auch die Elemente; und sie wird explizit abgegrenzt zu dem, was techne ist, also künstlich gemacht, und kein solches Bewegungsprinzip in sich selbst trägt. Insofern ist die gesamte Körperwelt ebenso wie alle ihre Einzelbestandteile physis, Natur. Dabei ordnet Aristoteles die Naturphänomene in Form einer Stufenleiter an: Auf der untersten Stufe stehen die Pflanzen, die durch Ernährung und Fortpflanzung gekennzeichnet sind. Auf der nächsten Stufe kommen die Tiere hinzu, die fähig zur Sinneswahrnehmung und zur Ortsveränderung sind. Der Mensch steht auf der höchsten Stufe; er hat die Fähigkeit zum Denken als charakteristisches Merkmal. Diese Stufenordnung wird bis ins 18. Jahrhundert hinein unter dem Bild der great chain of being oder der 'goldenen Kette der Wesen' tradiert; letztlich ebenfalls ein vorevolutionärer Gedanke.

Der Naturbegriff geht jedoch auch bei Aristoteles über diese materielle Ausfüllung hinaus. Leben erhält nämlich auch der Mensch als Bestandteil der Körperwelt nur durch einen immateriellen Bestandteil, seine Seele. Der Körper wird dabei als Werkzeug (= griech. Organon) der Seele verstanden; das ist die Quelle des Begriffs 'Organismus'. Die Seele gibt dem stofflichen Leib sein individuelles Formprinzip; das Ergebnis beider, die über die Zeit tatsächlich aktualisierte Lebensgestalt nennt Aristoteles 'Entelechie'. Insofern ist Aristoteles Naturkonzept durchaus nicht monistisch; vielmehr existieren mit dem kulturell Gemachten und den geistigen Prinzipien Gegenbegriffe zur Natur. Alles jedoch, was Leben hat, hat in zweifachem Sinne Natur. Zum einen ist es als Bestandteil der Körperwelt natura naturata, also aus Natur gemachte Natur, geschaffene Natur, der Naturkosmos in seinem Sein schlechthin. Zum zweiten ist Natur jedoch auch natura naturans: hervorbringende Natur, Natur am Werke sozusagen, und damit etwas prozesshaftes, das nie zur Ruhe kommt und immer neues Leben hervorbringt. Das lässt sich zum Beispiel auch relativ gut auf das christliche Naturbild übertragen, in dem Gott als Schöpfer natura naturans ist und seine Schöpfung natura naturata. Der wesentliche Unterschied zum christlichen Naturbild ist jedoch, dass bei Aristoteles die Welt ewig und gleichzeitig dynamisch gedacht wird; sie hat keinen festen Anfang (wie in der christlichen Schöpfung) und auch kein vorgesehenes Ende (wie in der christlichen Lehre vom Weltende, der Apokalypse).

Vor allem die Zweiteiligkeit des Naturbegriffs wird bei Aristoteles also rezeptionsprägend: Natur ist sowohl ein Form- und Werdensprinzip wie auch dessen Ergebnis, die gestaltete Form, und zwar auf allen Ebenen des Kosmos. Ihr Wirken vollzieht sich dabei nach dem Gesetz der durchgängigen Zweckmäßigkeit. Aristoteles' Naturdeutung ist, und auch das ist wichtig und modellbildend, teleologisch: Die Natur tut alles mit Absicht, nach Plan und nicht zufällig; jedes noch so winzige Naturphänomen trägt seine eigene Zweckbestimmung in sich (was Aristoteles als Entelechie bezeichnet) und entfaltet sich im Hinblick auf ein ganz genau definiertes Ziel, sein telos.

Für die Zeit des sogenannten Hellenismus, also zwischen dem 3. und dem 1. Jh. v. Christi, ist vor allem die Naturphilosophische der Stoa wichtig. Die griechische Zivilisation hatte zu dieser Zeit ihre größte Ausbreitung erreicht; die Philosophie wurde inzwischen regelrecht in Schulen gelehrt. Die erste dieser Schulen, die Stoa, wurde um 300 v. Chr. von Zenon begründet und existierte bis zur römischen Kaiserzeit. Sie strebte erstmals eine Art philosophisches System an, in dem Ethik, Physik und Logik zwar einzelne Disziplinen sind, jedoch nur unterschiedliche Facetten der göttlichen All-Natur spiegeln. Für die stoische Ethik war das Ziel des sittlichen Lebens die Übereinstimmung mit der Natur. Der stoische Weise als Idealfigur lebt in völligem Einklang mit der All-Natur und hat all seine nicht-natürlichen Affekte unter Kontrolle; er hat die Seelenruhe, die ataraxia, erreicht. Andererseits besteht für die Stoiker auch die Möglichkeit, dass der Mensch von der Natur abweichen kann und ein nicht-naturgemäßes Leben wählt; das wäre zwar äußerst unklug, aber immerhin denkbar. Die Vernunft gebietet es jedoch, der immer gleichen und ewigen Allnatur zu folgen, die auch den gesamten Kosmos durchwaltet und strukturiert. Damit wird die Natur bei den Stoikern zum ersten Mal zu einem philosophischen Leitbegriff des ethisch-praktischen Lebens; auch dies ein Traditionsursprung, der über Rousseau bis zu den politisch grünen Ideologien unserer Zeit zu verfolgen ist; sie machen auch erstmal den oikos, den Haushalt, zu einem zentralen Begriff der Naturdiskussion.

Mittelalter

Unser eigenes Naturbild ist zudem geprägt von der Tradition des christlichen Naturbegriffs. Nach diesem ist Gott der Schöpfer allen Lebens; er hat die Welt geschaffen, und zwar aus nichts, und damit einen Anfang gesetzt sowie ein Ende prophezeit. Der Schöpfungsvorgang selbst ist in der Bibel nachzulesen und gipfelt in dem Urteil, das Gott schlussendlich angesichts seines vollendeten Werkes ausspricht: "Und siehe, es war gut". Sowohl die Natur wie auch der Mensch sind dabei zwar nach seinem Bilde und seinem Entwurf geschaffen, beides ist jedoch nicht göttlich, sondern fällt schon mit dem Sündenfall im Paradies dem Einfluss des Teufels anheim. Der Mensch als Krone der Schöpfung wird von Gott beauftragt, sich "die Erde untertan" zu machen; eine Anweisung, die inzwischen angesichts fortschreitender Umweltzerstörung und -ausbeutung einigermaßen ihre anfängliche Unschuld verloren hat.

Für das Mittelalter, so kann man unter aller gröbster Verallgemeinerung sagen, ist die Natur kein besonders relevanter Begriff; Naturphänomene sind exempla und mirabilia, die in Enzyklopädien zusammengestellt werden, aber prinzipiell nicht für sich selbst stehen, sondern auf anderes und höheres verweisen. Insofern ist der Naturbegriff des Mittelalters vor allem symbolisch bzw. allegorisch zu verstehen: Im großen 'Buch der Natur' (eine sehr wichtige und geschichtsträchtige Metapher, geprägt vom Kirchenvater Augustinus) ist alles verzeichnet, was Gottes Schöpfung hervorgebracht hat; seine Auslegung bleibt aber besser dem Spezialisten vorbehalten, also dem Theologen, der die an sich bedeutungs- und belanglosen Naturdinge in die richtige Perspektive rückt, indem er sie auf Gott und die göttliche Schöpfung bezieht.

Neuzeit, Aufklärung

Größere Bedeutung gewinnt der Naturbegriff zuerst wieder in der Philosophie im Kontext der im Hochmittelalter einsetzenden Aristoteles-Lektüre. Vermittelt über arabische Gelehrte wurde Aristoteles sozusagen wieder in das Europa der Klöster reimportiert, in dem die Lektüre antiker Autoren als böser Heiden bisher verboten war; arabische Aristoteles-Kommentatoren haben auch das oben bereits eingeführte, wirkungsmächtige Begriffspaar natura naturata/natura naturans geprägt. Wesentliche neue Aspekte zum Naturbegriff brachte aber erst die beginnende Neuzeit mit sich. Ab dem 16. Jahrhundert wird die Natur zunehmend wissenschaftlich befragt und beobachtet; das neue kopernikanische Weltbild gipfelt im Prozess um Galilei Galileo (1564-1642). Von dort an lässt sich der Aufstieg der Naturwissenschaft nicht mehr bremsen. Im Mittelpunkt steht nun nicht mehr die Frage nach dem Wesen oder Ursprung der Natur, sondern die nach ihren Gesetzen, ihrer Funktionsweise, ihren Erscheinungen. Durch Beobachtungen und Experimente versucht man zunächst, der Natur in allen Bereichen auf die Spur zu kommen; das dabei entstehende und lawinenartig anwachsende Wissen wird versuchsweise kategorisiert und systematisiert; erste Naturgesetze werden mathematisch formuliert. Als Grundlage dieser frühen 'Naturwissenschaft' (die noch lange nicht so heißt: man spricht bis ins 18. Jahrhundert eher von "Naturgeschichte", aber auch weiterhin von Naturphilosophie) dienen die Mathematik und die Mechanik; Isaac Newtons Grundlagenwerk trägt noch den bezeichnenden Titel Philosophia naturalis principia mathematica (1687).

Dabei werden die Termini 'Natur' und 'Mechanismus' zu Beginn des 18. Jahrhunderts beinahe austauschbar; das zeigen die Lexikoneinträge aus Zedlers Großen Universal-Lexikon, dem wichtigsten Wörterbuch der Zeit. So führt Zedler in seinem Artikel Natur zunächst drei Bedeutungen aus der 'Physik' für Natur an: Der Terminus bezeichne zunächst die Zweiheit von Gott als Schöpfer (natura naturans) und der "erschaffenen Welt" (natura naturata); sodann den "Welt-Geist" als dasjenige Prinzip, das die Welt in Bewegung erhalte; und schließlich die "Geschöpfe und ihr Wesen": Und unter diesem "Wesen" wird die "innerliche Beschaffenheit der natürlichen Dinge, so fern sich solche durch allerhand Würckungen zu erkennen giebt, welche Natur nach den mechanischen Principiis eben das ist, was Mechanismus genennet wird". Daneben kennt Zedler noch vielfältige moralische, rechtliche und theologische Begriffsdefinitionen; zentral geworden ist jedoch bereits das physikalisch-mechanistische Paradigma, weil es für alle Arten der Bewegung zu gelten scheint und sich in mathematische Formeln fassen lässt.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts machen sich jedoch zusehends Zweifel an dieser mechanistischen Auffassung breit. Als neues Natur-Paradigma etabliert sich, wesentlich beeinflusst sowohl von einer neuen Generation 'philosophischer Ärzte' (in der Tradition des Hippokrates) wie auch aufklärungskritischer Gegenströmungen, der 'Organismus'. Was ein Organismus genau ist, ist schwierig zu definieren; am besten vorstellen kann man es sich anhand des Beispiels, das uns allen unmittelbar vertraut ist, nämlich unseres eigenen Körpers. In einem Organismus, so die verbreitetste Definition, ist das Verhältnis der Teile untereinander und zum Ganzen eben nicht mehr mechanisch auseinander ableitbar, sondern Teil und Ganzes bedingen sich gegenseitig vielfältig. Also, am Beispiel des menschlichen Körpers: Weder kann die Leber ohne den Gesamtkörper existieren, noch der Gesamtkörper ohne Leber; vielmehr steht die Leber über das Blutsystem in ständigen Austausch mit anderen Organen. Der Körper insgesamt ist aber, und das ist die klassische Formel zur Definition eines Organismus, mehr als die Summe seiner Teile: Wenn man Leber und Galle und Herz und Haut einfach zusammenaddiert, bekommt man immer noch keinen lebendigen Körper, sondern nur eine Summe von Einzelteilen (wohingegen man einen Motor einfach auseinandernehmen und wieder zusammensetzen kann; er ist eben ein Mechanismus). Wenn das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, ist es aber auch analytisch nicht mehr zugänglich: Denn wenn man es wieder in seine Teile zerlegt, was nun mal das Wesen jeder Analyse ist, geht eben dieser 'ganzheitliche' Zusammenhang verloren.

Bei Immanuel Kant hingegen wird die Natur zu einer Art Synonym für Gesetzlichkeit schlechthin. Kant unterscheidet zwei Begriffsvarianten, einen formalen und einen materialen Naturbegriff: Material ist die Natur der Inbegriff aller Gegenstände menschlicher Erfahrung (also natura naturata) – und damit auch das einzig legitime Objekt für menschliche Forschung. Formal bezeichnet sie das "Dasein der Dinge unter Gesetzen" (was eine Art natura naturans ist) – im Kontrast zum Menschen, der sich selbst frei bestimmen kann (sich nach Kant aber besser den Gesetzen der Vernunft freiwillig unterwirft). Damit wird den Naturwissenschaften eine deutliche Leitbildfunktion für die Wissenschaften schlechthin zugeschrieben. Und die ergreifen diese auch prompt: Im 19. Jahrhundert übernehmen die Naturwissenschaften endgültig den Naturbegriff aus den Händen der Philosophie. Dabei tragen natürlich nicht alle Einzel-Entdeckungen in gleichem Maße und in gleicher Tiefe zu Veränderungen im allgemeinen Naturkonzept bei. Besonders wichtig werden beispielsweise das Evolutionskonzept in der Biologie oder die Entdeckungen der Grundlagenphysik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Allerdings - schon im Falle der Relativitätstheorie oder der Quantenphysik, die zweifellos tiefe Einschnitte in unserem Bild der Natur hinterlassen haben müssten, ist die Anschaulichkeit so gering ausgeprägt und der gedankliche Nachvollzug so schwierig, dass sie nur geringe Spuren im Alltagsverständnis von Natur hinterlassen haben. Aktuell dominieren die gerade zu 'Lebenswissenschaften' umbenannten biologischen Disziplinen wohl unser Bild von der Natur durch die damit verbundenen aktuellen Themen wie Gentechnologie oder Reproduktionsmedizin. Interessant ist, dass sich damit auch erstmals wieder eine engere Nähe zu ethischen Fragestellungen in Bezug auf die Natur ergibt. Eine moderne 'Naturphilosophie' im eigentlichen Sinne des Wortes gibt es heute jedoch praktisch nicht mehr.

Zusammenfassend kann man sagen, dass sich das Naturbild, durchaus parallel zur groben allgemeinen Einteilung der westeuropäischen Geistesgeschichte, in drei Epochen entwickelt und wandelt. In der Antike herrscht ein vorwissenschaftliches Naturverständnis, das von verschiedenen naturphilosophischen Ansätzen geprägt ist und vor allem nach dem Ursprung und dem Wesen der Natur fragt. Explizite Wertungen oder normative Überlegungen werden in diesem Zusammenhang langsam entwickelt, indem man die Natur des Menschen und die Frage nach einem naturgemäßen Leben in die Überlegungen mit einbezieht. In der Neuzeit beginnen die Naturwissenschaften ihren Siegeszug und formen das Bild von der Natur durch konkrete Erkenntnisse und die Formulierung von Naturgesetzen neu. Natur insgesamt wird dabei nacheinander (und teilweise auch parallel) nach dem Modell des Mechanismus, des Organismus und einer allgemeinen Gesetzlichkeit vorgestellt. Und, um noch ein viertes Synonym hinzuzufügen: Die Vorstellung von Natur als Landschaft – und damit als sowohl ästhetischem wie auch lebensweltlichem Erlebniskomplex – ist ebenfalls eine Erfindung des 18. Jahrhunderts, das auch ein Jahrhunderts des Parks und der Spaziergänger war (im Mittelalter wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, durch den Wald zu lustwandeln oder Berge erhaben zu finden; dass man das nun schön findet und auf Bildern verewigt, hängt offensichtlich mit einer sehr weitgehenden Domestizierung der Natur zusammen).

Moderne

In der Moderne schließlich – wenn man diesen problematischen Begriff einmal auf die Zeit ab 1900 ungefähr anwendet – entwickelt sich zusätzlich ein starkes technisches Interesse an der Natur durch die zunehmende Industrialisierung: Natur wird zum Rohstoff und zum Produktionsmittel; Natur wird ausgebeutet und manipuliert; sie wird auch zum Gegenstand globaler Interessenkonflikte und Machtstrategien, wie gerade unsere letzten Kriege gelehrt haben. Als Gegenströmung haben sich die ökologischen Bewegungen entwickelt, die die Natur als ganzheitlichen Lebensraum verstehen. In diesem Natur-Organismus ist auch der Mensch nur ein Teil von vielen anderen, der aber gewaltsam die Herrschaft über das Ganze an sich gerissen hat und nun dabei ist, die Grundlagen jeglichen Lebens für immer zu zerstören. Dagegen wenden sich die neuen Theorien der Nachhaltigkeit, die fordern, bei allen Entscheidungen und Eingriffen in die Natur auch die Interessen künftiger Generationen und aller Lebensformen einzubeziehen. Ins allgemeine und lebensweltliche Bewusstsein tritt die Natur schließlich im Wesentlichen als Erholungsraum – im Urlaub und in der Freizeit suchen wir die letzten Fleckchen schöne Natur – oder in Form von Naturkatastrophen – einem letzten Residuum des Phänomens 'höhere Gewalt'. Die Natur ist insofern auch für den Menschen des 21. Jahrhunderts in der täglichen, nicht-wissenschaftlichen, nicht-philosophischen Erfahrung trotz aller Wissensfortschritte noch ähnlich zwiespältig wie für diejenigen Antike: Natur ist sowohl Idylle als auch Bedrohung, sowohl Heimat als auch das Fremde, Nicht-Menschliche, Gewaltsame schlechthin. 


Casspar David Friedrich, Mönch am Meer (1808)


20. Warum sprechen Menschen in Gedichten von der Natur, und was ist dadurch gewonnen? – Zur Zusammenfassung

Die Frage, die ich mit dieser Vorlesung eigentlich beantworten wollte – neben all den einzelnen Protokollfragen natürlich – ist: Warum sprechen Menschen eigentlich in Gedichten von der Natur, und das relativ kontinuierlich, seitdem sie überhaupt in Gedichten von überhaupt etwas sprechen? Was ist der Mehrwert des Sprechens über Natur in lyrischer Form, beispielsweise gegenüber anderen Formen der Auseinandersetzung mit ihr, die wir ja auch gelegentlich hier betrachtet haben, also beispielsweise: der bildenden Kunst oder der Naturphilosophie bzw. Naturwissenschaften?

Im Einzelnen habe ich versucht, diese Globalfrage über mehrere Unterfragen zu beantworten, also: Wie entwickelt sich historisch das Sprechen über die Natur in Gedichten? (I) In welchen Formen sprechen Menschen in Gedichten von der Natur? (II) Welche Themen und Topoi gibt es, sind diese bleibend oder haben nur kurze Auftritte? (III) Bevor ich die Globalfrage nun beantworte (sofern man das bei solchen Globalfragen überhaupt pauschal tun kann), machen wir noch einmal zusammen einen kurzen Streifzug durch die Geschichte der Naturlyrik, wie ich sie in den einzelnen Vorlesungen präsentiert habe.

I. Historischer Überblick

Wenn die Antike (genommen als pars pro toto, wie alle Epochen im Folgenden) von der Natur spricht, dann spricht sie von einer gewaltigen und bedrohlichen Ordnung, die den Menschen und sein Leben vollständig bestimmt- Je besser man sie nun versteht (beispielsweise durch den Mythos) oder erklären kann (beispielsweise durch die zeitgenössische Naturphilosophie wie bei Lukrez, desto weniger ist man ihr ausgeliefert und fällt dem Aberglauben anheim (entkommen tut man ihr nie). Es geht also im Wesentlichen um Belehrung, Orientierungswissen und Seelentrost; keinesfalls geht es um lyrische Selbstaussprache, nicht nur das lyrische Ich, das Ich überhaupt ist in dieser Zeit noch nicht erfunden.

Wenn der Barock (Jahreszeitenlyrik) von Natur spricht, spricht er von einem bunten Musterbuch voller Kuriositäten und Seltsamkeiten. Sie alle zeigen die Größe und Macht Gottes und die Kleinheit und Vergänglichkeit des Menschen, der sich in diese Ordnung fügen muss. Alle Naturphänomene werden deshalb einer allegorischen Bedeutungszuweisung unterzogen; sie haben keinerlei eigenständigen Wert, sondern fallen in den Bereich der vanitas und des carpe diem. Immerhin wird die Natur jetzt aber als ästhetisches Phänomen erfasst, und das sogar relativ vielfältig; es werden auch schon erste engere Beziehungen zum Menschen hergestellt (wie beispielsweise in der Jahreszeitenlyrik, die Naturphänomene in Beziehung zu menschlichen Tätigkeiten oder Ritualen stellt).

Wenn die Frühaufklärung (Brockes) von der Natur spricht, ändert sich das noch nicht grundlegend: Die Natur ist immer noch vor allem der Ort, an dem Gott zu den Menschen spricht; alles in der Natur kann und muss auf Gott bezogen werden: Die Natur in ihrer Vielfalt, nun aber vor allem auch: ihrer Nützlichkeit und ihrer Schönheit ist der größte denkbare Gottesbeweis (das ist die Grundidee der Physikotheologie). Deutlich aufgewertet wird dadurch dasjenige Instrument, mit dem der Mensch die Natur überhaupt erst wahrnehmen kann, seine fünf Sinne nämlich und damit in Wechselwirkung sein ordnender Verstand.

Wenn die Anakreontik (Hagedorn, Klopstock) von der Natur spricht, spricht sie nicht mehr primär von Gott; insofern sind wir hier an einer wichtigen Schwelle in der Entwicklung der Naturlyrik. Sie spricht vielmehr von einem idyllisch gezeichneten Raum, in dem sich der Mensch unverstellt selbst erfahren kann und in dem er seine Gefühle frei entfalten kann (im Gegenteil zu den verderblichen Milieus der Stadt oder des Hofs). Der Mensch wird dabei zu den Empfindungen von Liebe und Freundschaft inspiriert, die ihn in der Natur umgeben (und ein Werk Gottes bleiben); er genießt aber nicht mehr die Natur unvermittelt, sondern nur über den Umweg seine eigenen Empfindungen. Die Natur wird dabei auch als moralisches Vorbild eingespannt; sie ist das Ideal unverfälschten, authentischen und dadurch gleichzeitig sozialen Empfindens. Das erstreckt sich hin bis zur Naturlyrik des jungen Goethe, indem Ich und Natur die bisher stärkste Verbindung eingehen. Das Erleben wird dabei noch vielfach verstärkt durch die Verbindung erlebendes Ich – Natur als Liebessymbol. Die folgenreiche Erfindung des ‚lyrischen Ich‘ im Vollsinn des Wortes beim jungen Goethe entsteht also im wesentlich dadurch, dass sich zwei große Traditionslinien kreuzen und geradezu innigst verschmelzen, nämlich die Liebes- und die Naturlyrik.

Wenn Schiller von der Natur spricht, spricht er von dem Urzustand ebenso wie dem Endzustand der menschlichen Entwicklung in der Geschichte. Damit ist die sich seit der Frühaufklärung abzeichnend vollständige Säkularisierung vollzogen: Die Natur ist jetzt vollständig auf kulturelle Entwicklung der Menschheit und die Vervollkommnung des Menschengeschlechts ausgerichtet; sie ist ein Symbolreservoir geworden, um vom Menschen sprechen zu können (aber, anders als im Barock: eben vom Menschlichen, und nicht von Gott!). Das ist deshalb möglich, weil in der Natur ein grundlegendes Formprinzip von Wahrheit schlechthin nachvollziehbar wird, nämlich (mit Kant gesprochen): das Sein von Dingen unter Gesetzen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem naiven Dichter – der noch unvermittelt von der ursprünglichen Einheit der Natur sprechen kann, weil sie in ihm selbst wundersamerweise überlebt hat – und dem sentimentalen Dichter – der die allgemeine Entfremdung des Menschen von der Natur im Stand der Kultur mitvollzogen kann, aber immerhin noch die Erinnerung an einen ursprünglichen Einheitszustand heraufbeschwören kann bzw. einen utopischen Endzustand der Wiedervereinigung von Natur und Kultur auf höherer Stufe herbeibeschwören.

Wenn der spätere Goethe von der Natur spricht, spricht er hingegen, im Unterschied zu seinem sentimentalischen und dualistischen Dichterfreund Schiller, zum ersten Mal völlig aus einer dezidiert monistischen Position heraus von der Natur. Natur ist eine Ureinheit, die zwar nie restlos erklärbar sein wird, sich jedoch in Urphänomenen (die Urpflanze) und Verwandlungsformen (Metamorphose, Morphologie) äußert. Sie kann vom Menschen auf verschiedene Art erfahren und gestaltet werden kann, nämlich sowohl auf dem Weg der Dichtung als auch auf dem Weg der Naturwissenschaft. Alles ist Natur: Gott, Mensch und Natur (im engeren Sinne); alles gehorcht den gleichen Gesetzen (die vom Menschen insofern erkannt werden können, als er ihnen selbst unterliegt); und das wesentliche Grundprinzip der Natur ist Produktivität, was dem Dichter eine immerhin privilegierte Position gibt. Damit wird Natur im Übrigen in einem gewissen Maße auch wieder re-sakralisiert: Wenn deus sive natura gilt, dann wird die Natur (und mit ihre der Mensch) auch wieder vergöttlicht!

Das setzt sich in der Frühromantik fort: Wenn die Romantiker von der Natur sprechen, sprechen sie von einer allem vorgängigen Einheit (wie Goethe), die aber nun nur zu ahnen, zu erspüren, zu erträumen ist und ein ewig unerreichbares Sehnsuchtsziel bleibt. Die Natur spricht zwar in einer Sprache, aber wir können sie nicht (mehr) rational verstehen, sondern können sie nur nachempfinden (in der Musik) oder erinnern (Kindheit, Unbewusstes). Für die Frühromantik spricht die Natur dabei eher in Hieroglyphen, geheimnisvollen Zeichen, die aber gedeutet werden können (Novalis); die Hochromantiker hingegen lauschen auf die Sprache der Natur, wie sie sich in Naturgeräuschen (dem Waldesrauschen, dem Strömen des Wassers, dem Wehen des Windes) äußert, die in der Lyrik besonders gut nachgebildet werden können. Die Spätromantik entdeckt dann zum ersten Mal die Beziehung zwischen der dunklen Natur und den dunklen Seiten des Menschen in seinem Unbewussten.

Nach diesem Höhepunkt der Naturlyrik um 18. Jh. folgt, wie so oft, ein ziemlich krasser Rückschlag im 19. Jahrhundert (das einfach insgesamt genug hatte von großen Konzepten und großen Worten). Wenn das Junge Deutschland/Heine von der Natur spricht, spricht er von der Zerstörung einer romantischen Erinnerung. Für die eigene Gegenwart ist die Natur jedoch kein Orientierungspunkt mehr, sie wird ersetzt durch die Geschichte als Fortschrittsmuster. Lediglich im Biedermeier erhält sich, sozusagen auf einer verkleinerten Schwundstufe, die Auffassung von Natur als ursprünglicher Heimat, als Universum kleiner Dinge, die große Erfahrungen möglich machen; damit ist jedoch kein metaphysischer oder theoretischer Anspruch mehr verbunden wird.

Wenn der Realismus dann ab der Jahrhundertmitte von Natur spricht, dann meint er erstmals meistens – insofern sind wir hier auch an einer wichtigen Schwelle der Naturlyrik – konkrete Landschaften, Phänomene, Erfahrungen. Diese haben in besonderen Fällen zwar noch ein besonderes Symbolpotential, aber es muss gesucht werden und hat keine allgemeine Geltung. Natur behält das Potential, "grüne Stellen" für die Dichtung bereitzustellen, die jedoch nun genauso gut im grauen Wattenmeer wie früher im goldenen Arkadien gefunden werden können. Daneben entwickelt sich gegen Ende des Jahrhunderts auch ein Bewusstsein für die bedrohlichen Komponenten von Natur als unverfügbarer Naturgewalt auch im Menschen selbst (durchaus in der Tradition der Spätromantik und ihrer Darstellung des Unbewussten vor Freud), wie es dann in Nietzsches zwei gegensätzlichen Konzepten von apollinischer Traum- und Oberflächenkunst und dionysischer Rausch- und Tiefenkunst Ausdruck finden wird – einem erneuten und ebenfalls ziemlich einflussreichem Versuch nach Schillers naivem und sentimentalischen Dichter, zwei unterschiedliche Dichtungstypen aus der Natur selbst herzuleiten.

Wenn der Naturalismus von der Natur spricht, meint er einen umfassenden Gesetzeszusammenhang, der der naturwissenschaftlichen Erforschung seiner Gesetzlichkeit wegen vollumfänglich zugänglich ist; auch die Dichtung von der Natur selbst folgt natürlichen Gesetzen. Auch dieses ist eine Phänomen, das wir zwar ansatzweise in der antiken Naturlyrik sehen konnten, das aber nun vollausgeprägt erstmals erscheint: Die Naturwissenschaft ist die Grundlage der Naturlyrik geworden; damit einhergehend wird ein (nunmehr konkret biologischer) Natur- und Lebensbegriff auch wieder zu einer zentralen Kategorie des menschlichen Selbstverständnisses. Im Unterschied zu Goethe ist Natur für die (strengen) Naturalisten auch vollständig erklärbar; es ist im Wesentlichen eine Frage der Zeit und des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts, bis wann wir diesen Zustand vollständiger Naturerkenntnis erreicht haben.

Wenn der Symbolismus hingegen von Natur spricht, dann zieht er entweder die Nase hoch oder er sucht eigens ihre besonders kostbaren, seltenen, preziösen Erscheinungsformen, als eine höchst vergeistigte Natur; nur so kann Natur noch die feinen Stimmungen der menschlichen Seele in der Moderne wiedergeben, was demnach auch ihr primäres Ziel ist. Wir haben damit gleichzeitig zur vollständigen Ausweitung des Naturbegriffs im Naturalismus auch den extremen Gegenpol, nämlich erstmals eine beinahe vollständige Ablehnung des Naturbegriffs – im Wesentlichen seiner ästhetischen Unwürdigkeit halber. Beide Bewegungen zu versöhnen versucht der Jugendstil, indem eine durchaus biologisch verstandene Natur ästhetisch stilisiert auftaucht, als Geste, als Ornament, aber eben auch: als Attribut von gelebtem Leben.

Wenn die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts von Natur spricht, dann mit einem schlechten Gewissen, weil das Sprechen über Natur als nicht politisch oder ethisch relevant gilt bzw. sogar als reaktionär oder opportunistisch (Brecht und das Gespräch über Bäume); wenn noch über Natur gesprochen wird, dann hermetisch oder selbstreflexiv. Die Naturlyrik partizipiert damit an der allgemeinen Lyrikkrise nach Auschwitz ebenso wie an der Neigung der modernen Lyrik zum Hermetismus angesichts der abhanden gekommenen bzw. historisch entwerteten Topoi und traditionellen Redeweisen. Naturgedichte der 50er Jahre tendieren deshalb entweder zur absoluten Metapher (bei der die Bilder, auch die aus der Natur, nur noch aus Bildhälften bestehen) oder zur poetologischen Selbstbezüglichkeit: Es gibt das Buch der Natur zwar noch, aber es ist eben – hermetisch und kann deshalb auch nur in abstrakt-hermetisch-verschlüsselten Redeweisen ins Gedicht Eingang finden.

Demgegenüber kann man die Ökolyrik als Wiederauferstehung der Naturlyrik unter veränderten Vorzeichen betrachten: nämlich als Gegenbewegung zum Anthropozän, also einer fatalen Neigung, die gesamte Natur ausschließlich auf den Menschen, seinen Nutzen, seine Erfahrungsweisen, seine Bedürfnisse zu beziehen (und damit zu instrumentalisieren und auszubeuten). Die Natur soll in der Ökolyrik nicht als Verwertungszusammenhang zur Sprache kommen, sondern für sich selbst sprechen, auch jenseits des Menschen bzw. im Blick auf eine umfassende Einheit von Mensch und Natur unter dem Vorzeichen des gemeinsamen oikos, des Haushalts (eine Idee, die immerhin auch auf antike Wurzeln zurückblicken kann). Wir sind damit, so meine ich jedenfalls, durchaus wieder an einem Höhepunkt der Geschichte der Naturlyrik angelangt: Aus einer monistischen Perspektive umfasst die Natur alles (wie bei Goethe oder den Frühromantikern auch) – aber eben nicht mehr unter dem Führungsanspruch des Menschen! Vielmehr verschwindet das lyrische Ich sogar häufig wieder im Kosmos der wiederhergestellten ganzen Natur kurz vor ihrer endgültigen Zerstörung. Damit einher geht zudem auch wieder ein ethischer Impuls des sozusagen ‚nachhaltigen‘ Sprechens von der Natur, das auch ihre Zerstörung und ihre hässlichen Seiten nicht verschweigt.

II. Formen der Naturlyrik

Soweit zum historischen Rundumschlag; man könnte eine typische geistesgeschichtliche Wellenbewegung in den Aufstiegs- und Verfallsbewegungen der Naturlyrik sehen, aber das überlassen wir den Geistesgeschichtlern und gehen jetzt weiter zu Formfragen, die uns als Literaturwissenschaftlern vielleicht näherliegen. Wenn man untersucht, in welchen lyrischen Formen bevorzugt von der Natur gesprochen wurde, fällt zunächst auf, dass in der Naturlyrik die häufig verpönte diskursivere Formen von Dichtung weiterleben: Relativ lange werden noch Lehrgedichte geschrieben oder gedankenlyrische Texte in einem weiteren Sinn. Das hängt wohl zu einem zusammen mit der epochenweise starken Annäherung an die Naturphilosophie oder die Naturwissenschaften; Naturgedichte können hier sowohl illustrierende als auch popularisierende Funktion übernehmen (denken wir an Lukrez, an Brockes, an Goethe und noch an Arno Holz. Insofern könnten Naturgedichte insgesamt durchaus ein geeignetes Mittel sein, um die immer noch anhaltende Spannung zwischen den zwei Kulturen in unserer Gesellschaft und Wissenschaft zu überbrücken (schön wäre es natürlich, wenn dabei gelegentlich auch die Wissenschaftler etwas von den Dichtern lernen könnte; Goethe ist immerhin ein Ansatz dazu). Auch die Ökolyrik scheint mir wichtig in ihrem Bemühen, eine ethische Dimension des Naturbegriffs wieder zu reaktivieren und erfahrbar zu machen.

Im Blick auf die Lyrik selbst könnte man meinen (und ich würde sogar sagen: hoffen), dass hier ein markanter Gegenpol geschaffen wird zu einer einseitigen Auffassung von Lyrik als irrationales Sprechen von irrationalen Dingen (Gefühlen, Erlebnissen, Stimmungen, der ewige Liebe natürlich vor allem). Deshalb gibt es auch eine starke Tradition des langen Naturgedicht, das argumentiert, erläutert, beschreibt; daneben jedoch dominieren zwischenzeitlich auch kurze, vor allem volksliedartige Formen (vor allem im 19. Jahrhundert), die entweder darauf abzielen, ein inniges Verhältnis zwischen lyrischem Ich und Natur in maximal konzentrierter Form darzustellen oder Naturerleben musikalisch erfahrbar zu machen. Schließlich ist das Naturgedicht in Zeiten, die ein starkes Konzept des erhabenen Naturerlebnisses haben, auch fähig zur großen Form, beispielsweise zur Hymne, oder gar zum Zyklus (wie bei dem Weltgedicht von Arno Holz).

Wenn man nun im Einzelnen untersucht, welche konkreten lyrischen Mittel eingesetzt werden, so findet sich ein relativ großes Spektrum, das auch in den anderen lyrischen Gattungen vorhanden ist (Naturphänomene als Exempla, Allegorien, Symbole oder Metaphern verstanden; Musikalisierung durch Lautmalerei, Emotionalisierung durch Rhythmus; sinnliche Vielfalt bis hin zur Synästhesie).

Ich denke jedoch, zwei Verfahren sind spezifisch für die Naturmalerei (ohne jedoch ausschließlich in ihr vorzukommen natürlich). Das sind zum einen malende Darstellungsweisen, das, was man gelegentlich als "Beschreibungsliteratur" verunglimpft hat und was für eine besondere Nähe zwischen Naturlyrik und Malerei spricht, wie wir sie auch in bestimmen Epochen beobachten konnten (ich erinnere an die Weltlandschaft im Barock, die Arkadien-Malerei oder die romantische Landschaftsmalerei). Zur Rechtfertigung könnte man durchaus vorbringen, dass Naturlyrik eben alle Facetten des Menschen zur Sprache bringt – wozu eben nicht nur seine emotionalen (die die Naturlyrik ja sogar sehr stark angetrieben haben), sondern auch seine sinnlichen und kognitiven; und, idealerweise, durchaus alle im Zusammenhang eines Gedichtes. Wenige Liebesgedichte sind dazu in der Lage…Zudem spricht, genau betrachtet, wenig gegen die Beschreibung im spezifischen Sinn; sie ist eine der ältesten Arten von Mimesis, die dementsprechend auch schon die ältesten Kulturen der Menschheit praktiziert haben, und die dabei durchaus auch ein wenig magisches Potential im Beschwören des Dargestellten entfalten kann.

Zum zweiten ist wahrscheinlich das zentrale Darstellungsmittel von Naturlyrik überhaupt die Personifikation bzw., allgemeiner gesprochen: die Anthropomorphisierung. Durchgehend kann man beobachten, dass einzelnen Naturphänomenen oder Gegenständen menschliche Verhaltens- oder Erscheinungsweise unterlegt werden. Das ist wahrscheinlich sozusagen der Grundmodus von Naturlyrik überhaupt und vielleicht auch eines ihrer zentralen Rechtfertigungselemente: Wir verstehen die Natur nach unserem eigenen Muster; wir finden in ihr menschliche Eigenschaften, Verhaltensweisen, Ausdrucksweisen, ja sogar Werte. Der umgekehrte Weg hingegen wird eher selten beschritten: Schließlich könnte man auch menschlichem Verhalten – natürliche Erscheinungsformen, Verhaltensweisen etc. unterlegen (man könnte vermuten, dass das etwas Allgemeines über unser Verhältnis zur Natur aussagt, aber dazu später noch).

III. Welche Themen und Topoi werden behandelt, wie entwickeln sie sich?

Bezüglich der behandelten Themen und vor allem Topoi will ich nur kurz mehr oder weniger aufzählen, welche uns auf unserem langen Wege begegnet sind – und dabei darauf aufmerksam machen, als wie konstant die meisten von ihnen seit der Antike bis hin zur Moderne sich erweisen. Eines der wirkungsstärksten ist offensichtlich das Modell des Organismus (also der Frage nach Teil-Ganzes-Verhältnissen bzw. Einheit und Vielfalt), ebenso wie das des oikos, der All-Natur, des Kosmos als maximal ausgedehnte Einheitskonzepte. Verwandt damit sind Vorstellungen der Entelechie, der Metamorphose und (deutlich später) der Evolution als Wandlungsprinzipien. Der Zusammenhang der Naturphänomene wird auch verhandelt unter den Bildern der ‚drei Reiche‘, der great chain of being oder des Verhältnisses von Mikros-, (Meso-) und Makrokosmos. Das Verhältnis von Schöpfer und Schöpfung thematisiert die Zweiheit von natura naturans und natura naturata; wichtige Informationen dazu enthält auch das ‚Buch der Natur‘, das entweder noch zu lesen ist oder nur noch zu enträtseln; ebenso wie die diversen Stimmen der Natur in der Romantik.

Die ebenfalls offensichtlich unvergängliche Sehnsucht nach früheren, besseren, goldenen Zuständen wird bleibend gefasst unter den Begriffen ‚Arkadien‘, ‚goldenes Zeitalter‘ und landschaftlich präzisiert im locus amoenus. Auf einer etwas weniger abstrakten Ebene finden sich Vorstellungskomplexe wie die Jahreszeiten, die als zyklisches Prinzip in der Natur auch oft analog gesetzt werden zu den menschlichen Lebensaltern (eine geradezu klassische Anthropomorphisierung). Eines der wenigen modernen Topoi ist Brechts ‚Gespräch über Bäume‘ als Komplex der grundlegenden Infragestellung von Naturlyrik überhaupt oder die neue Vorstellung von ‚Umwelt‘ als ökologischem Gesamtzusammenhang, in dem sich auch das Naturgedicht neu verorten muss.

IV. Warum Gedichte von der Natur? Naturlyrik als vielfältig sprachlich erfahrbarer Interaktions- und Kommukationsraum mit dem Nicht-Menschlichen (vor dem Hintergrund seines Verschwindens)

Damit kehre ich zurück zur Globalfrage: Warum überhaupt lyrisch sprechen von der Natur, was ist der Gewinn, die Legitimierung, der Mehrwert? Ich würde nun, mit aller Vorsicht, antworten: Von der Natur sprechen muss man; es gibt keine Alternative dazu, sich auch sprachlich zu dem in Beziehung zu setzen, was uns umgibt, prägt, vielleicht: determiniert, vielleicht: befreit. Lyrisches Sprechen über die Natur wäre dann zu verstehen als ein spezifischer Interaktions- und Kommunikationsmodus mit dem Nicht-, Außer- oder auch: Mit-Menschlichen, mit den Mitteln dichterischer Sprache. Man könnte vielleicht unterscheiden zwischen verschiedenen Formen und Funktionen dieses Sprechens über die Natur, die verschiedene Beziehungsverhältnisse spiegeln.

a) Sprechen über die Natur:

Das tun die Naturwissenschaften, aber auch viele naturlyrische Texte, vor allem die älteren. Die Natur ist hier ein Gegenstand, ein Objekt, ein Konzept; und der Mensch setzt sich ihr als Sprecher, als wahrnehmendes oder urteilendes Subjekt entgegen. Es gibt also eine Art Hierarchiegefälle; gleichzeitig bleibt aber auch die Natur in ihrer Größe und Vielfalt und Fremdheit eine bleibende Herausforderung.

b) Sprechen mit der Natur:

Viele naturlyrische Texte treten jedoch auch in einen Dialog mit der Natur ein, indem sie ihre sprachlichen Aspekte (Sprache der Natur, Buch der Natur) thematisieren, die Natur also auf etwas in oder am Menschen antwortet; oder umgekehrt, etwas im Menschen auf die Natur antwortet. Es handelt sich also um eine Art Resonanzverhältnis (Rosa), bei der sich Mensch und Natur aufeinander einschwingen und dann verstärkt miteinander mitschwingen. Das passiert vor allem in Romantik und Empfindsamkeit, also den eher "sentimentalen" Phasen der Naturlyrik; meist stehen dabei aber das empfindende Ich bzw. das lyrische Ich deutlich im Fokus des Textes, die Hierarchie wird also nicht ganz überwunden.

c) Sprechen aus der Natur heraus:

Das wäre sozusagen die stärkste Form, das innerste Zentrum der Naturlyrik: Dass sie etwas zum Sprechen bringt, indem der Dichter selbst als Naturwesen und seines Sprache als Naturform interagieren.

Dazu gehört, wiederum in einer schwachen Form, alles onomapoetische Sprechen, als die lautliche Nachbildung von Naturphänomenen; in einer stärkeren Form die schon erwähnte Anthropomorphisierung, bei der Mensch und Natur auf ihre gemeinsamen Eigenschaften befragt werden; was ja voraussetzt, dass es eine gemeinsame natürliche Basis gibt.

In einer ebenfalls starken, aber eher seltenen Form würde sogar die Natur allein sprechen, wie wir es heute beispielsweise bei Silke Scheuermanns Akazien-Gedicht gesehen haben; konsequenterweise verschwindet das lyrische Ich dann auch wieder. Noch eine Steigerung bestünde darin, dass die Natur allein spricht, und das in einer Sprache, die dem Menschen ihrer Fremdheit wegen kaum verständlich ist, gleichwohl jedoch lyrisch gestaltet werden kann.

Zwei Beispiele sollen diesen Kontrast bzw. diese Entwicklung noch einmal illustrieren. Das erste heißt Das Lied der Meere und ist von Robert Gernhardt. Es ist ein komisches Gedicht, eine seltene und unterschätzte Gattung, die ich im Verlauf der Vorlesung gelegentlich mit den parodistischen Gedichten zur Sprache haben kommen lassen; und es gehört zu den ja bereits vorgestellten Texten, die die Unmöglichkeit von Naturlyrik am Ende einer überlangen Gattungstradition beschwören; hier aber auf eine ziemlich lustige Art und Weise. (Die abgebildete Lithographie stammt ebenfalls von Robert Gernhardt, der ja auch Zeichner und Karikaturist sehr berühmt ist).

Die Nordsee rauscht das alte Lied:
'Ich bin so matt, ich bin so müd'.

Die Ostsee murmelt ihren Sang:
'Mir ist so weh, mir ist so bang'.

Und leise singt der Kattegatt:
'Ich bin so müd, ich bin so matt'.

Ihm antwortet die Zuidersee:
'Mir ist so bang, mir ist so weh'.

Das zweite Gedicht heißt kaum anders, nämlich: "Lied vom Meer", es spielt aber in südlicheren Gefilden, nämlich auf Capri. Es ist von Rainer Maria Rilke, nicht nur einem der größten deutschen Lyriker überhaupt, sondern einem Naturlyriker von hohem Gnaden, der sich jedoch eben seiner Besonderheit wegen in keines der hier behandelten Epochenkonzepte so recht fügen sollte. Rilke hat es bei einem Aufenthalt auf Capri an der Jahreswende 1906/1907 geschrieben, und für die, die gern noch ein wenig malende Dichtung haben wollen, dazu auch ein Bild. Versuchen Sie dieses so ganz andere Gedicht nun als ein Beispiel dafür zu lesen, dass Natur eine eigene Sprache spricht, die den Menschen zwar unendlich bewegt, aber nicht wirklich einbezieht; die Felsen, ja sogar der erwähnte Feigenbaum hingegen verstehen ihre Sprache, der Mensch kann nicht mehr leisten, als diese ultimative Erfahrung der Größe, Tiefe, Fremdheit einer Ur-Natur – nun ja: zu überstehen – bzw. in einem kleinen Akt der Hoffnung am Ende, wenigstens noch in einem "treibenden Feigenbaum" einen letzten Rest an Identifikationsmöglichkeit zu finden.


Lied vom Meer
Capri. Piccola Marina

Uraltes Wehn vom Meer,
Meerwind bei Nacht:

Du kommst zu keinem her;  

Wenn einer wacht,
so muß er sehn, wie er
dich übersteht:

Uraltes Wehn vom Meer  

Welches weht
Nur wie für Ur-Gestein,
lauter Raum
reißend von weit herein…

O wie fühlt dich ein  

Treibender Feigenbaum
Oben im Mondschein.


Naturlyrik
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