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Weihnachtssaal 





  • Die drei Weisen aus dem Abendland. Eine post-apokalytpische Weihnachtsgeschichte (2023)
  • Welche Geschichte? Meditationen zur Weihnachtsgeschichte (2022)
  • Weihnachten mit einem Roboter (2021)
  • Weihnachten mit meinem Roboter, Fortsetzung (2022)
  • Katholische Weihnachten, weichgespült (2019)
  • Weihnachtworte (2018)



Die drei Weisen aus dem Abendland

Eine post-apokalyptische Weihnachtsgeschichte



Niemand wusste mehr, wie sie zu ihren Namen gekommen waren. Es war in der Zeit nach dem Großen Trauma, von dem niemand sprach. Es sprach auch niemand mehr von der Zeit vor dem Großen Trauma. Denn alle Geschichten begannen mit „Es war einmal“ – aber keiner wusste mehr, was vor dem Großen Trauma gewesen war, das den weltweiten Kriegen, den sich gegenseitig aufschaukelnden Naturkatastrophen und dem Zerfall aller Gesellschaften in rivalisierende Banden und Fraktionen ein Ende gemacht hatte. Worum hatte man eigentlich gekämpft? Um Worte, nichts als Worte; um die Herrschaft über Geschichten, und am Ende war Blut geflossen, wirkliches Blut, aus wirklichen Wunden. Und nicht nur die Menschen waren zerstört; auch die Natur schien den Kampf aufgegeben zu haben, unter einem immergrauen Himmel gediehen nur noch die ausdauerndsten Pflanzen, und die Tiere schienen sich in Höhlen verkrochen zu haben, aus denen sie nie wieder aufgetaucht waren. Auch die Menschen lebten am liebsten in Höhlen, nur dort schien es noch so etwas wie Sicherheit zu geben. Die Familien waren zerstreut, Staaten existierten nicht mehr, Männer und Frauen hatten sich, ohne es zu wollen, voneinander getrennt; zu gefährlich schien das Zusammenleben, zu nahe der Ausbruch der Gewalt, zu fern Gedanken an so etwas wie Zuneigung, Liebe gar – nein, das waren alles auch nur Worte, Geschichten und Gefühle, die von der großen trüben Wolke verschluckt worden waren. Die Menschheit hatte sich selbst ausgerottet; nur leider hatte sie es überlebt.
Durch die Trümmerlandschaft trotteten auch drei Gestalten. Es waren Männer; sie hatten alle die gleiche Hautfarbe aus Asche, Schmutz und Hoffnungslosigkeit, ein trübes Grau, das sich kaum von der Farbe des grauen Himmels und der aufgewühlten Erde abhob. Wenn sie miteinander sprachen – was sie selten taten, es gab nichts mehr zu sagen und die Worte waren zu gefährlich –, taten sie das ein einer einfachen Gemeinsprache, an die sie sich fetzenweise erinnerten. Doch in einem aufflackernden Moment des Übermuts hatten sie sich irgendwann – es gab auch keine Zeit mehr – Namen gegeben. Der jüngste von ihnen hatte angefangen. Niemand, auch er selbst wusste nicht, woher die Idee gekommen waren. Er hatte, wie er das häufig tat, des Nachts in den Himmel geschaut und darauf gewartet, dass sich einzelne trübe Sterne zeigten; und als sich der erste mit einem schwachen Funkeln meldete, hatte er mit rauer, aschgrauer Stimme gemurmelt: „Caspar“ und auf sich selbst gezeigt. Dann hatte er ins Feuer gepustet, um das sie dichtgedrängt saßen, zu dritt. Er hatte herausgefunden, wie man aus bestimmten Steinen einen Funken erzeugen konnte, und später hatte er sogar aus Metallresten einen kleinen Apparat konstruiert, in dem man das Feuer mit sich tragen konnte. Aus seinem früheren Leben hatte er nur ein Fernrohr gerettet, das er ständig mit sich trug. Wenn er mit ihm in den Himmel schaute, sah er Figuren und Gestalten, und einmal meinte er sogar, einen fallenden Stern gesehen zu haben.
Kurz darauf war ein zweiter Stern am Himmel erschienen, und der zweite von ihnen, er war mittleren Alters, hatte hinaufgezeigt und hatte „Balthasar?“ gemurmelt, so als würde er den Namen anprobieren. Und dann hatte er genickt und den Namen wiederholt, „Balthasar!“ und hatte wieder nach unten geschaut; er grub gern in der Erde und konnte aus bestimmten Wurzeln eine Salbe reiben, die einfache Wunden heilte. Auch er hatte aus seinem früheren Leben in Ding mitgebracht. Es war ein empfindlicher und komplizierter Apparat, er nannte ihn mit einem großen Wort "Mikroskop". Und wenn man das Gerät richtig benutzte, konnte man damit kleine Dinge ganz groß sehen und Muster erkennen, die man mit bloßem Auge niemals wahrgenommen hätte.
Erwartungsvoll sahen beide nun den dritten von ihnen an. Es war ein alter Mann, er ging gebeugt, man sah ihm an, dass er ständig Schmerzen hatte. Aber er konnte ein Lied singen, ein einziges, es hatte nur  ein Wort, das sie nicht verstanden: „Gloria“, hieß es. Er hatte sie alle die Melodie gelehrt, und wenn die Trübheit sie überwältigte, sangen sie gemeinsam ihr raues „Gloria“. Aus seinem früheren Leben hatte er ein zerrissenes Buch mit einigen wegen bedruckten Seiten mitgebracht. Niemand von ihnen konnte sie lesen, sie waren auch zu nichts nutze, und anfangs wollten die anderen beiden das Buch verbrennen. Doch der alte Mann hatte sich daran festgeklammert und sie mit seinen alten grauen Augen durchdringend angeschaut, und sie hatten abgelassen. Jetzt sahen sie zu dritt nach oben, und tatsächlich: Soeben war ein dritter Stern aufgetaucht, sie standen jetzt alle in einer Reihe. Und der alte Mann murmelte, wie im Traum: „Melchior“. Caspar, Balthasar, Melchior – sie wiederholten die Namen mehrmals andächtig; und keiner von ihnen wollte schlafen in dieser Nacht aus Angst, dass sie ihre Namen wieder verlieren würden.
Doch die drei Männer vergaßen ihre Namen nicht, auch nicht nach einem langen, seltsam erholsamen und traumlosen Schlaf. Am nächsten Tag ging jeder seinen gewohnten Tätigkeiten nach – Caspar machte kleine Experimente mit Asche und verschiedenen Wurzeln, die Balthasar ausgegraben und unter seinem Apparat beschaut hatte; und Melchior summte sein Lied und gab ihm von Zeit zu Zeit kleine Abwandlungen in der Melodie. Es war ein friedlicher Tag; keine Eisstürme, keine Regenfluten, keine Begegnungen mit herumstreifenden bewaffneten Horden. Und als die Nacht kam, schauten sie wie auf Verabredung wieder alle gemeinsam zum Himmel hinaus. Und tatsächlich, nach einiger Zeit tauchten, einer nach dem anderen, die drei Sterne auf; und dann kam, zu ihrer großen Verwunderung, noch ein vierter, der alles überstrahlte und in ein geradezu überirdisches Licht tauchte. Als Caspar ganz genau durch sein Fernrohr sah, merkte er, dass dieser vierte Stern sich bewegte. Es war, als würde er, sehr langsam und sehr majestätisch, ihnen eine Richtung weisen, in der sie ihm folgen sollten. Und ohne ein Wort zu verlieren, packten sie ihre wenigen Habseligkeiten und Herzensdinge ein und folgten ihm, mit suchenden Schritten, durch die nächtliche Trümmerlandschaft. Was hatten sie zu verlieren, außer dem Stern? Ein Ort war wie der andere, und Gehen war besser als Nichtstun, Gehen war geradezu tröstlich. Es erinnerte sie vage daran, dass man damals, vor dem Großen Trauma, auch ständig, irgendwie, auf dem Weg gewesen, auf einer Suche nach irgendetwas; nach was aber, das hatten sie vergessen.
Bald gewöhnten sie sich daran, am Tage zu schlafen und des Nachts dem Stern zu folgen. Er blieb ihnen treu, auch an den trübsten Tagen und bei den schlimmsten Unwettern leuchtete er durch alle Wolken hindurch und ging ihnen voran. Ihr tragbares Feuer gab ihnen Wärme in kalten Nächten, die Salbe linderte die Beschwerden des langen Gehens, und wenn sie den Mut zu verlieren schienen, sangen sie vereint ihr „Gloria“. Und dann war da noch das Kamel. Eines Abends, als sie aufgewacht waren, stand es da, klobig, grau und stinkend. Es bewegte seine großen Kiefer, als ob es kaute, und seine aschgrauen Augen schauten sie an, einen nach dem anderen, als würde es ihre Namen lernen: Caspar. Melchior. Balthasar. Von da an hatte es sie begleitet, am Tag hatte es geruht (ob es schlief, wussten sie niemals), des Nachts trottete es neben ihnen. Manchmal trug es den alten Melchior zwischen seinen schwankenden Höckern, und niemals sahen sie, dass es aß oder trank. Und weil es ihnen so recht erschien, wollten sie ihm einen Namen geben. Und der erste sagte, das Wort kam ihm einfach so in den Sinn, als er zu den Sternen aufsah: „Geduld“; und der zweite sagte, den Blick auf den Boden gerichtet, „Patientia“; und der dritte sah zwischen ihnen allen hin und her und sagte dann, er sang es fast: „Makrothymia“. Aber meist nannten sie es nur, wenn es unbedingt sein sollte: Kamel.
Sie waren nun schon viele Tage unterwegs gewesen, die Trümmerlandschaft hatte sich kaum verändert, und der Stern war bei ihnen geblieben wie das Kamel. Doch dann kam die eine Nacht, die alles veränderte. Es war besonders hell, und der Stern schien kräftiger zu leuchten als jemals zuvor, als er plötzlich über einer Hütte stehenblieb. Es war wohl früher einmal ein kleines Haus gewesen; man sah noch Spuren, beinahe von Farbe, an eingestürzten Wänden. Es lagen sogar noch Dinge da, kleine Geräte, sie wussten nicht genau, wozu sie einmal gut gewesen waren: ein kleines Pferd aus Holz, eine winzige menschliche Gestalt, sie hatte nur noch ein kullerndes Auge und zerzauste Locken. Der alte Mann hörte besonders gut hin, seine Augen waren schon trübe; und es schien ihm beinahe, als wehte durch die Luft etwas wie – ein Kinderlachen?
Als sie zögernd die Hütte betraten, wie waren sie überrascht! Sie sahen – aber beinahe wussten sie im ersten Moment gar nicht, was sie eigentlich sahen, so überwältigt waren sie. Sie sahen: eine Frau. So lange schon hatten sie keine Frau gesehen, die Frauen lebten in ihren eigenen Hütten und Höhlen, scheu und immer auf der Hut. Und diese Frau war jung, und sie war so schön, so unvorstellbar schön – sie hatten vergessen, sie alle drei hatten vergessen, dass es das gab: Schönheit! Und die junge Frau lächelte sie an, sehr vorsichtig und beinahe so, als hätte sie das auch eben erst wieder gelernt. Auf ihrem Arm hielt sie – beinahe hätten sie es übersehen vor lauter Schönheit! – ein winziges Kind, ein Baby, es sah aus, nein: Es war wirklich gerade erst auf diese Welt gekommen, in dieser Hütte, unter diesem grauen Himmel inmitten der trostlosen Trümmerlandschaft! Kinder, sie hatten auch vergessen, dass es Kinder gab; die Kinder waren unter denen gewesen, die das Große Trauma am schnellsten dahingerafft hatte. Und niemand hätte sich vorstellen können, nun, nach dem Großen Trauma, noch jemals Kinder zu machen und aufzuziehen; wozu denn unter der großen Trübnis, und wer weiß, vielleicht hätte man Monster geschaffen, die all die Katastrophen und Sünden der Vorzeit in sich getragen und weiter vererbt hätten? Aber dieses Baby hatte eine rosige Hautfarbe, und die Schönheit seiner Mutter schien auf ihm weiterzustrahlen. Es schrie ein wenig, und dann schaut es sie an, einen nach dem anderen, genau so, wie das Kamel es getan hatte: So, als seien sie, jeder für sich, etwas ganz Besonders. Und die drei Männer spüren, wie ihre Knie weich werden, und wie in einem gemeinsamen Atemzug sinken sie auf die Knie und falten die Hände, so als wäre das die einzige Möglichkeit, um ihr klopfendes Herz im Inneren zu zähmen und sich selbst zusammenzuhalten. Dann murmeln sie ihre Namen, denn es ist das Kostbarste, was sie haben: Caspar. Melchior. Balthasar. Als sie wieder aufblicken, sehen sie, dass noch ein Mann im Hintergrund steht, sein Schatten fällt schützend über die kleine Gruppe. Er hat große Hände und ein einfaches Gesicht; zu seinen Füßen liegen einige Werkzeuge, sie sehen aus, als seien sie sein Schatz, dasjenige, was er gerettet habe aus dem Großen Trauma. Maria aber hat nur das Kind; aber sie hat, das wissen sie, den größten Schatz von allen.
Und während sie so da knien und wieder aufstehen und das Kind ansehen, kommen ihnen Fetzen von Geschichten in den Sinn. Es ist ihnen, als müssten sie dem Kind nun Geschenke geben, etwas ganz Besonderes. Und jeder von ihnen überlegt, ob er dasjenige gibt, was ihm das Liebste ist: Caspar das Fernrohr, Balthasar das Mikroskop, Melchior das Buch. Und sie hätten all das gern gegeben, ohne einen Moment des Zögerns; aber irgendetwas in ihnen wehrte sich dagegen, eine dunkle Ahnung von Unheil. Und so geben sie stattdessen das Kästchen mit dem Feuer und die heilende Salbe mit den Pflanzen dazu. Und Melchior lehrt sie alle das Lied singen, in ihren ganz verschiedenen Stimmen, und bald ertönt ein wahrhaft prächtiges „Gloria, gloria, gloria!“ fremd und heimelig durch die trübe Nacht. Das Kamel hat sich auch heingedrängt und trinkt ein wenig aus dem Wasser, das ihm Maria gleich hingestellt hat, und das Kind strahlt auch das Kamel an.
Gern würden die drei Männer zum Abschied dem Kind einen Namen geben: „Hoffnung“, denkt Caspar, und „Spes“ denkt Balthasar, und „Elpis“ denkt Melchior, ohne dass sie wissen, woher die Wörter kommen. Aber dann sprechen sie sie nicht aus, sondern neigen ihre Häupter und verlassen die Hütte. Die Nacht umschließt sie, und während sie gehen, spüren sie, wie sich in ihnen etwas regt; Worte quellen empor, es ist wie der Anfang einer – neuen Geschichte? Der Stern aber bleibt über der Hütte, und drei demütige Gestalten verschwinden, ein erhaben scwhankendes Kamel im Schlepptau, im Dunkel der Geschichte.


Zuhause


Welche Geschichte? -
Meditationen zur Weihnachtsgeschichte (2022)


Exposition: Zurück zu den Quellen!

Irgendwie kommt die Weihnachtsstimmung dieses Jahr nicht recht in Schwung. Zwar drängen sich die Leute auf den zum Glück doch hell beleuchteten Weihnachtsmärkten, und sie trinken Glühwein, als gäbe es kein Morgen und keine Klimakrise und keinen Krieg. Aber der Inhalt des Festes, man muss mühsam daran erinnern: der eigentlich ein christlicher ist, und das ist keine Schande, sondern Tradition und Geschichte und Recht auf Religionsfreiheit – er scheint dahin, entschwunden, und an Heiligabend werden die Nachrichtensprecher darauf hinweisen, dass einige Leute glauben, um diese Zeit herum sei ein Heiland geboren (man möge tolerant sein, schwingt mit). In der sehr internationalen Firma meines Mannes darf man nur die „season“ feiern. Und noch nicht einmal, wenn eine wirklich sensationelle Weihnachts-Lichter-Show wie in Berlin-Charlottenburg im Hintergrund läuft, weckt das auch nur ein mildes Interesse, von diversen vereinsamten Krippen-Arrangements umgeben von Leuchttürmen voll Glühwein und Bratwürsten ganz zu schweigen. Weihnachten ist Glühwein+Geschenke+Urlaub, wenn man Glück hat mit Schnee überpulvert. Lasst die Engel nur singen, es hört sie sowieso keiner mehr.

Das tut mir ein wenig weh, auch wenn ich persönlich nicht gläubig bin und das weder für einen Vorzug noch für einen Geburtsfehler halte, es ist einfach so. Aber ich mag gute Geschichten. Und die Weihnachtsgeschichte, das habe ich schon als Kind gespürt, ist eine verdammt gute Geschichte. Selbst wenn unser rhetorisch eher unbegabter Pfarrer sie in der kargen Siedlungskirche verlas, kribbelte irgendetwas in mir, ich wollte sogar eine Zeitlang nur Pfarrerin werden, um die Geschichte vorlesen zu dürfen, von den magischen Anfangszeilen an: „Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde.  Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger von Syrien war“ – wie wunderschön das klang! Luther war ein wirklich guter Poet, die Weihnachtsgeschichte ist reine Prosalyrik, der Rhythmus der Sätze, die Worte, die Tempi – einfach alles von schlafwandlerischer Richtigkeit (wer nur eine Silbe daran ändert, schnöder Verständlichkeit wegen, gehört poetisch ausgepeitscht!).
Nun ist keine Pfarrerin aus mir geworden, und das ist auch gut so. Und ich gehe auch nicht mehr in die Kirche an Weihnachten, unter anderem deshalb, weil ich so ziemlich alle besseren und schlechteren Deutungen der Geschichte gehört habe und ein wenig Predigt ja nun doch sein muss bei uns Protestantinnen. Aber so sehr ich die Weihnachtslieder vermisse, und auch den magischen Moment, wenn am Ende des Gottesdienstes beim Oh du fröhliche alle Lichter ausgehen (echte Kerzen hat der Brandschutz, einer der neueren apokalyptischen Reiter im Dienste der allmächtigen Bürokratie, gleich neben dem Datenschutz) – nee, Kirche muss nicht mehr sein. Aber irgendwie muss ich trotzdem weiter, alle Jahre wieder, die Geschichte abklopfen, für mich. Denn die Geschichte ändert sich nicht, aber wir ändern uns in und mit ihr.
Dieses Jahr nun fiel mir dabei auf, wie bemerkenswert wenig in der Geschichte eigentlich die Rede ist, die ja schließlich so ziemlich die Hauptperson ist, von dem stummen Darsteller in der Mitte einmal abgesehen: Sie spricht nicht, und man weiß nichts von ihr, außer dass sie in dieser Nacht irgendwo in einem Stall – „denn sie hatten keinen Raum in der Herberge“ – auf etwas ungeklärt Weise ein auf etwas ungeklärte Weise gezeugtes Baby zur Welt gebracht hat, und nun steht alle Welt da und gafft, samt Ochs und Esel, und zweitausend Jahre später wird immer noch in ihrem Namen gefeiert, und keiner spricht von oder mit ihr. Gerechterweise muss man aber sagen, dass das für alle Teilnehmer am ersten und ursprünglichen Krippenspiel gilt: Von keiner weiß man besonders viel. Die Figuren der berühmtesten und vielleicht einflussreichsten Geschichte aller Zeiten – unbeschriebene Blätter, allesamt, vom Ochs und Esel bis zum König aus dem Morgenland.
An dieser Stelle habe ich immerhin nicht zuerst Wikipedia aufgeschlagen, sondern habe, ordentlicher philologischer Schulung gemäß, zu den Grundtexten gegriffen und, schön der Reihe nach, die vier Evangelien durchgesehen. Nun ist meine religiöse Grundausbildung, heutigen Maßstäben nach zumindest, gar nicht so schlecht; was ich jedoch nicht wusste, ist, dass die Geburt Christi eigentlich in zwei von den vieren praktisch keine Rolle spielt. Johannes: kein Wort, nicht eines. Markus: Beginnt mit Johannes, Jesus taucht aus dem Nichts auf und wird getauft, rekrutiert danach sofort die ersten seiner Jünger. Matthäus: immerhin die Kurzfassung, für eilige Leser; man muss allerdings über die Aufzählung der Geschlechter am Anfang (Männer zeugen Männer, 14 Generationen lang, etwas befremdlich) hinwegkommen. Außerdem, interessantes Detail: Josef erwägt kurz, Maria zu verlassen, immerhin ist sie schwanger, und nicht von ihm. Außerdem treten nur hier die Weisen aus dem Morgenland auf, in einer Art Intrigengeschichte.
Langfassung der Geburt und somit Text-Grundlage für Weihnachten: einzig bei Lukas. Dafür aber gleich erzählerisch elaboriert: mit Rahmen, historischer Einleitung und Parallelgeschichte (Zeugung und Geburt des Johannes, vertrauliches Miteinander von Maria und Elisabeth) sowie Höhepunkten mit mehrfach erscheinenden Engeln. Die eigentliche Geschichte, mit dem vertrauten Anfangssatz, nimmt den ersten Teil von Kapitel 2 ein. Danach geht es wiederum im Zeitraffer durch Jesu Kindheit und Jugend und erste Wundertaten. Nun muss man wissen, dass Lukas nach allem, was man weiß (eher wenig) oder vermutet (viel), ein gebildeter Mann war; ziemlich sicher griechischer Herkunft, er schreibt auch in der griechischen Gemeinsprache, steht wohl der christlichen Urgemeinde nahe und war, vielleicht, als Arzt mit Paulus auf Reisen (da wird es aber schon sehr spekulativ). Als gebildeter Mann führt er sich zu Beginn auch ein: Nicht als Verkünder heiliger Worte, sondern als seriöser Geschichtsschreiber, „Diener des Worts“ (wie wunderschön!), der „alles von Anbeginn mit Fleiß erkundet“ hat, um es nun einem gewissen Theophilus (dem, der Gott liebt) gewissenhaft zu berichten. Und das tut er dann auch, in immer noch knappen Sätzen, so, wie man eben damals Geschichten erzählt hat, als das Wort des Erzählers noch galt und kein Mensch an so komplizierte Dinge wie Exposition, psychologische Motivation, erzählerisches Detail oder Figurencharakteristik gedacht hat. Die Verse geben nur das Gerüst einer Geschichte, die von einer Reise handelt, die angeordnet wurde von der Steuerbehörde (mit besonderer Schikane: Rückreise an den Geburtsort, siehe apokalyptische Reiter der Bürokratie); von den dramatischen Umständen einer nicht ganz alltäglichen Geburt, die durch die Erscheinung eines Engels auf einem Felde magisch überstrahlt wird. Und die kanonische Version, wie sie Gottesdienstbesuchern Ende des 20. Jahrhunderts in noch unbereinigter Fassung in alljährlicher weihnachtlicher Lesung zugemutet wurde, endet mit den Worten: „Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen“. Und schon als Kind bewegt sich an dieser Stelle ganz am Ende der Lesung etwas in meinem Herzen, es hüpfte ein wenig in mir (das Motiv wird noch wiederaufgenommen werden), und ich verstand nicht warum, aber eben deshalb habe ich mir diese immer gemerkt. Was für ein erzählerischer Trick! Welch Formulierungskunst! Und, wichtiger noch: Welch Lebensweisheit!
Am Ende also ist immerhin von Maria die Rede. An dieser Stelle setzt mein diesjähriges Weihnachtsprojekt an, für Theophilia und alle, die noch über eine so alte Geschichte nachdenken mögen, egal, ob sie daran glauben oder überhaupt etwas glauben oder nicht vielmehr gar nichts und an gar nichts. Ich lasse Maria sprechen.

I. Maria erzählt die Weihnachtsgeschichte

Ich bin eine Frau. Ich lebe in Nazareth und bin jüdischen Geschlechts, wie meine Eltern und meine Großeltern und alle unsere Vorfahren. Nazareth ist eine kleine Stadt, wir kennen uns alle hier. Die Römer bestimmen über uns, aber wir haben einen eigenen Priester und ein Bad. Man hat mich vermählt mit Josef, einem Zimmermann und Baumeister aus Betlehem, ich denke, er ist ein guter Mann. Denn er hat mich nicht verlassen, trotz allem. Es ergab sich nämlich so. Eigentlich wollten wir noch heiraten, bevor wir uns auf die Wanderung nach Betlehem machten, weil wir uns alle zählen lassen mussten, das war eine Anordnung von den Römern. Aber dann hatte ich eines Tages, es war schon einige Monate zuvor, diese – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, der Priester sagt, es sei eine Erscheinung gewesen und ich sei gesegnet, denn Gott habe zu mir gesprochen, aber das kann doch nicht sein, ich bin doch nur eine Magd? Aber ich erzähle es einfach, wie es gewesen ist: Eines Tages erschien diese Gestalt, als ich in meiner Kammer allein war; sie strahlte so, wie ich es noch nie gesehen habe, nicht der heißeste Sommertag in der Wüste hat so ein Strahlen, ich habe mir die Augen zugehalten und mich sehr gefürchtet, ich dachte, jetzt ist alles vorbei und ich sterbe, bevor ich noch geheiratet habe. Aber dann kam diese Stimme, ganz sanft war sie und doch irgendwie ganz anders als alle Stimmen, die ich kenne. Und sie grüßte mich, sie sprach mich einfach an, mit meinem eigenen Namen: „Gegrüßet seist du Maria!“ Und, ich weiß nicht mehr genau, wie es dann weiterging, es ging alles so schnell. Ich traute mich gerade ein wenig durch die Finger zu schauen, aber es war immer noch viel zu hell; und die Stimme sagte etwas davon, dass ich einen Sohn gebären würde, und er würde ein König sein über das Haus Jakob und in alle Ewigkeit – und ich weiß nicht mehr, wo ich den Mut hernahm, aber ein Sohn? Wie sollte denn das zugehen, ich wusste zwar nicht genau, wie es kommt, dass die Frauen schwanger werden und Kinder gebären, so wie meine Base Elisabeth, aber ich wusste, dass sie zuerst verheiratet wurden, und ich war doch eine Jungfrau? Aber die Gestalt wusste auch von meiner Base Elisabeth, die schwanger geworden war, obwohl sie doch schon alt war, und alte Frauen bekamen keine Kinder mehr; alle hatten schon jahrelang mit dem Finger auf sie gezeigt und sie als unfruchtbar gescholten, es war furchtbar schwer für sie gewesen, aber dann war ein Wunder – und genau das sagte die Gestalt jetzt, nämlich: Für JAHWE sei nichts nun unmöglich, und was blieb mir? Ich kniff die Augen noch fester zu und sagte, eigentlich ohne nachzudenken, es sagte einfach so aus mir heraus: „Ich bin des Herren Magd, es geschehe, wie du gesagt hast“. In dem Moment war ich nämlich auf einmal ganz sicher, dass es genau so kommen werde: Ich würde schwanger werden, und ich würde ein Kind gebären, und es würde ein ganz besonderes, ein wundervolles Kind werden.
Ich konnte es gar nicht warten, Elisabeth diese frohe Botschaft zu bringen, sie würde sie sicher verstehen. Und ich machte mich gleich auf den Weg übers Gebirge, um sie zu besuchen. Es war ein anstrengender Weg, aber es machte mir nichts aus. Und als ich ins Haus des Zacharias kam, ihres Ehemanns, der kein Wort mehr gesprochen hatte, seit sich so unerwartet ihr Bauch rundete, obwohl sie doch alt war und unfruchtbar; als ich in ihr Haus kam, saß sie in der Kammer, ihr Bauch war schon ganz kugelrund und riesig, und sie bewegte sich nur schwer. Aber als sie mich sah, da bewegte sich das Kind in ihrem Bauch, ich sah es ganz genau, und Elisabeth merkte es auch, und sie begann zu strahlen, ganz ähnlich wie die Gestalt, aber nicht so hell, und sie grüßte mich mit den gleichen Worten: „Gebenedeit bist du“, sagte sie, und dass ich die Mutter des Herrn und Königs sein werde, und wie das Kind in ihrem Leib vor Freude gehüpft habe, weil ich zu ihr gekommen sei, ich, die Mutter des Heilands! Und ich sei selig, selig sei ich, weil ich geglaubt habe nämlich, und genauso werde es kommen!
Ich blieb dann bei ihr, bis es soweit war und sie ihren Sohn gebar. Johannes, so wollte sie ihn nennen, und alle wunderten sich, weil doch niemand in der ganzen Sippe diesen Namen trug. Aber Zacharias, der all die Monate geschwiegen hatte, schrieb auf ein Täfelchen, dass sein Name Johannes sein solle – und gleich danach konnte Zacharias auf einmal wieder sprechen, und er dankte und lobte Gott und konnte gar nicht wieder aufhören. Ich musste dann schnell wieder zurück nach Nazareth, wo Joseph ja auf mich wartete. Aber inzwischen konnte man das Kind schon sehen in meinem Bauch, es wuchs jeden Tag, auch wenn es noch nicht hüpfte. Natürlich war Joseph sehr erschrocken, als er das sah, wie alle, auch meine Eltern und die Nachbarn, es war furchtbar. Und ich glaube, er wollte mich nicht mehr zum Weibe nehmen, aber dann hatte er einen Traum, das hat er mir erzählt. Ihm erschien nämlich auch eine strahlende Gestalt, und sie sagte ihm, dass sich mit mir und meinem Kind die alte Prophezeiung erfüllen werden, dass aus dem Hause Davids – denn Joseph war aus dem Stamme Davids, des Sohnes Abrahams –, dass sich also die alte Prophezeiung erfüllen werde, durch ihn und mich und das Kind, das der Heilige Geist gezeugt habe. So oder so ähnlich sagte er, und Joseph sagte mir: Als er das gehört habe, da habe er einfach nicht anders gekonnt – er musste es glauben, er habe es geglaubt, und er würde sich mir antrauen, und wir würden das Kind bekommen, so wie es geschrieben stünde.
Und dann mussten wir uns schon bald auf die lange Reise machen, obwohl das Kind inzwischen schon groß war in meinem Bauch und viel hüpfte, aber es war doch eine Anordnung der Römer. Es war ein langer Weg, und als wir endlich in Betlehem ankamen und bei der Herberge klopften, da hatten sie kein Bett mehr für uns. Ich war so erschöpft, dass wir einfach zum nächsten Stall gingen, er hatte eine Krippe für das Vieh mit weichem Stroh, und durch das Dach leuchteten die Sterne hinein. Einer leuchtete besonders stark, und ich sah ihn die ganze Zeit an, auch als dann das Kind nach draußen drängte und die Schmerzen so stark waren, dass ich schreien musste, aber Joseph hielt meine Hand die ganze Zeit, und der Stern strahlte beinahe so hell wie die Gestalt, und Esel und Ochs sahen so komisch über die Stallwand hinein, dass ich beinahe lachen musste. Dann ging alles ganz schnell, und das Kind war so – wundervoll, so voller Strahlen, so vollkommen, so friedlich und zufrieden, dass wir es nur die ganze Zeit anschauen konnten.
Wir wickelten es dann in saubere Tücher, die ich mitgebracht hatte, Elisabeth hatte sie mir gegeben, und legten es in die Krippe, es passte genau hinein und lag da und strahlte. Auf einmal waren dann Leute da, es waren wohl Hirten, und sie sagten, es sei ihnen eine Gestalt erschienen, ganz hell und strahlend, und sie habe ihnen gesagt, dass hier, ganz in der Nähe, der Heiland geboren sei, der seit jeher verkündete Messias, und sie sollten allen davon erzählen und Gott loben für seine Gnade! Sie würden ihn daran erkennen, dass er in Windeln gewickelt in einer Krippe liege, habe die Gestalt noch gesagt; und nun hätten sie ihn doch wirklich und wahrhaftig gefunden! Aber jetzt müssten sie gleich wieder los, denn sie müssten die Geschichte allen anderen erzählen, das habe ihnen die strahlende Gestalt geboten; und dann seien noch mehr strahlende Gestalten erschienen, eine ganze Herde, und sie hätten gesungen, wie im Gottesdienst, aber viel, viel schöner. Und wahrscheinlich würden ihnen die Leute nicht glauben, und so war es dann auch: Viele glaubten ihnen nicht. Aber diejenigen, die fest an Gott glaubten, so wie Joseph, und so wie ich auch, die glaubten ihnen. Und ich, ich habe mir jedes Wort gemerkt, und ich denke oft daran. Das Kind wächst jetzt schon, und das Strahlen wird immer stärker, und ich fürchte mich sehr vor dem, was ihm bevorstehen mag, weil es doch es so wunderbares Kind ist. Aber immer, wenn ich an die Worte der Hirten denke, hüpft es immer noch in meinem Herzen.

Zwischenspiel mit Zweifeln

Na gut, ich selbst war nicht zufrieden mit der Geschichte. Auf das Mark reduziert war sie einfach besser als auserzählt. Aber das Lustige war, dass sie der Kollegin noch zu christlich erschien; offensichtlich wurde sie ihren Ursprung bei aller Profanisierung und Veralltäglichung nicht ganz los. Deshalb, so beschloss ich, musste ein neuer Mythos her. Ein Mythos der Vernunft, über die Idee war ich vor langer Zeit ganz begeistert gewesen, als sie mir in meinem Proseminar (bei meinem Lieblingslehrer natürlich) das erste Mal begegnete; das schien mir unmittelbar einleuchtend und genau das, was die Zeit brauchte. Die Zeit braucht es immer noch, wahrscheinlich mehr als zuvor, aber inzwischen hat sich das „Narrativ“ vorgedrängt, was mindestens genauso wirksam ist, und mindestens genauso missbräuchlich eingesetzt werden kann; und ein wenig illustriert es Allgegenwärtigkeit der kognitiven Distanz, dass eine Zeit, die öffentlich ständig auf „die Wissenschaft“ und ihre heilige Objektivität schwört, das Narrativ inkorporiert hat, ohne auch nur einen Moment Verdacht zu schöpfen. Denn eigentlich sollte gerade der Alltagsverstand wissen, dass man jede Geschichte erzählen kann, wie man will; es wird immer eine andere.
Aber nun gut, ich beschloss, einen neuen, zeitgemässen Weihnachtsmythos zu kreieren, morgens beim Zähneputzen, der Zeit, in der all meine großen Ideen geboren und initial bebrütet werden. Es war aber nicht so, dass sich daraufhin Assoziationen willig eingestellt hätten, mein Zähneputz-Genius war offenbar nicht in Höchstform; etwas mühsam kratzte ich einige Anregungen aus anderen Mythologien zusammen, wie es alle anderen vor mir auch getan hatten, unter anderem die Verfasser der Evangelien. Und dann setzte ich mich während der langen vorweihnachtlichen Autofahrt – die im übrigen das Nächste zur Weihnachtsgeschichte ist, die die meisten von uns erleben, wir kehren zurück ins Dorf unserer Geburt, um uns zählen zu lassen - hin mit meinem Büchlein auf den Knien und versuchte, während draußen das regenverhangene Deutschland vorbeizog, eine zeitgemäße Weihnachts-Geschichte zu erfinden. Und weil ich mich schwertue damit, Dinge wegzuwerfen, zumal noch gar nicht gebrauchte, schreibe ich sie jetzt ab – obwohl sie mehr oder weniger nur mein Versagen dokumentiert. Wozu ich immerhin stehe, ist der Schlusssatz. Er ist aber erst das Ergebnis der Geschichte, und gar nicht so wenig Geschichten (meine jedenfalls) haben sogar vor allem diesen einen Zweck: Auf einen Schlusssatz hinzuführen, ihn zu entwickeln, der stehen-bleiben kann. Here comes:

II. Lucia schweigt

Eines Tages war sie einfach da. Sie hatte ein Kind dabei, aber sie wollte nicht sagen, wer der Vater war. Das Kind war kaum einige Monate alt, doch alle, die es sahen, konnten spüren, dass es etwas Besonderes hatte. Es war kein besonders hübsches Baby, eher wirkte es ein wenig altklug; und aus seinen Augen schien einen etwas aus unergründlichen Tiefen anzuschauen. Am auffälligsten aber war das Strahlen: Das Baby strahlte, als trage es ein Licht in sich, das niemals erlosch. Deshalb, so sagte seine Mutter, heiße es Lucia: diejenige, die das Licht bringe in dunklen Zeiten. Lucia wuchs ohne Geschwister bei ihrer Mutter auf, in einem kleinen Haus, das am Wald lag und einen Garten hatte. Ihre Mutter ließ sie von früh auf allein und frei herumstreifen, und Lucia unterhielt sich mit den Vögeln, den Tieren des Waldes und den sommerlichen Schmetterlingen, bevor sie mit den Menschen sprechen lernte. Und jedes Geschöpf wurde zutraulich und näherte sich, wenn es ihre Stimme hörte: Sie war sanft, aber klar, und etwas schwang melodisch mit bei allem, was sie sagte; es war, als ob auch ihre Stimme ein dunkles Strahlen hätte. Auch mit den Blumen sprach Lucia, im Herbst sammelte sie die Blätter, im Winter hauchte sie die Schneekristalle an, und im Frühling lief sie strahlend durch die blühenden Obstwiesen und lachte jeder Blüte ins Gesicht.
Spät erst lernte Lucia die menschliche Sprache, ihre Mutter hatte sie nie zum Sprechen gedrängt, sie verstanden sich auch so. Als sie ihre ersten Sätze sagte, stellte sich bald heraus, dass sie eine etwas wunderliche Eigenheit hatte: Sie sagte niemals ICH. Wenn sie von sich selbst sprach – das tat sie aber nur selten -, sagte sie „Lucia“, so, als sei sie sich selbst eine zwar vertraute, aber doch fremde Person. Und sie konnte nicht lügen, noch nicht einmal eine kleine höfliche weiße Lüge kam ihr von den Lippen. Wenn sie andere Menschen lügen hörte – sie wusste unfehlbar, wenn jemand log -, dann rannte sie weg und versteckte sich im Wald. Dort hatte sie eine Lieblingsstelle, es war beim Fluss, wo ein alter, etwas sonderlicher Fährmann gelegentlich Wandersleute in seinem Nachen über den Fluss setzte, wenn er zu viel Wasser trug. Der alte Mann lehrte Lucia, den Nachen zu lenken, wie man auf den Fluss hörte und wie man sich eine Flöte schnitzte. Von da an trug Lucia ihre Flöte immer mit sich, und wenn sie sich unwohl fühlte, spielte sie einfache Melodien darauf, die sich selbst ausdachte.
Als Lucia in die Schule kam, drängten die Lehrer die Mutter, mit dem Kind zum Arzt zu gehen; es sei doch sehr bedenklich und würde auch die anderen Kinder verunsichern, dass Lucia sich so seltsam benahm und niemals ICH sagte. Die Ärzte stellten viele Untersuchungen an, denen sich Lucia sanft und willig unterzog. Und am Ende sagten die Ärzte – aber man konnte spüren, wie verunsichert sie waren, das Strahlen hatte auch auf sie gewirkt, und sie konnten es sich nicht erklären -, dass etwas in ihrem Gehirn anders sei; sie sei eine hochsensible Person, überdurchschnittlich empathiefähig, was ja eigentlich etwas Gutes sei, aber – und der Nachklang des Satzes blieb in der Luft stehen, Lucia strahlte sie an, und die Mutter bedankte sich freundlich; nein, sie wollten keine Medikamente, wirklich nicht. Auf dem Heimweg spielte Lucia auf ihrer Flöte, es klang etwas anders als sonst, etwas komplizierter. Aber wie immer, blieben alle stehen, die sie hörten, und sahen ihr nach und fühlten in ihrem Herzen einen kleinen Sprung und gingen beschwingter weiter in ihren Alltag.
Lucia aber wuchs weiter auf, friedlich und ohne besondere Ereignisse. Sie ging jetzt häufiger zu den Menschen in der Stadt, auf den Straßen, vor allem zu den Alten in den Heimen, und hörte ihnen einfach zu. Und es war, als würden die Menschen in einen Spiegel sehen, der ihnen ihr Inneres zeigte, wenn sie mit Lucia sprachen; sie schütteten ihr Herz aus, und heraus kam alles Trübe, Bittere, Unverarbeitete, kamen nagende Sorgen und heimliche Wünsche geschwemmt, nahmen ungeheilte Wunden und schwärende Konflikte Gestalt an – und lösten sich auf. Denn Lucia hörte nicht nur zu; sie fühlte alles mit, man konnte es auf ihrem Gesicht ablesen, über das dunkle Wolken zogen und Stürme und Wellen brausten; aber am Ende glättete es sich wieder, das Strahlen kam zurück und man konnte gemeinsam schweigen. Oder noch ein wenig der Flöte lauschen. Oft war das schon genug.
Als Lucia die Schule beendet hatte und immer noch niemals ICH sagte und schon beinahe eine Art Berühmtheit erworben hatte, bat sie ihre Mutter darum, zu dem alten Fährmann in den Wald ziehen zu dürfen, und die Mutter drängte sie nicht und stimmte zu. So ging Lucia in den Wald zum Fluss, und die Wanderer kamen und viele andere, die von ihr gehört hatten; und Lucia setzte sie über, und hörte zu, und schwieg mit ihnen, und der Fluss rauschte dazu. Niemals fiel es ihr ein, bei dem, was die Leute ihr erzählten, nach Freud oder Leid zu unterscheiden. Natürlich gab es beides, und es gab auch Schmerz, so vielfachen Schmerz, der sie manchmal so sehr erfüllte, dass ihr ganzes Inneres in Flammen zu stehen schien. Und es gab Unrecht, das schrie laut in ihr, bis sie ihr eigenes Herz nicht mehr hören konnte; dann half nur noch die Flöte. Und es gab Bedürftigkeit und Einsamkeit, Verlorenheit in sich und der Welt, eine Leere, die nur durch die größte Stille zu füllen war, langsam und Atemzug für Atemzug. Es gab die vielen falschen Wünschen, die falschen Hoffnungen, die falschen Erwartungen, die wie Krebsgeschwüre um sich fraßen, besonders bei den jungen Menschen; aber am Ende waren das alles nur Worte. Und Lucia lauschte, wie nur sie es konnte, und ihr Herz wurde immer größer dabei in ihr und gleichzeitig, auf eine seltsame Weise, immer leichter. Und ohne helfen zu wollen, half sie, und ohne etwas geben zu können, gab sie das Allerwichtigste. Und immer noch sagte sie niemals ICH; und immer noch kamen die Tiere des Waldes zu ihr, und der Fluss rauschte sanfter und gleichmäßiger in ihrer Nähe.
Aber es war nicht zu vermeiden, dass ihre Berühmtheit wuchs draußen in einer Welt, die bis in die tiefsten Fernen des Weltalls blickte und die Struktur der Atome schauen konnte. Immer mehr Leute kamen, und es kamen die Kameras und die Reporter mit den großen Mikrophonen; es bildete sich sogar eine Art Sekte in ihrem Namen, die Lucianer. Sie zertrampelten den Waldboden und verscheuchten die Tiere und verpesteten die Luft mit ihren großen Fahrzeugen, und der alte Fährmann, der sie vor allerlei Zudringlichkeiten beschützt hatte, war gestorben, einen milden Alterstod. Und so geschah es, dass Lucia – es war zufällig an ihrem dreißigsten Geburtstag, aber das wusste sie nicht – verschwand. Der Fluss tönte anders an diesem Tag, es war, als ob er ihr Flötenspiel noch weitertrug, in einem fernen, immer schwächer werdenden Echo. Dafür erschien, und das sorgte für großes Erstaunen, auf den weltweiten großen social media-Plattformen ihr Manifest: Es begann mit einer Flötenmelodie, in der sich das ganze All zu spiegeln schien, getragen von dem gleichmäßigen Rauschen des Flusses; und ging dann sanft in ein Schweigen über, das in den Hörern weiterschwang. In ihrer Hütte fand man einen großen Stein, geformt wie eine Muschel, und es verbreitete sich die Kunde, auch in ihm könnte man den Gesang des Universums hören. Daneben lag die Flöte, doch nur diejenigen, die lange schon Lucias Beispiel gefolgt waren und ganz selten nur noch ICH sagten (ein kleines Ich hatte Lucia niemals verboten, sie hatte überhaupt nie etwas verboten oder geboten), konnten ihr Töne entlocken. Vor der Hütte lag der Nachen, und die Mutter wachte über die Hütte und Lucias Hinterlassenschaft; eine unauffällig ergraute Frau, der man das Leid und die Jahre ansah – bis auch sie eines Tages verschwand, genauso wortlos und plötzlich, wie sie gekommen war. Sie hinterließ nichts als eine Leere.

III. Intermezzo: Weiße Weihnachten. Eine Farbenlehre

Und damit zum dritten Anlauf, und keiner Geschichte. Sie hat mit dem Weißen zu tun, das wir uns alle bekanntlich an Weihnachten wünschen, und mit Grund. Denn was wären die Alternativen: Bunte Weihnachten? Oder trübe, schmutzige Weihnachten? Und das sind schon die beiden verschiedenen Arten von Weiß, die wir mit Goethe und der Farbenlehre und der Realität unterscheiden müssen: Weiß ist eine Farbe, die man auf Leinwände und alles Mögliche andere auftragen kann: bleiweiß auf weibliche Gesichter zum Beispiel, um gleich mit dem Anekdotischen zu beginnen, obwohl man schon früh weiß, dass es giftig ist und die Haut zerstört; aber wer schön sein will (weil er es nicht ist), muss bekanntlich leiden, und das Weiße ist das Weibliche ist das Schöne (ist das sexuell Attraktive), und in der Theatralischen Sendung wird ein weißes Negligé an eine Dame der schillernden Halbwelt verschickt, weil der sugar daddy ein „weißes Schäfchen“ in den Armen halten will, kein struppiges schwarzes Schaf. Von der seit der Bibel, Altes Testament, grassierenden Fixierung auf weiße Busen ganz zu schweigen, und es ist kulturhistorisch nicht uninteressant, dass das nun kein modernes Schönheitsideal mehr ist und durch den tiefgebräunten Busen (aber möglichst prall darf er gern weiter sein, notfalls auch chirurgically enhanced) wurde, aber das machen wir in einer anderen Farbgeschichte). Nein, weiß, als Farbe, wird gern aufgetragen: auf Wände zum Beispiel, die zwar dann irgendwie nackt sind, aber dafür kann man allerhand darauf spiegeln, und eine tabula rasa hat sich wohl auch noch niemand bunt vorgestellt. Papier hat man auch gern weiß (das von Natur aus eher schmutzigfarben ist), schon damit man hinterher etwas schwarz auf weiß nach Hause tragen kann (zum Schwarz-Weißen kommen wir aber später noch); und Goethe hatte zwar wenig überlieferte Schreibblockaden angesichts von weißem Papier (er war einfach klug genug zu wissen, wann man das Schreibwerk beginnen konnte und wann nicht), aber dafür eine Art Agoraphobie, wenn er weißes Briefpapier sah, das nur ganz wenig gefüllt war: Dann schreibt er gern (oder diktiert) irgendetwas, allein, damit der Platz nicht verschwendet sein möge. Na gut, vielleicht ist es wirklich eher eine Art horror vacui: Wo leeres Papier war, möge Wissenswertes sein. Und davon hat man ja genug, um jederzeit gern abzugeben.
Das aber ist das Farb-Weiß, und das ist das eher einfache Weiß (natürlich kann es schmutzig werden, aber das ist ein chemisches und kein metaphysisches Problem). Das andere Weiß hingegen ist das Leucht-Weiß, das Weiß der von Natur aus weißen oder klaren Dinge (das macht natürlich noch einmal einen Unterschied, zu dem wir auch kommen werden), das Weiß des Weihnachts-Schnees, der Schäfchen (ganz ohne weißes Negligé) und Tauben (eher weiß-lich), der Sommerwolken und des Dunstes, der Lilien und der Schneeglöckchen: Weiße Dinge, die von Natur aus strahlen vor – Unschuld, Reinheit, Klarheit und was der metaphysischen Weiß-heiten alle sind: Weiß ist die symbolischste aller Farben, gerade – oder vielleicht eher: weil? – sie eine unbunte Farbe ist (wie schwarz, natürlich. Aber auch grau). Paradoxe Begriffe sind nicht nur die interessantesten, sie sind auch die wahrsten (jedenfalls für Goethe), das lassen wir jetzt einfach mal so stehen. Nichts kann man hineindeuten in ein weiß, wie in die bunten Farben, mit ihren leidenschaftlichen Rots, den tiefsinnigen Blaus, den neidischen Gelbs, dem für immer verdorbenen Telekom-Magenta! Nein, die Symbolik von weiß springt einen jeden einfach an, und es ist gar nicht anders denkbar und fühlbar und ausdenkbar: Weiß ist rein. Unvermischt. Unbunt. Ungetrübt. Und rein ist, das kann man auch gern einmal ganz wörtlich ausbuchstabieren, unschuldig: Unberührt vom Schmutz der Welt, von der Leidenschaft der Farbe, von ihrer Entschiedenheit für das Eine und deshalb nicht das Andere, all den Wirrungen des Farbigen. Weiß ist vor jeder Wahl, vor jeder Entscheidung, vor jeder Festlegung (und damit auch vor dem Individuum, das nur nebenbei, und Brautkleider bleiben nur ziemlich kurz weiß). Am Anfang war, das hätte Goethe auch im Faust schreiben können, das Weiß; und danach erst kam die Tat, mithin: der Schritt ins Bunte, Trübe, Vermischte, Übergängliche. Weshalb das Weiße auch identisch ist mit dem Licht, und das Schwarze mit der Finsternis, und das ist gleichzeitig der Kern des Streits mit Newtons, der Goethes Farbenlehre so verdunkelt hat, dass es ihm bis ins Herz hinein finster wurde: Es ging ihm niemals um ein Physikbuch, sondern um eine – Meta-Physik der Farben als eines der Grundprinzipien und Grundbausteine (neben der Elektrizität beispielsweise oder dem Magnetismus), nach denen die Menschen Welt wahrnehmen und aus denen sie ihre Welt bauen; und vielleicht war sie sogar der wichtigste Baustein (man stelle sich eine unbunte Welt vor!). Und Meta-Physik im wörtlichsten, Aristotelischsten Sinne: Das, was neben und nach der Physik kommt, von der man selbstverständlich auszugehen hat; die Psychologie und die Ethik und die Ästhetik kommen, wie sich das gehört, danach, aber erst zusammen machen sie die ganze Farben-Lehre aus (und wie gerne würde man einmal eine Psychologie und Ethik und Ästhetik der Elektrizität lesen; eine Denk-Aufgabe für ein anderes Fest!). Und Goethe begann mit einem weißen Blatt, wie es seiner Meinung nach jeder verantwortliche Forscher tun sollte, also: mit der reinen, möglichst unge- und unbetrübten eigenen Wahrnehmung im eigenen Versuchsbau, mit Hilfe des eigenen, auch immer: individuell begrenzten Sinnesapparat. Und dann wurden viele, viele Blätter gefüllt, damit mit schwarz auf weiß nach Hause tragen konnte, was man beim Sehen gewahr geworden war, für andere Forscher zum An- und Nach-Sehen: Auf dass aus der Fülle der Wahrnehmungen die wissenschaftliche Welt erwachse, nicht aus der beliebigen Buntheit der Meinung, oder, sagen wir es polemisch: der definitiven Schwärze des mathematischen Beweises?
Das war das Eine, ein Streit um die Wissenschaftskultur, notwendig zwar, aber vielleicht doch nicht ganz so wesentlich. Das Andere aber war die Sache selbst, und damit die Frage: Was ist weiß? Und weiß, das konnte nun für Goethe einfach nicht anders sein, war unteilbar und unvermischt. Wäre es teilbar gewesen, wäre es einfach nur die Summe aller Farben, bei aller Liebe zu den Farben, ihrer Buntheit, Mischbarkeit, Übergänglichgkeit und ihrem Lobpreis in den großen Werken der Maler – dann würde es niemals Reinheit geben können. Mithin Unschuld. Mithin – ein Absolutes schlechthin, das eben nur als Unteilbares denkbar war. Weiß und Schwarz, das waren nicht nur einfach die beiden unbunten Farben, das war die Bedingung der Möglichkeit von Ur-Phänomenen schlechthin und mithin auch: von Polaritäten, für Goethe das Denk- (und natürlich gleichzeitig: Natur-)Prinzip schlechthin. Natürlich gibt es Vielfalt, die Farben sind der beste Beweis; und natürlich gibt es Einheit, denn dafür: Gibt es Weiß. Und zeigt nicht schon die Sprache mit ihren Redensarten des Schwarzen und des Weißen, das eben diese Polarität denk-notwendig ist? Wo es schwarze Schafe gibt, muss es auch weiße geben; wer schwarzmalt, kann auch weißmalen, dem Schwarzseher muss ein Weißseher (nein, kein Hellseher!) entgegenstehen. Die Farben aber entstehen an den Rändern des Idealen und Reinen. Dort, wo Weiß (und demzufolge auch: Schwarz) durch ein trübes Mittel geht, entstehen die komplementären Spektren; ein unbegrenzter Raum hingegen wäre immer weiß (oder immer schwarz), genauso wie die Ewigkeit, nämlich: unbestimmt. Und deshalb hat nicht nur Newton Unrecht (oder, genauer gesagt: nur halb recht); deshalb wollen wir weiße Weihnachten. Es möge, einmal nur, Unschuld herrschen und Reinheit. Das Schmutzig-Bunte des Alltags möge bedeckt sein von einer strahlenden Glanzschicht, auf der die Lichter tanzen können, licht und weiß. Nur auf dieser Folie des Unwirklichen kann das Wunder der Geburt entstehen, die die Buntheit wieder in die Welt bringt; und umso mehr strahlen der blaue Mantel von Maria und die exotischen Gewänder der Heiligen Drei Könige und sogar das gemütliche Grau des Esels. Weihnachten: ist die Geburt der Farbe aus dem Lichte (nicht aus einem Geiste).

IV. Medienwechsel: Vom Mangel an Weihnachtsfilmen

In den Medien wurde aber im Übrigen eher das Fehlen neuer überzeugender Weihnachtsfilme beklagt (dass Weihnachten kein Serienmaterial ist, dürfte übrigens auch dem härtesten Serien-Junkie einleuchten…). Nun ist es ja nicht so, dass man jedes Jahr einen neuen Weihnachtsfilm braucht, es ist ja gerade die Wiederholung, die man an Weihnachten schätzt. Und deshalb gibt es natürlich die unsterblichen Favoriten, die man auch gut mit alten Freunden vor dem Kamin ausdiskutieren und bewerten kann. Insgesamt ist aber wohl unbestritten, dass auch hier Hollywood die Nase vorn hat. Das mag mit meinem persönlichen Trauma zusammenhängen, das ich jetzt einfach mal das Pan-Tau-Trauma nenne: Ich hasse tschechische Märchenverfilmungen, genauso wie ich Pan Tau schon immer gehasst habe; unheimlich war das, genau wie die achso kindgerechten Märchen der Brüder Grimm (Horrorgeschichten, allesamt), und wenn es nicht unheimlich war, war es dumm, ästhetisch anspruchslos, sprachlich hirnlos und insgesamt von nicht zu überbietender Geschmackslosigkeit. Die Prinzen mit ihren Eisenherz-Figuren waren so dümmlich, dass man schon fast lieber einen hässlichen Zwerg geheiratet hätte, der hatte wenigstens einen Ansatz von Charakter; und in den Prinzessinnen-Kleidern wollte man nicht einmal begraben sein, so sehr sahen sie nach billigem Polyester und Bonbon-Rosa aus. Dazu noch eine ziemlich primitive Variante von Volkssozialismus und Umverteilung, an die man noch nicht einmal als Kind glauben mochte. Nein, dann liebe ordentliche, solide gemacht Hollywood-Filme, vorzugsweise nicht mit Menschen. Natürlich sind dann auch die Geschichten eher amerikanisch: Rudolph ist nicht nur ein Rentier mit einer roten Nase (und als solches ja ziemlich unbestreitbar niedlich, da kann man schon ästhetisch wenig falsch machen, das hat die Natur entworfen, die kann das!), sondern auch ein underdog, der von der Herde gemobbt wird (und ach, wer weiß die Namen, alle sieben, als da waren Binker und Blitzer und da hört es schon auf…), die nicht nur aus mehr Rentieren (immer noch niedlich), sondern bullies besteht. Das ist die amerikanischste aller Geschichte, neben der romantischen Liebeskomödie, zu der wir auch noch kommen, und das sagt ja auch etwas über das Mutterland der Demokratie, was niemand hören will, schon gar nicht zu Weihnachten. Oder der Polarexpress, den wir auch ziemlich mochten, als das Kind klein war: Denn Eisenbahnen funktionieren auch immer, und wenn sie dann noch durch Schneelandschaften zum Nordpol fahren, wo Santa mit seinen helfenden Elfen (helfende Elfen! Ach, wenn doch einmal ein tschechisches Weihnachtsmärchen so viel Sprachwitz gehabt hätte!) Tausende von bunten Päckchen verpackt, da möchte man doch gleich mitfahren. Vielleicht gäbe es sogar Glühwein an Bord? Na gut, eine große Hymne auf den Konsum, so what? Es kommen Eisenbahnen und Elfen vor und Schnee. Das reicht.
Was aber eigentlich beklagt wurde in dem vorweihnachtlichen Medienrauschen, war das Fehlen neuer romantischer Liebeskomödien, vorzugsweise mit getrennten Familienbestandteilen, die über Weihnachten zusammenfinden, auf dem Empire State Building am besten, alle eine schöne große Weihnachts-Patchwork-Kuscheldecke (bis die Nähte wieder reißen). Das Muster ist auch beliebig wiederholbar, man tauscht halt die Gesichter aus (oder die Flicken der Decke); und es hat wenig mit Weihnachten zu tun, außer – und damit kommen wir zum nächsten Punkt, denn:

V. Weihnachten weitererzählt: Scrooge, Maigret und the small things

Denn es gibt ja schon längst den Weihnachtsklassiker schlechthin, der gleichzeitig moderne Aufbereitung von biblischen Weihnachts-essentials in Erzählform und vielfacher filmischer Umsetzung ist, nämlich Charles Dickens A Christmas Carol. Wie immer ist Wikipedia eine verlässliche Quelle von Erleuchtung, und das nicht nur zur Weihnachtszeit: Dickens, so lerne ich gerade, erfand nämlich mit der Geschichte um 1843 mehr oder weniger das Muster der viktorianischen Weihnachtsfeierlichkeiten für die Zukunft – glücklich wiedervereinigte Familie, Weihnachtsbaum, Essen und Geschenke und natürlich: Weihnachtslieder. Dickens hatte vorher, nichts Neues unter den Weihnachtssternen, andere Weihnachtsgeschichten gelesen und eine Armenschule besucht; er hatte die Erinnerungen aus seiner eigenen, eher ärmlichen Jugend und er hatte eine Art schriftstellerisches Erfolgsgen. Die fünfaktige Erlösung des geizigen Ebenezer Scrooge (der Name allein! Terry Pratchett würde es nicht besser können!) ist auf den Punkt geschrieben, ein perfektes Script nicht nur für die öffentlichen Vorlesungen, die Dickens selbst gern übernahm, sondern alle folgenden Verfilmungen. Aber am liebsten ist mir und wird mir wohl auch immer bleiben: diejenige mit den Muppets. Scrooge ist der einzige Mensch in diesem metaphysischem Puppentheater, und alle, sogar die kleinen ärmlichen Ratten sind am Anfang menschlicher als er (könnte man einen Faust mit den Muppets verfilmen? Den zweiten Teil gar? Aber wer ist dann der Mensch, und wer ist dann Teufel?) Es ist die Geschichte eines alten reichen weißen Mannes, der am Ende seines Lebens eine Erfahrung macht, die sein Leben noch einmal völlig auf den Kopf stellt; Lebenswende, das ist offenbar ein wichtiger Bestandteil der modernen Weihnachtsgeschichte, die Möglichkeit eines Neuanfangs, verkörpert in der Figur – na gut, eines Frosches und eines noch kleineren Frosches, Tiny Tim, der nicht sterben wird, dieses eine Mal wird Tiny Tim nicht sterben! Es ist eine Geschichte von armen und reichen Leuten, Hirten und Königen; und natürlich sind die Armen die Guten, alles andere wäre nun wirklich zu viel verlangt an Weihnachten. Aber es ist nicht ihre Armut, die sie gut macht, und das wird oft verwechselt; es ist ihr Herz, das eine Hauptrolle spielt, es ist das Herz, wie es rein und unverdorben und weihnachtsweiß in Tiny Tim am lautesten schlägt. Und dass die Erscheinung – nun ja, drei Gespenster sind anstelle von Engeln des Herrn, was macht das schon für einen Unterschied? Es ist ein Weihnachtwunder, es geschieht mehrfach, und die Gespenster sagen: Fürchte dich sehr! – was ganz sicher die bessere Botschaft ist in unseren krisengeschüttelten Zeiten; wir sollten uns alle sehr fürchten. Und dazu können wir, ganz genau wie Scrooge und sein nächtlicher Besuch, ebenso gut in die Vergangenheit schauen wie in die die Gegenwart wie in die Zukunft -  kein Heil, nirgends. Außer, vielleicht, es geschieht eine große Wende? „Zeitenwende“ ist nun leider ein Wort, das in diesem Jahr sehr missbraucht wurde (es diente im wesentlichen der moralischen Rechtfertigung der Lieferung von Kriegsgeräten zum Töten anderer Leute). Ach, wenn man doch nur noch hoffen könnte! „Aber ganz ohne Hoffnung geht’s ja auch nicht“, schrieb eine Freundin zur Jahreswende.
Dann las ich, eher zufällig noch zwei weitere Weihnachtsgeschichte, wohlgewählte Geschenke anderer Freunde. Die eine war eine Maigret-Geschichte, und eigentlich mag ich Maigret auch nicht so gern, er ist aber nicht so schlimm wie Pan Tau. Man soll ihn auch nicht mögen, eigentlich, man mag ja auch Ebenezer Scrooge nicht. Maigret ist auch ein knurriger Einzelgänger und ein mittelalter weißer Mann, obwohl er verheiratet ist; aber er führt ein allzu alltägliches Leben mit seiner Frau, die ihn gewohnt ist, und man steht Weihnachten durch, wie man es jedes Jahr tut, nämlich allein, und das heißt, aus Gründen, die nur angedeutet werden: kinderlos. Gegenüber jedoch wohnt die Waise, und man weiß eigentlich gar nichts von ihr, aber aufgrund einer seltsamen nächtlichen Erscheinung – sie hat ihren realen Grund, dieses ist ein Krimi, und keine Gespenstergeschichte, aber immerhin: am Anfang ist sie eine nächtliche Erscheinung – lernt man, dass die Waise krank ist und so knapp gehalten wird, dass sie beinahe ihr einziges Weihnachtsgeschenk, eine Puppe, wieder verliert. Und Madame Maigret, diskret im Hintergrund wie stets, fragt ein wenig zu oft, wie es ihr denn gehe, dem armen Mädchen. Und als sie am Ende, immerhin, für eine Übergangszeit bei den Maigrets einziehen darf und vielleicht ein wenig mehr geliebt wird – macht Maigret deutlich, dass das eben nur ein Übergang sein wird. Nicht für immer. Keine Lebenswende, noch weniger eine Zeitenwende. Aber ein französisches Weihnachtswunder mit Kommissar.

Die zweite geschenkte Weihnachtsgeschichte (Claire Keegan, Small things like these) spielt in Irland und ist demgemäß auch deutlich näher an Dickens; sie ist sogar verdächtig nahe an Dickens, aber das fiel mir erst mit etwas Abstand auf (Wikipedia weiß es aber auch schon). Die Hauptfigur mit dem ebenfalls ziemlich charaktervollen Namen Bill Furlong ist ein Kohlenhändler in einer irischen Kleinstadt, der es zu sehr prekärem Wohlstand gebracht hat und fünf Töchter versorgen muss. Und wie er durch die vorweihnachtliche Nacht läuft und seine Kohlen ausliefert (man sieht ihn ein wenig als eine Art verrußten Kermit, mit fünf kleinen Schweinchen mit Zöpfchen), kommt er ins Nachdenken über die Routine seines täglichen Lebens, ihren Segen und ihren Fluch – Small Things Like These, heißt das Buch, und die Formel taucht genau in diesen beiden Formen auf: als Fluch und als Segen. Seine Erscheinung hat Furlong, als er das lokale Kloster besucht und zufällig über den dort offensichtlich systematisch betriebenen Kindesmissbrauch stolpert – minderjährige, häufig: gefallene Mädchen, die ausgebeutet und misshandelt werden. Und er weiß, dass er seinen eigenen, prekären Wohlstand ebenso wie die Zukunftschancen seiner eigenen Töchter riskiert, wenn er das eine Mädchen rettet, das ihm eher zufällig in die Arme gefallen ist; aber er weiß auch, dass er nicht einfach so weiterleben kann, als sei nichts passiert. Und so rettet er, wie Maigret, das eine Kind für alle Kinder, wenn auch, wahrscheinlich, nur für eine Übergangszeit; es kann eine Lebenswende sein, es kann eine Katastrophe werden, das lässt das Buch offen.

Coda: Vom ökonomischen Unsinn des Schenkens, oder: Fehlallokation von Ressourcen

Zwischendurch muss man dann doch mal in die Nachrichten schauen, nicht erst seit dem Weihnachts-Tsunami hat die Weihnachtskatastrophe ja eine gewisse Tradition. In meinem    neuen Lieblingsmedium, dem Economist (datengestützter Journalismus! Großartig!), sinniert jemand, man weiß nicht recht, ob ironisch oder nicht, aber es ist ja auch viel hübscher, wenn das in der Schwebe bleibt, ironisch-unironisch-ironisch, wie das Flackern einer Kerze – also, es sinniert jemand datengestützt über den ökonomischen Unsinn von Weihnachten. Das Hauptargument ist: Fehlallokation von Ressourcen, und das Wort muss man auch dreimal sagen, bis man es richtig hinbekommt, vor allem nach fortgeschrittenem Glühweinkonsum: Allo-alla-allotria-kation? Wie auch immer, es geht darum, dass man, wenn man schon jede Menge Geld ausgeben möchte für Zeug, das keiner braucht (das ist ein ziemlich altes Argument, das tritt der Artikel auch dankenswerterweise nicht mehr sehr breit), man das wenigstens besser organisieren könnte. Zum Beispiel besser über das Jahr verteilt: Denn so müssen alle Paketzusteller, Fotokalenderdrucker, Versandhäuser und Livestyle-Läden spätestens ab November massenhaft zusätzliches Personal einstellen, das sie dann entweder den Rest des Jahres nicht nur weiter bezahlen, sondern irgendwie sogar beschäftigen müssen; oder es herzlos hinterher wieder entlassen, geht nur schön wieder ins Prekariat, huschhusch, ihre helfenden Elfen! Ganz zu schweigen von den ganzjährlichen Empfindlichkeiten hochkomplex verflochtener Lieferketten, über die wir einiges gelernt haben in diesem Jahr der    vielfältigen ökonomischen Lektionen (Grundkurs Inflation war das andere). Am interessantesten aber war die Überlegung, wie man denn genau die Freuden des Schenkens und die des Beschenktwerdens – die zu unterscheiden sind, es besteht sogar der nur auf den ersten Blick kontraintuitive Verdacht, dass die ersteren größer sind, umfassen sie doch die Freuden des Auswählens, Einkaufens, des (vorübergehenden, aber das ist sogar besser) Besitzens und Sich-Gut-Fühlens in dem Bewusstsein, vage altruistisch gehandelt zu haben (belassen wir es bei: vage…), während die Beschenkten in der fatalen Lage sind, sich zu freuen und zu bedanken und dann für immer zu besitzen zu haben, was ein Entsorgungsproblem mit sich bringen kann – wie also diese unterschiedlichen Empfindungs-Gewinne zu verrechnen sind mit den realen Ausgaben: Sind es Investitionen in eine Beziehung, und wie wäre dann der Beziehungswert in einen Vergleich zum Geschenkwert zu setzen? Sind es Investitionen in die Volksgesundheit – Konsum macht glücklich, Glücklichsein ist gesunder als Unglücklichsein, es lebe der halbwegs kontrollierte weihnachtliche Kaufrausch? Aber wäre das Glück nicht größer, wenn sich jeder selbst seine Geschenke aussuchen würden, dann ersparten wir uns den Umtausch – schlimme Fehlallokation, ganz schlimm! Was letztendlich zu dem wirklichen und nicht nur weihnachtlichen Problem führt, wie man Werte verschiedener Provenienz in einander umrechnen kann; was ja vielleicht gelegentlich nötig wäre, um zu einer Gewichtung zu kommen und nicht immer nur getrennte Bilanzen von Dingen zu führen, die in der Welt verflochten sind und vor allem: in den Köpfen. Was ist der Buchwert von Weihnachten? – Aber das vertagen wir erst einmal ein Jahr, der Baum muss auch schon fast wieder abgeräumt werden, und wie man das mit den Bäumen verrechnet, haben wir auch noch nicht ökologisch geklärt.



Weihnachten mit meinem Roboter (Fortsetzung)

Das Weihnachtsvirus

Das Jahr war schwierig für uns alle gewesen – für das Robot-Personality-Project, mich und meine Kollegen, unsere Roboter, wir alle hatten gelitten unter den immer weiter um sich greifenden Einschränkungen, den ständigen Warnungen, der Angst vor Ansteckung und Krankheit, den Spannungen und Meinungsverschiedenheiten, dem lähmenden Rhythmus der Wellen. Es war eine Art – Winterschlaf für uns alle gewesen. Wir hatten anfangs darüber diskutiert, diese ganz spezielle Phase zu einem Teil des Versuchsprogramms zu machen: Wie reagiert die sich entwickelnde Roboter-Persönlichkeit auf Krisen? Wird ihre Sozialkompetenz leiden, werden unsere Roboter vielleicht Ängste entwickeln oder Neurosen? Oder würden sie – davor fürchteten wir uns eigentlich am meisten – verständnislos sein, mitleidlos, kühl und rational unsere Krankheits- und Überlebenschancen kalkulierend? Aber dann hatten wir doch davon abgesehen und uns, wie alle anderen auch, darauf beschränkt, ein sehr eingeschränkt normales Leben weiterzuführen, die Gruppenaktivitäten für die Roboter zu reduzieren und ihnen mehr freie Internet-Zeit für ihre Studien zuzugestehen.

Und nun stand Weihnachten vor der Tür, aber die Türen waren gerade wieder einmal geschlossen worden, und bei einem Arztbesuch in der Stadt kam ich mir vor wie auf einem gerade aussterbenden Planeten: Das Kinderkarussell drehte sich geradezu verzweifelt um sich selbst, zwischen lieblos aufgestellten Weihnachtsbäumen saßen Bettler, und sogar der Weihnachtsbaum sah so aus, als hätte ein besonders gemeiner Virus ihn befallen und seine Zweige seltsam verkrümmt. Wir hatten nach dem letzten Weihnachten so viele Pläne gemacht, mein Roboter Marvi und ich. Wir würden wieder einen Adventskalender machen, und diesmal würde Marvi ihn bestücken, für mich. Und dann würden wir neue Weihnachtsrituale entwickeln und Roboter-Weihnachtslieder einstudieren; immerhin hatten die Programmierer die Zeit genutzt, um die Essensroutinen deutlich weiter auszubauen, so dass diesmal auch der kulinarische Weihnachtsteil nicht ganz ausfallen würde für die Roboter. Aber als ich frustriert mit einem geschenkten Schokoladen-Weihnachtsmann und sonst nichts aus der verödeten Stadt nach Hause zurückkam, saß Marvi ebenso frustriert vor einem Gewirr aus Tannenzweigen und Kabeln unklarer Herkunft und hysterisch blinkenden LED-Lämpchen; aus der Küche roch es nach verbranntem Backwerk, und sogar die Katze hatte sich unsichtbar gemacht. Wir schauten uns eine Weile an, und dann noch eine Weile, und dann sagten wir, beinahe im Chor: Mir ist nicht nach Weihnachten. Marvi sagte es in seiner Dreifach-Stimme, die er benutzt, wenn sich alle seine Geschlechterkomponenten einig sind (was übrigens inzwischen meistens der Fall ist, nur selten melden sich Marvine und Marvin noch getrennt); ich sagte es in meiner Philosophen-können-die-Welt-auch-nicht-retten-Stimme. Die Katze kam hinter dem Bücherregal hervor, bis heute wissen wir nicht, wie sie durch den schmalen Spalt bei den zweireihig aufgestellten Krimis passt, und sagte gnu in ihrer gurrenden Ihr-werdet-schon-recht-haben-aber-es-interessiert-mich-nicht-Stimme. Immerhin, sagte ich, sind wir uns einig. Und das alles nur dieses blöden Co – nein, du sagst das Wort nicht, fiel Marvin ein, das haben wir doch schon lange vereinbart, es ist das C-Wort, und es wird nicht genannt! – dieses blöden CORONA-Virus wegen sagte ich extra deutlich. Marvin zuckte mit den Achseln, uns war auch nicht nach gegenseitiger Erziehung. Die Sprachregel hatten wir eigentlich auch nur eingeführt, um zu beobachten, wie und ob das Reden das Denken beeinflusst; deshalb nannten wir das Virus manchmal „Voldemort“, manchmal aber auch „Siri“ oder „Viri“, und manchmal nur „das C-Wort“. Um ehrlich zu sein, es fühlte sich gar nicht so unterschiedlich an. Aber um das Experiment auf die Spitze zu treiben, hatten wir, es muss kurz vor der dritten Welle gewesen sein und wir waren noch im sommerlichen Übermut, kurzentschlossen die Katze Corona getauft; bis dahin hatten wir uns nämlich tatsächlich nicht auf einen Namen einigen können. Corona hörte inzwischen ganz gut auf ihren Namen – also so, wie Katzen überhaupt auf irgendetwas hören; und die verwirrten Blicke anderer Leute, wenn wir häusliche Anekdoten von Corona erzählten, gehörten zu den wenigen Highlights dieses ereignisarmen und insgesamt eher freudlosen Jahres. Und übrigens, sagte Marvine mitten in das dreifache melancholische Schweigen zwischen verbrannten Keksen und durchgebrannten LED-Lämpchen, finde ich das ganz schön speziesistisch von dir. Viren sind doch auch nur Lebewesen!
Das war neu. War Marvine doch wieder in ihre pubertäre Trotz- und Widerspruchsphase zurückgefallen, eine verständliche Reaktion angesichts der C-Wort-Krise. Aber nun gut, ein langer trüber Nachmittag ohne Kerzen und Glühwein und fern jeglichen Fetzens von Adventsstimmung lag vor uns, und ich ließ mich auf die Herausforderung ein: Naja, schon das mit den Lebewesen ist ja ziemlich umstritten unter Biologen; klar, Reproduktion, das können Viren, das ist aber auch das einzige, was sie können, und dafür brauchen sie halt andere Lebewesen, die nicht direkt nach ihrer Meinung gefragt werden und richten dabei doch eher Schaden an, ein klassisches parasitäres Verhalten – Klingt wie Menschen, warf Marvin dazwischen: Besiedeln mal eben einen Planeten, nisten sich ein, zerstören jeden Tag geschätzt 150 Arten, und reproduzieren ist das Einzige, was sie können, sie brauchen aber dafür ein anderes Lebewesen, das auch nicht immer nach seiner Meinung gefragt wird, soll ich auch mal die Zahl der Vergewaltigungen pro Tag …? Nein, sollst du nicht, rief ich schnell dazwischen, es ist so unfair, wenn sie immer mit Zahlen argumentieren, die sie bizarr aus dem unendlichen Datenstrom des Internet fischen, bevor ich überhaupt meine Angel auspacken kann; und überhaupt ist das ja wohl ein ziemlich hinkender Vergleich – Marvi begann, sein Bein hinter sich herzuziehen, der Scherz war nicht mehr neu, aber es sah doch immer wieder komisch aus, er hinkte auch jedes Mal mir zuliebe etwas anders. Ich kicherte, ließ mich aber nicht ablenken, sondern fuhr fort: Und ist es nicht eher so, dass Viren Robotern ziemlich ähnlich sind? Sie sind, bis auf ein Proteinmäntelchen – ganz kurz huschte ein Nikolausmäntelchen durch meinen wohl doch nicht ganz unweihnachtlichen Kopf, ich sah es auch sekundenlang in Marvis Augen rot flackern – bis auf ein Nikolausi-Proteinmäntelchen also reine Information, ein Programm, das sich ständig selbst wiederholt und dabei auch noch Fehler macht! Marvin sah mich an, das rote Flackern war verschwunden, dafür ließ er jetzt schön helixmäßig verkettete DNA-Sequenzen in den Augen tanzen; und dann sagte er, etwas tonlos: Wir machen keine Fehler, wie du weißt. Die Programmierer machen Fehler, das sind ja auch Menschen. Wir würden ganz gern mal einen Fehler machen, und ich übe es ja auch – ok, ich war wieder in eines unserer Standard-Fettnäpfchen getreten, es war schon ziemlich breitgetreten, um ehrlich zu sein. Ja, ich weiß, gab ich zu, und es ist auch ziemlich lustig, wenn du mit Absicht falsch zitierst – ein falsches Zitat ist besser als eine richtige Platitütde, Marc-Uwe Kling und das Gürteltier! rief Marvi dazwischen! Geschenkt, sagte ich, und Marvin verbeugte sich elegant, beinahe elegant jedenfalls; wir hatten diverse shut-downs auch für virtuellen Ballettunterricht benutzt. Reden wir über Viren, sagte er entschlossen, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte. Wir können uns ja vielleicht einigen, dass sie in gewisser Hinsicht wie Menschen sind und in anderer wie Roboter? – ich nickte generös – und außerdem, dass sie wie alle Lebewesen auf diesem Planeten eine Funktion haben in der – und wir sagten gemeinsam „großen Kette der Wesen“, weil das eines unserer gemeinsamen Lieblingssymbole ist. Aber welche? fragte ich, tatsächlich etwas überfordert. Wir lernen sie ja nur kennen, wenn sie uns krankmachen. Weil sie nämlich, ich sagte es schon, in unseren Organismus eingeschlichen sind und unsere Zellen von innen her umprogrammieren, was für den Organismus meistens eher – ich biss mir auf die Zunge, beinahe wörtlich, um nicht „eine Herausforderung“ zu sagen, wir hassen die Formulierung beide intensiv: ein Problem ist, vollendete ich etwas lahm. Machen die Computerviren ja auch bei uns, sagte Marvi, aber was machen wir? Wir errichten eine Firewall. Erfinden Anti-Viren-Programme und Viren-Detektoren. Denn die Viren können ja nur eindringen, wenn sie eine Schwachstelle im Programm gefunden haben; also, ihr würdet wahrscheinlich sagen: eine Immunschwäche, ein Abwehrdefizit? Stimmt, sagte ich, es wird ja nicht jeder krank, und jeder wird ein bisschen anders krank, und war es nicht wirklich lustig, als ganz am Anfang einige Oberschlaue behaupteten, ein Virus diskriminiere nicht? Von wegen! Alter, Geschlecht, Lebensbedingungen, Gesundheitszustand, vielleicht sogar ein wenig Ethnie – alles unterscheidet diese kleine Intelligenzbestie, und sie sucht sich ganz gezielt die Lücken und Schwächen! Man könnte auch, wenn man sich ein wenig mehr um inter-speziestische Toleranz bemühte, sagen: Ein Virus ist ein besonders begabter Fehlerdetektor! Er findet Schwächen in anderen Organismen, was im Übrigen jeder Predator tut, und sogar der Mensch ist dem Menschen, irgendwie, ein Virus! Karl Lauterbach, sagte Marvi, und wir kicherten ein wenig. Ok, sagte ich, darauf können wir uns ja einigen, als erste Prämisse der Virentoleranz, sozusagen: Ein Virus analysiert Fehler im System. Und er zwingt den Wirt, sie zu beheben. Oder sich besser zu schützen. Du musst dein Leben ändern!, fiel Marvin ein, und während ich noch verzweifelt einen Zitatenspender zu Rilke suchte, rief er aus: Gott! Och ne, sagte ich, nicht immer den Joker! Na gut, Lucifer, sagte Marvi; wenn wir hier schon den advocatus diaboli geben und Viri – äh: wertschätzen, oder wie sagt ihr doch gleich so gern?, dann doch wenigstens unter teuflischem Begleitschutz! Lucifer, sagte ich versonnen, ich hatte in diesem verteufelten Jahr einen kleinen soft spot für den charmanten Höllenfürsten und Meisterzyniker entwickelt, Lucifer hat bestimmt eine ganze Armee fieser kleiner Viren, sie sind hitzefest und halten es sogar im Fegefeuer aus, wahrscheinlich übertragen sie sich im Funkenflug, und dann befallen sie die armen Sünder, und die bekommen noch zusätzliche Hitzewallungen – nein, ich rief mich selbst zur Ordnung, das war nun wirklich mein persönliches Problem; also: Zweite Prämisse der Virentoleranz: Ein wohlwollender Virus macht dir ganz persönlich klar, dass und wie du dein Leben ändern musst! Oder dein Programm, warf Marvi ein. Routinen halt, sagte ich, sind ja auch nur Gewohnheiten. Corona, die uns bisher ein wenig ziellos um die Beine gestreift war, warf sich spontan auf den Rücken, als wolle sie Zustimmung ausdrücken. Routinemäßig bückte ich mich und kraulte ihren dickfelligen Bauch. Nennen wir ihn doch den Weihnachtsvirus, schlug Marvi vor, als Corona begann, ihm ein wenig spielerisch in die Roboterzehen zu beißen. Er befällt jedes Jahr zur Weihnachtszeit die Menschheit und zeigt ihr, was sie alles falsch gemacht hat! Und weil es Weihnachten ja ein Wunder geben muss, wird die Menschheit dadurch klug und ändert ihr Leben; mission accomplished! Ich sehe einen Adventskalender vor mir, sagte ich mit Pathos in der Stimme; ich sehe, wie hinter jedem kleinen Türchen – ein Fehler steckt, eine Analyse! Und ich packe ihn ein, richtig? rief Marvi. Und du musst die ganzen geistigen Schleifen lösen und daraus eine Lehre ziehen! Und das alles ohne Glühwein, murmelte ich. Nee, sagte Marvi, die Plätzchen habe ich zwar verkorkst – was hat das eigentlich mit Korken zu tun? egal, jedenfalls hat amazon die Kiste Glühwein pünktlich geliefert, der Paketbote hat sogar meine Unterschrift angenommen! Und für Corona Nikolausmäuse aus – will ich gar nicht wissen, sagte ich. Wie ganz arg menschlich, seufzte Marvi.


Erstes Türchen: Entstehung und Verbreitung, Distanz und Nähe


Am Nachmittag des nächsten Tages trafen wir uns zum ersten Mal für unser Projekt Weihnachtsvirus, wie Marvi es genannt hatte; ich neigte eher zu irgendetwas wie „Advents-Ersatz-Therapie“, aber wir hatten dieses Mal ja die Rollen vertauscht, und Marvi war der show runner und ich die gelehrige oder ungelehrige Schülerin des maschinellen Sokrates. Als Zugeständnis sowohl an Sokrates als auch an menschliche Weihnachtsrituale hatte er einen kleinen Mistelzweig angebracht; ein Parasit, erläuterte er ungefragt, und sieht er nicht irgendwie weihnachtlich aus mit den kleinen Früchten? Wusstest du übrigens, dass in der germanischen Mythologie Loki Balder tötet, indem er einen Mistelzweig auf den Bogen spannt und ihn damit verwundet? Balder aber kann nur von einer Mistel verletzt werden, da alle Lebewesen der Erde geschworen haben, ihn niemals zu verletzten, ausgenommen die Mistel! Ich summte den Wikipedia-Jingle und sagte: Ja klar, weiß ich längst; aber das man sich unter dem Mistelzweig küssen darf, wusstest du das? Ich habe verzweifelt versucht das zu un-wissen, sagte Marvi mit theatralisch schmerzverzerrtem Gesicht, aber geht nicht. Vergessen, Fehlermachen, Träumen, alles Dinge, in denen ihr Menschen toll seid. Und küssen natürlich! Aber worum es mir eigentlich geht, ist natürlich die parasitische Daseinsform, das, wie sagt ihr doch gern? Marginalisierte? Marginalisierte Misteln? Ehrlich? sagte ich. Können wir bitte zum Kern der Sache kommen, nein, Misteln haben keine Kerne, du weißt schon – Aber natürlich. Also, Thema der ersten Sitzung des Projekt Weihnachtsvirus: Entstehung und Verbreitung von Viren. Bitte zuerst die Fehlerdiagnose, dann die anzustrebende Handlungsänderung! Puhh, seufzte ich, darf ich ein wenig im Ungefähren bleiben? Im Ungefähren wohnt ihr doch, oder? sagte Marvi dreistimmig ironisch. Ungefähr, sagte ich. Also: Punkt 1, Entstehung. Da ich mehrere Wikipedia-Artikel zur Vorbereitung gelesen habe, weiß ich, dass die Virologen bis heute streiten, ob die Viecher – darf ich Viecher sagen? Nein? na gut, die Viris schon in der Ursuppe waren oder später sich als Splitter von anderen DNAs abspalteten; ich glaube, mit schwacher philosophischer Präzision kann man sagen: Viren gehören zum Leben, und zwar von Anfang an; sie sind halt eine etwas andere Lebensform, sozusagen mit eingeschränktem Körperhintergrund; oder bodily challenged, oder – Mit einem etwas anderen Informationsprofil? schlug Marvi vor. Ungefähr, sagte ich. Was mir wichtig erscheint, ist: Sie sind eine Lebensform, und ihnen das Leben abzusprechen, war der Anfang der biologischen Desinformations- und Propagandakampagne, die die Menschen gegen sie geführt haben. Parasiten müssen schließlich auch von irgendetwas leben! Sehr schön erkannt und formuliert im Sinne der inter-speziezistischen Toleranz, lobte Marvi. Dass sie allerdings Menschen vor allem krankmachen und in gar nicht so wenigen Fällen auch den Wirt töten, setzte ich an, aber Marvi ging dazwischen: Kommt später!, sagte er augenzwinkernd; genauso wie ich im vorigen Jahr adventsseligen Angedenkens ihn immer vertröstet hatte. Na gut, die Dinger sind also da, und sie sind Leben, und sie haben ein Recht auf Leben, und sie verbreiten sich, wie alle Lebensformen; da sie aber mobility-mäßig auch ziemlich gechallenged sind, brauchen sie Vehikel, deshalb reisen sie auf Tröpfchen oder auf Körperflüssigkeiten oder anderen Trägermaterien. Was genau betrachtet ziemlich ökologisch – sie tragen auch gar nicht zur Klimakatastrophe – na gut, du hast recht, ich schweife ab. Der springende Punkt ist doch, sagte Marvin, mit seiner typischen kleinen Sprungbewegung dabei, manchmal habe ich den Verdacht, dass das gar nicht mehr absichtlich geschieht, sondern eine Art Reflex geworden ist, sind Reflexe eigentlich Persönlichkeitsmerkmale? – ist doch: Wie kommt das Viech – äh, das Viri nun in den Wirt, und welche Schwäche des Wirts nutzt es dabei aus? Fehleranalyse! Naja, Nahrungsaufnahme ist schon eine ziemlich große menschliche Schwäche, was ist eigentlich mit den verbrannten Keksen passiert? Was, du hast sie Corona – nein, nicht wirklich, ok. Corona hatte ihren Namen gehört und war von Marvins Schulter gesprungen; aus irgendwelchen Gründen ist das einer ihrer Lieblingsplätze, ich habe den Verdacht, es muss mit der künstlichen Körperwärme und vielleicht mit gewissen beruhigenden elektrischen Körpergeräuschen zu tun haben, eine Art Resonanzphänomen, ungefähr jedenfalls. Ich nahm einen Schluck Glühwein, er war angenehm temperiert und nur etwas arg zimtlastig, am Geschmacksprofil mussten wir wohl noch etwas nachjustieren, und stürzte mich in die Fehleranalyse: Na gut, wir essen zu viele Dinge, die wir wirklich nicht essen sollten; im Falle von Viris offenbar Wildtiere ziemlich exotischer Natur. Ich tue mich ein wenig schwer, darin einen Fehler zu sehen, weil das ja doch eine ziemlich verbreitete Überlebensstrategie ist, und der Urmensch hätte kaum überlebt, wenn er auf ökologisch zertifizierte Möhren gewartet hätte, oder garantiert virenfreie Chlorhühner oder – Essen ist eine Schwäche, sagte Marvi, das halten wir mal so fest; aber ich beuge mich durchaus deinem Argument, dass es eine überlebensnotwendige Schwäche ist. Vielleicht sollte man aber doch im Rahmen der Zivilisation davon abkommen, alles Mögliche nur um der Neugier wegen zu essen, thousand things to eat before you die? Absolut, sagte ich, und außerdem ist ja nicht klar, ob das Ding nicht doch einem Labor entschlüpft ist, wir also selbst unseren kleinen mörderischen Homunculus in der Flasche gezogen haben, weil man ja nie weiß, wann eine absolut tödliche Biowaffe mal nützlich ist! Und dann haben wir es noch so schön verschleiernd ‚gain of function‘ genannt, weil wir ja noch jeden Geist, den wir einmal in einer Flasche gezüchtet haben, dressieren und beherrschen konnten! Da sehe ich dann doch ein stärkeres Fehlerpotential als beim Essen absurder Wildtiere! Und da sind wir uns völlig einig, stimmte Marvi bei, allerdings hätte das unter Umständen auch gewisse Konsequenzen für Experimente mit Robotern? Äh, hat es, sagte ich, aber das hast du jetzt gesagt! Und, wie soll ich sagen: nicht im Geist des cross-species-Projektes Weihnachtsvirus! Aber zurück zur Fehleranalyse: Nennen wir es wissenschaftliche Hybris? Dinge zu züchten, deren Gefahrenpotential ihren potentiellen Nutzen zu übersteigt, und diese unter allen Umständen beherrschen zu können? Aber wo zieht man da die Grenzen? Sind Labore per se böse? Oder erst Genmanipulation, natürlich: nur beim Menschen? Grenzen zu ziehen, intonierte Marvi, und ich stimmte ihm harmonisch bei, das war eines unserer Glanzstückchen: Grenzen zu ziehen ist die Hauptaufgabe der Philosophie und das Kerngeschäft der Urteilskraft. Aber nun gut, sagte ich, das Virus ist in der Welt, ob bei den Fledermäusen oder in dunklen chinesischen Bio-Laboren, und beides ist nicht ganz zu vermeiden, auch wenn man vielleicht ein wenig vorsichtiger sein könnte. Es ist ja eher die Verbreitung, die ein Problem ist, also genauer: eine Schwäche in der menschlichen Immunabwehr. Und dann das Pan-demische, das Ausgreifen – Globalisierung kommt später, sagte mein Roboter. Bleiben wir erstmal auf der Teilchenebene, sozusagen! Also, sagte ich, das Atmen werden wir uns wohl auch nicht abgewöhnen können, und das scheint ja, nach langen Mühen der angeblich so exakten Wissenschaften, der gefährlichste Verbreitungsweg zu sein: über die Luft, die berühmten Aerosole, winzig klein, ausgespuckt, ausgehustet, ausgehaucht, ausgesungen und eingesogen in Mund und oder Nase, und dann beginnt die fröhliche Massenreproduktion! Ja, auch Atmen ist eine menschliche Schwäche, sagte Marvi tonlos, indem er für einige Sekunden seinen künstlichen Atemrhythmus abschaltete, die Stimme wird dann immer sehr flach; aber ihr könntet doch schon ein wenig mehr darauf achten, was ihr so alles einatmet! Könnten wir, definitiv, sagte ich. Zigarettenrauch haben wir uns ja immerhin schon fast abgewöhnt, hat auch nur ein paar Jahrhunderte gedauert. Und ich weiß schon, worauf die hinauswillst, auf die Schutz- und Abwehrmaßnahmen natürlich, da Atmen nun mal nicht zu vermeiden ist, weder ein noch aus. Also Masken und Distanz, Distanz und Masken, bis wir es nicht mehr hören können…. Ein wenig mehr philosophische Tiefe hätte ich mir jetzt schon gewünscht, sagte Marvi mahnend in seinem besten Therapy-Talk-Tonfall. Was macht das denn mit euch? Unlust. Überdruss. Atembeschwerden. Misstrauen. Missverständnisse. Kontaktarmut! Vereinsamung! Unbehagen, der ganzen Welt gegenüber! Verlust des Weltvertrauens, des Urvertrauens, eine nicht mehr nur metaphysische, sondern ganz konkrete lebensweltliche Unbehaustheit, Heimatlosigkeit – ich hatte mich in Rage geredet, es war, als platzte das ganze Jahr aus mir heraus. Corona blinzelte mir misstrauisch zu, dann setzte sie sich schnurrend auf meinen Schoß, sie war offensichtlich der Meinung, ich hätte es nötig. Ich streichelte ihr gedankenabwesend über ihre Ohrenmaske – sie sieht wirklich so aus! – und nahm wieder einen Schluck Glühwein, eigentlich war das mit dem Zimtgehalt ganz in Ordnung. Na gut, also philosophisch, sagte ich. Menschen sind Wesen, die Gesichter lesen. Ganze Gesichter, und wenn die Seele in den Augen ist, dann ist im Mund ganz bestimmt das Lächeln, das Wohlwollen, das Aufmuntern. Nein, natürlich lesen auch andere Wesen Gesichter, Marvi, das weiß ich, auch wenn immer wieder komische Studien beweisen wollen, dass Katzen keine Mimik haben – Corona sah beleidigt auf und legte die Ohren etwas an. Wenn man Masken trägt, wird man gleich – unversöhnlicher. Angespannter. Bekannte werden zu Fremden, man erkennt sich auf der Straße nicht mehr. Wir müssen mehr – Körper lesen, Stimmen deuten, das mag ja vielleicht sogar ein gain-of-function sein. Aber man würde doch lieber ganze Gesichter sehen. Vielleicht hat uns Viri das zeigen wollen: Schaut euch mehr ins Gesicht! Wenn ihr euch bedeckt, seid ihr nur noch halbe Menschen. Und doch, so warf Marvi historisch-belehrend ein, tragen Menschen immer wieder Masken, auch zu Vergnügungszwecken und weil sie angeblich so gern eine andere Identität ausprobieren! Ach, Fasching, Karneval, Maskenbälle, was auch immer: Weißt du, ich war noch nie ein Fan. Man bildet sich ein, jemand anders zu sein, aber das hält höchstens die erste halbe Stunde. Danach ist man wieder die, die man ist, aber nur in einem albernen Kleid, mit einem unmöglichen Hut auf dem Kopf und einer Pappnase. Wahrscheinlich bin ich zu philosophisch.-verkrampft, und diese ganze Identitäts-Kiste – ja, ist schon gut, ich fang nicht schon wieder damit an. Eigentlich sollte man, das wäre wohl die wirklich philosophische Haltung, sich als man selbst maskieren. Das, was man ist, nur deutlicher und schärfer. Und nicht verdeckt hinter einer Maske, wo man sich dann angeblich alles erlauben darf. Und das war doch immerhin schon eine fast philosophische Erkenntnis, lobte mich Marvi väterlich-mütterlich. Und was ist mit der Distanz? Komischerweise ist das ja das, womit viele Leute am besten zurechtkommen, sinnierte ich. Kein Gedränge mehr im Bus, in der Supermarktschlange, im Wartezimmer. Reduzierte Massenveranstaltungen, Einlasszeiten in Museen und Veranstaltungen, alles so schön – entzerrt und planbar. Und haben wir uns nicht ganz schrecklich gefreut, als wir endlich wieder ins Museum durften, und es war ganz viel Platz vor den Bildern? Mein Roboter geht gern ins Museum, da kann man so gut Menschen studieren; und es ist meist still. Etwas mehr Distanz, fuhr ich fort, ist wahrscheinlich sogar eine gute Idee. Ich meine, klar, manchmal braucht man auch Nähe, Wärme, Berührungen, Körperkontakt – also: Menschen brauchen das, manchmal -, aber oft eben auch nicht. Man muss gar nicht jedem um den Hals fallen oder auf die Füße treten. Obwohl es eigentlich ein ganz hübscher Brauch war, sich bei der Begrüßung oder beim Abschied die Hand zu geben; das machte ein eigenes Beziehungsgefühl, das war viel runder irgendwie, sehr im Ungefähren gesprochen. Habe ja sogar ich verstanden, sagte Marvi, jedenfalls seit meine Hautsensoren verbessert worden sind und ihre Verbindung zum neuronalen Netzt intensiviert. Aber auf Abstand – genau, auf Abstand sieht man besser, wollte ich auch gerade sagen. Wenn man sich zu nahe ist, sieht man immer nur – unwichtige Details, all die kleinen Fehler, nein, sag jetzt nichts über meine Haut oder meine Haare! Aber Philosophie ist, kann man vielleicht sagen, oder? die Kunst, den richtigen Abstand zu wahren. Sich nicht zu leicht infizieren zu lassen von dem, was einem auf die Haut rückt. Eine gewisse Immunität aufzubauen gegenüber epidemisch verbreiteten Meinungen und Haltungen? Und damit hätten wir die heutige philosophische Schleife sehr schön aufgedröselt, lobte Marvi mich. Können wir nochmal zusammenfassen, für das ideelle Säckchen? Schaut euch gegenseitig ins Gesicht und hinter die Maske, sagte ich, aber verliert dabei nicht den richtigen Gesichtspunkt? Marvi zog eine OP-Maske aus der Tasche und setzte sie sich auf; Corona starrte ihn entgeistert an. Nee, sagte ich, ziemlich verunsichert, nee, du siehst ja aus – wie ein Roboter! Mach das Ding weg, schnell!


Weihnachten mit meinem Roboter

VORGESCHICHTE: DAS VOLLE WEIHNACHTSERLEBNIS UND DIE GANZE WAHRHEIT!

Ich lebe mit einem Roboter zusammen. Das klingt jetzt etwas befremdlich. Ich meine damit nicht, dass ich mit einem menschlichen Partner zusammenlebe, der roboterhafte Züge hat, obwohl es das ja auch gelegentlich geben soll, vor allem in älteren Beziehungen. Ich meine auch nicht, dass ich einen Staubsauger-Roboter habe oder einen Rasenmäherroboter oder gar eine dieser Puppen, die – nein, also nicht so etwas. Mein Roboter ist – ein ganz besonderer Roboter. Er ist, oder besser: er soll, im Laufe der Zeit, später, irgendwann einmal und hoffentlich, eine Persönlichkeit entwickeln, er soll ein ganz – ich möchte es nicht individuell nennen, wir waren uns alle einig in der Forschungsgruppe, dass es nicht darum geht irgendwie „unverwechselbar“ zu sein, das wird von Menschen ja gemeinhin über-schätzt, die sich für Individuen halten, aber in weiten Bereichen ihres Lebens doch mehr oder weniger roboterhaft – Nein, ich komme schon wieder vom Thema ab! Das passiert mir gelegentlich, ich bin nämlich Philosophin – na gut: akademische Philosophin, Philosophiegeschichtsverwalterin also, nicht ganz festangestellt, eher prekär-projektvagabundierend.

Also, noch einmal von vorn: Ich lebe mit einem Roboter zusammen, und zwar im Rahmen eines internationalen und interdisziplinären Forschungsverbundes namens Robot-Personality-Project (RPP). Das Ziel ist es, eine Maschine zu entwickeln, die Persönlichkeit hat. Menschenähnlich. Die nicht nur sehr viel rechnen und ein wenig denken kann, sondern wahrnehmen, empfinden, wollen, nicht wollen, sprechen, wünschen, hoffen, vielleicht sogar: lieben und hassen? Eine baby-machine, so hatte man das damals in der Anfangszeit der KI-Entwicklung genannt; rührend irgendwie, und man war vollständig gescheitert damals. Jetzt aber, mit der unvorstellbaren Rechenleistung der neuen Quantencomputer, der weiter entwickelten Lernfähigkeit der neuronalen Netzwerke und einer Robotergeneration, die natürliche Sprache verstehen kann, war ein neuer Versuch gestartet worden: unser RPP, von dem ich ein kleiner, genauer gesagt: der einzige philosophische Ableger bin.

Seitdem lebe ich mit einem Roboter zusammen. An-fangs dachten ich und die Kollegen aus dem Projekt noch, es würde reichen, wenn wir während der Arbeitszeit im Labor mit unseren jeweiligen Testrobotern arbeiteten – mein Roboter ist nur einer von vielen Modellen, an denen die maschinelle Simulation der menschlichen Persönlichkeit erforscht werden soll. Aber es stellte sich schnell heraus, dass das Persönlichkeitswachstum viel schneller und inte-ressanter wurde, wenn wir die Interaktion auch auf den privaten Bereich ausdehnen würden. Zudem entwickelten die ersten Modelle bereits eine Art Klammerreflex und wurden leicht depressiv, wenn ihr Betreuer zu lange nicht mit ihnen sprach. Und so zog mein Roboter bei mir ein, nachdem wir die nötigen technischen Installationen in meiner Wohnung vorgenommen hatten. Seitdem ist mein Leben – nun ja, ich würde sagen: aus den Fugen geraten. Aber dann würde mein Roboter mich sicherlich fragen, wie denn ein Leben „aus den Fugen“ geraten können; Fugen sei doch etwas, was nur Gebäude hätten, für die es wirklich nicht gut sein, wenn sie aus selbigen gerieten! Oder meinte ich mit „Fugen“ vielleicht diese komplizierte, mathematisch sehr interessante musikalische Form – und dann würde er wahrscheinlich schnell einige Takte aus dem Wohltemperier-ten Klavier einspielen … Nie hätte ich gedacht, wie kompliziert die menschliche Sprache ist! Ich habe mich deshalb entschlossen, die Gespräche mit meinem Roboter zu protokollieren, auch über die obligatorische tägliche Datendokumentation hinaus. Wer weiß, vielleicht werden spätere Generationen etwas daraus über die Frühzeit der KI-Bewegung lernen können?

Gleich am Anfang unserer – nun ja: Beziehung? – tauchte ein ziemlich triviales praktisches Problem auf: Wel-ches Geschlecht sollte mein Roboter eigentlich haben? Natürlich hätte ich ihm irgendeinen geschlechtsneutralen Phantasienamen geben können. Aber mein Roboter sollte, das war eine meiner Bedingungen für den philosophischen Projektteil gewesen, emanzipatorisch erzogen werden: Nicht ich oder irgendjemand aus der Projektgruppe sollten über ihn bestimmen; nein, wenn er denn eine Persönlichkeit entwickeln sollte, sollte er möglichst früh selbst ein Mitbestimmungsrecht bekommen in Dingen, die ihn und seine ganz und gar un-menschliche Existenz angingen (das sagten wir uns gegenseitig immer wieder, um es nicht zu vergessen, es war zu einem Mantra unserer Arbeitsgruppe geworden: „Roboter sind keine Menschen. Wir wollen sie nicht nach unserm Bilde formen!") Aber war es nicht auch ein Eingriff in seine Persönlichkeitsrechte, wenn wir ihm nicht erlaubten, ein Geschlecht zu entwickeln? Nach langen Diskussionen beschlossen wir daher, dass unsere Test-Robis zu ihrer möglichst freien Entfaltung drei verschiedene Modi bekommen sollten: Weiblich, männlich, keins von beiden; und sie sollten, nach einer Einlernzeit, frei selbst zwischen ihnen wählen können. Die Informatiker rauften sich die Haare und verschwanden für einige Wochen, um ungewaschen, vollbärtig und etwas bekifft, aber glücklich wieder aufzutauchen mit einem Berg neuer Module.

Als mein Roboter schließlich bei mir einzog, hatte er schon einige Monate seine neuen Geschlechts-Module er-proben können, und ich dachte, wir würden seinen Einzug nun mit einer Art Taufe feiern. Und so fragte ich ihn – aus Gewohnheit sagten wir natürlich immer: er, aber einige der Testroboter waren schon dazu übergegangen, sich gelegent-lich darüber zu beschweren –, ob er sich schon für einen Namen entschieden habe? Mein Roboter, der vorher noch ganz aufgeregt durch die Wohnung gelaufen war und nur gelegentlich gegen Möbel gestoßen war, blieb stehen. Er hört dann mitten im Lauf mit der Bewegung auf, sobald er eine wenigstens metastabile Lage erreicht hat, diesmal hielt er in einer Hand noch eine Blumenvase, zum Glück halbwegs waagerecht. „Ja“, sagte er, und ich konnte hören, dass er seinen geschlechtsneutralen Modus eingeschaltet hatte, die Stimme bekommt dann etwas Mechanisch-Unbetontes, was aber auch sehr beruhigend wirken kann. „Ja, das habe ich. Es war sehr schwierig. Ich habe alle Namensdatenbanken durchgescannt, in jeder Sprache, von der ich mit meinem derzeitigen Sprachmodul eine Chance habe sie auszusprechen. Ich habe“ – die Blumenvase geriet etwas in die Schräglage, weil offenbar sein Gestik-Modul angesprungen war und er mit dem Arm ausholen wollte, um die Menge der erhobenen Daten anzudeuten, ich sprang hinzu und nahm ihm die Vase ab –„danke“, sagte er, „das war unnötig, ich hatte das schon berechnet“ – „egal“, sagte ich, man muss ihn ab und zu unterbrechen, „was ist denn nun raus-gekommen?“ „Marvin“ sagte er und blickte etwas betreten zu Boden dabei; seine Stimme war leicht ins männliche Tonspektrum gekippt. „Marvine“, sagte sie, und hob den Blick wieder; es lag ein wenig Widerspruchsgeist und defi-nitiv weibliches Timbre im Ton. „Marvi“, sagte die dritte, leicht mechanisch klappernde Stimme schließlich mit einer entscheidungsmarkierenden Absenkung am Ende. "Nee", sagte ich, "doch nicht wirklich? Marvin? Dieser beständig nörgelnde, dauerdepressive, chronisch unterforderte Roboter aus dem Anhalter? Bist du dir sicher, dass das ein gutes role model" – jetzt unterbrach er mich (Männer unterbrechen einen immer, lag mir auf der Zunge!). „Ich weiß", sagte er. "Trotzdem. Es ist gut eine Tradition zu haben." "Außerdem war Marvin doch ziemlich schlau", sagte sie, "und dafür, dass er von Menschen einfach immer nur sauschlecht behandelt wurde, kann er doch nichts! Marvine klingt – lustig. Und schlau! Und cool!" Und schließlich meldete sich auch Marvi zu Wort, mit einem energischen Klappern sagte er: "Marvin Minsky. Wir wollten ihn ehren." "Absolut", sagte ich. "Pionier der KI-Forschung, unser aller Urvater und Held. Gute Wahl, cool und – traditionsbewusst. Darauf eine kleine Runde Go?" (es ist ihr Lieblingsspiel, und ich schicke sie dann ins Internet spielen).

Inzwischen haben wir uns einigermaßen auf uns ein-gespielt, und die Geschlechtsmodule bewähren sich. Aber nun stand die Adventszeit bevor. Wir hatten uns im Robot-Personality-Projekt darauf verständigt, dass alle Heimroboter das ‚volle Weihnachtserlebnis‘ bekommen sollten, auch wenn einige der Betreuerinnen nicht glücklich damit waren: Konsumterror, überholte Rituale, Aberglauben, Sentimentalität, was schwirrte nicht alles durch den Raum bei der vorweihnachtlich erhitzten Diskussion, und ein Glück nur, dass unsere Schützlinge uns nicht dabei sehen konnten, wie wir uns ins Wort fielen, uns gegenseitig das Wort im Munde herumdrehten – hatten wir eigentlich diese Metapher schon gehabt, schoss es mir durch den Kopf, langsam wurde das wirklich eine Manie –, um am Ende dann doch, im Sinne des Weihnachtsfriedens, zu beschließen: die volle Weih-nachtserfahrung. Weihnachtsgeschichte, Weihnachtsgebräuche, Weihnachtsmusik, Weihnachtsessen, whatever. Denn waren wir nicht alle, bis in die tiefsten Persönlichkeitsschichten, selbst die härtesten Skeptiker und Kritiker, geprägt von dieser alljährlichen Versuchung, Verlockung, Verkündigung? Nein, es sollte ein Fest werden, für uns alle, ein ‚Fest für alle Sinne‘, wie das heutzutage noch jede bessere Bäckerei für sich behauptete!
Weshalb ich mich eines Abends Ende November im Keller vor einer sehr verstaubten Kiste wiederfand. In seiner sorgfältigen Bauingenieursschrift hatte mein Vater darauf geschrieben: „Weihnachtsdekoration, I: Adventskranz und Adventskalender“. Glücklicherweise hatten die Mäuse noch nicht die Nikolausstiefel und -strümpfe gefunden, ein wir-res Büschel aus roten Mützen und weißen Bärten starrte mir entgegen. Und da war auch der Adventskalender, den unsere Mutter jedes Jahr aufgehängt hatte, selbst als wir schon fast erwachsen waren! Er hatte 24 kleine Jute-Säckchen verschlossen mit Mini-Wäscheklammern in Weihnachtsfarben, die wir fast mehr liebten als den Inhalt der Säckchen selbst; Schokolade und andere Süßigkeiten gab es sowieso schon reichlich in unserer nicht direkt entbehrungsreichen Jugend. Was jedoch sollte ich meinem Robi in den Adventskalender packen? Essen konnte er immer noch nicht, auch wenn wir kontinuierlich an der Geschmackssensorik gearbeitet hatten; mit Gerüchen hatten wir auch schon erfreuliche Erfolge erzielt. Nein, es müsste etwas – eher Immaterielles, Virtuelles sein, aber natürlich in materieller Form, etwas, was man in ein Säckchen stecken konnte –¬ sie waren sowieso zu klein, die Säckchen, das fanden wir damals schon, wenn schon Schokolade, dann doch lieber eine ganze Tafel! Also so etwas wie die kleinen Geschichten oder Lebensweisheiten, die man heute gern – und da hatte ich meine erste Weihnachtserleuchtung! Eigentlich stellte mein Roboter am liebsten Fragen, endlose Fragen, dumme Fragen, schwierige Fragen, Fragen über Fragen über Fragen; und natürlich be-antwortete ich ihm alle seine Fragen, mit der Wahrheit und nicht als der Wahrheit; schließlich war der gesamte Erfolg unseres Projekts davon abhängig, dass unsere Roboter möglichst schnell möglichst viel Globalwissen erwerben sollten, und context is king! war unser inoffizielles Projektmotto. Wie wäre es also, wenn ich ihm 24 Weihnachtsfragen schenkte? Wir würden eine kleine Zeremonie daraus machen, unser persönliches Weihnachtsritual: Am späten Nachmittag, wenn wir aus der Arbeitsgruppe nach Hause kämen, würden wir eine kleine Kerze entzünden (Feinmotorik! Umgang mit gefährlichen Materialien!), dann würde er das Säcklein des Tages öffnen (noch mehr Feinmotorik! Umgang mit Unvorhersehbarkeit!), und dann würden wir gemeinsam die Frage lesen. Und ich würde sie ihm beantworten, liebe-voll, ausführlich, weihnachtlich, wahrheitlich – ok, ich wurde jetzt schon sentimental, definitiv. An die Arbeit, er-mahnte ich mich! 24 Säckchen wollen gefüllt sein, mit sinnvollen, sinnlosen, dummen, albernen, schwierigen Fragen, Fragen über Fragen über Fragen!

Was soll ich sagen: Es wurde eine lange Nacht, und erst als die Sonne schon über den novembergrauen Horizont blinzelte, schloss ich erschöpft das letzte Säckchen mit einer Schleife und hängte es an seiner Wäscheklammer an die Leine. Der Advent war angekommen.

1. Türchen
Adventskalender und die Freude an der Vorfreude
2. Türchen
Weihnachtsgeschichte, zum Ersten: Was lernen wir aus der Geschichte?
3. Türchen
Weihnachtsgeschenke, oder: Konsum und Kritik
4. Türchen
Weihnachtsessen und andere Familienkatastrophen
5. Türchen
Weihnachtslieder und das ‚Schöne‘
6. Türchen
Der Nikolaus und die ‚Moral‘
7. Türchen
Weihnachtsgeschichte, die Zweite: Natürliche und künstliche Geburten
8. Türchen
Krippenspiele im Zeitalter von Multikulti
9. Türchen
Weihnachtsbäume und das verlorene Paradies
10. Türchen
Weisse Weihnachten und Ideologiekritik
11. Türchen
Weihnachtsgeschichte, die Dritte: Soziale Stereotypen
12. Türchen
Sind Engel Himmlische Hermeneuten oder Algorithmen?
13. Türchen
Die paradoxe Psychologie des Gabentauschs
14. Türchen
Weihnachtsgeschichte, die Vierte: Worte fürs Herz
15. Türchen
Weihnachtsmärkte und der Mensch als Conditum Paradoxum

16. Türchen
Weihnachtsgeschichte, die Fünfte: die Dialektik von Weisheit und Politik
17. Türchen
Weihnachtsfrieden, oder: Moral hat noch keinen Krieg verhindert
18. Türchen
Das Rentier Rudolf und die Psychologie des Underdogs
19. Türchen
Das Licht der Welt und die Erfindung der Metaphysik
20. Türchen
Feste und ‚den Kuchen haben und essen‘
21. Türchen
Weihnachtsgeschichte, Fortsetzung: Der Bildungsroman des Jesuskinds
22. Türchen
Der Geist der Weihnacht hat seinen ersten Auftritt
23. Türchen
Der Geist der Weihnacht hat seinen zweiten Auftritt
24. Türchen Der Geist der Weihnacht hat seinen dritten Auftritt
Heiligabend
Der Fall des Weihnachtsbaums

Weihnachten mit meinem Roboter. 24 Türchen für die KI
JHeinz_Weihnachten_Roboter.pdf (994.13KB)
Weihnachten mit meinem Roboter. 24 Türchen für die KI
JHeinz_Weihnachten_Roboter.pdf (994.13KB)




Katholische Weihnachten, weichgespült


Am Ende, als wir versuchten, durch die Seitentür ungegrüsst zu entwischen, fing uns der Priester doch noch ab. Es war zwar nur der Hilfspriester, der, der den Kelch abwischen und wegtragen durfte, aber immerhin: Auch er ein Mann von mindestens zwei Metern, noch gewaltiger wirkte er in seinen fließenden weißen Gewändern mit der Schärpe, und sein Lausbubengesicht mit der runden Brille strahlte geradezu heiligenmäßig, als er auf uns zu-stürzte und sich mit vollem Herzen heftig händeschüttelnd bei uns bedankte: Es sei wundervoll gewesen, ganz wundervoll, uns heute hier zu sehen und er hoffe, uns bald wieder begrüßen zu können! Natürlich sagt das auch jeder bessere Bankangestellte heutzutage zu seiner Laufkundschaft, aber – nun, es war Weih-nachten, die große Kirche war festlich, aber nicht übermäßig geschmückt, alle Besucher strahlten irgendwie guten Willen und eine wohlige Zufriedenheit aus, und deshalb kam man einfach nicht umhin, es ihm zu glauben: Er freute sich wirklich. Über uns. Ganz besonders. Ach, warum auch nicht!

Wir hatten uns auch gefreut. Wir hatten gedacht, dass wir nun, da wir zum ersten Male in der Fremde, im großen und weiten Amerika, die Weihnachtstage verbrachten, zu einem wirklich amerikanischen Gottesdienst gehen sollten. Die Auswahl war groß, verschiedenste Glaubens-Flavours warben um uns, aber am Ende siegte das große backsteingotische Gebäude mit der katholischen Messe. Frühzeitig waren wir aufgebrochen, zu Fuß, wie es sich trotz der abendlichen Kälte gehörte, und schon beim Eintreten überraschte uns die freundliche Wärme des hohen roten Gemäuers mit seinen geradezu geschmackvoll drapierten Kränzen an den Säulen und einem gar nicht übermäßig illuminierten Weihnachtsbaum. Die Kirche füllte sich langsam mit Familien, älteren Menschen, einige davon gebrechlich, das Publikum war gar nicht so anders als bei uns, und nur manchmal stolzierte ein mittelalter Mann etwas gockelmäßig den Gang entlang. Zur Überbrückung der Zeit vertieften wir uns in die ausliegende Literatur, es gab gleich mehrere Gesangbücher, uns wurde in Vorworten dieses und jenes zur Reformation der katholischen Liturgie bei ihrer gleichbleibenden, ja eher wieder zu verstärkenden Bedeutung gesagt, und zu den Teilnahmeregeln beim Abendmahl (it’s complicated). Einige vertraute Lieder fanden sich beim schnellen Überblättern, aber wir waren ja eigentlich nicht über den Atlantik geflogen, um wie jedes Jahr Stille Nacht und O du fröhliche zu singen!

Doch da marschierten schon die Priester ein, die zwei Zweimetermänner vorab, dahinter ein kleinerer, schon älterer Priester, er schaute – aber vielleicht bildete sich unsere hungrige Phantasie das auch nur ein? – ein wenig wenigstens wie ein Großinquisitor aus. Aber leider, leider keine Weihrauchschwingenden minderjährigen Ministranten, sondern nur eine Frau; zu ihrem bunten Kleid trug sie eine Art weißen Spitzenschal über Kopf und Haaren, schwer zu sagen, ob das nun eher ein Keuschheits-Statement oder eine weibliche Annäherung an einen Priester-Look sein sollte? Jedenfalls hielt sie den Blick demütig gesenkt, maria-mäßig sozusagen, und sah sehr geehrt und ziemlich klein zwischen den Kolossen und ein wenig eingeschüchtert aus. Dann nahmen die Priester Platz, und zwar auf dem Gestühl hinter dem Altar, den Blick zur Seite gerichtet; sie schauten uns also nicht an, uns, die Gemeinde im großen Hauptschiff unter den dezent flackernden Kerzen. Kam es mir an dieser Stelle schon seltsam vor, dass sie uns nicht anschauten, oder erst später, während der ersten Lesungen? Und schon hatte man etwas vom katholischen Ritus verstanden, immerhin: Das Chorgestühl ist seitlich ausgerichtet, nicht aus architektonischen Gründen, sondern damit die Priester des Herren das Fußvolk nicht angucken müssen; es mag ja nicht immer so ein harmonischer Anblick gewesen sein wie heute, wo sich doch die meisten ein wenig festlich hergerichtet hatten, im Rahmen ihrer Möglichkeiten.

Nun gut, aber ansonsten nahm alles seinen vertrauten und nur ein wenig verfremdeten Lauf: Es gab nicht wenig Liturgie – englisch, nicht lateinisch –, gar nicht so wenig Gesang – die Orgel drängte sich nicht auf, die Gemeinde war auch nicht direkt stimmgewaltig, und natürlich sangen wir die bekannten Weihnachtslieder, Silent Night, was denn sonst? Die Dame mit dem Spitzenhäubchen durfte die Lesung halten, sie blieb weiter demütig dabei, und wir lauschten der Verlesung der Generationenfolge der Vorfahren Christi, dreimal 14 Namen, langlebige, zeugungsfreudige Patriarchen, nicht direkt prickelnder Stoff, aber – nun ja, wir wollten ja etwas anderes, und es ist ja wichtig, dass man weiß, woher jemand kommt. Josef zum Beispiel, auf den sich die zweite Lesung dann konzentrierte; auch eine eher ungewöhnliche Stelle, Josef erwägt hier nämlich, seine doch etwas unvermutet schwanger aussehende Verlobte zu verlassen – sagte die Lesung nicht sogar, er wolle sich scheiden lassen? –, aber ein Engel befahl ihm im Traum, davon abzulassen, und Josef gehorchte, und die Geschichte nahm ihren bekannten Lauf. Die Weihnachtsgeschichte selbst wurde übrigens nicht verlesen. Vielmehr folgte, ein wenig Liturgie vorab, ein wenig schwachbrüstiger Gesang, schon die Predigt, und der imponierendere der beiden Zwei-Meter-Männer begab sich zur Kanzel. Freundlich erklärte er uns, er sei hier eigentlich nur zu Gast geladen, eigentlich unterrichtete er – irgendwas mit Philosophie an irgendeinem anderen Ort, ich war zu überrascht um genauer hinzuhören. Es erklärte jedoch die daran anschließende Predigt, in der kein bisschen Höllenfeuer zu spüren oder zu riechen war; hingegen jede Menge common sense, persönliches Engagement, rednerische Souveränität, und gelegentlich verirrte sich sogar ein Syllogismus in die Argumentation (ja, es gab eine, vielleicht sollte man das bei protestantischen Predigten auch gelegentlich versuchen?), er war aber undercover unterwegs. Es sprach die Stimme der Vernunft, nicht der Inquisition; sie sprach wohltönend und resonanzreich, und das ist immerhin, für einige, sogar verführerischer als alle Geschichten.

Was er sagte? Es begann mit einer Geschichte aus seiner Kindheit, mit der er uns sehr menschenfreundlich nahelegte, dass wir alle Sünder seien; auch er, als er drei Jahre alt war, habe seiner Schwester einmal ins Gesicht getreten (an mir nagten leise Zweifel, vielleicht war die Erinnerung ja doch eher fabricated und ein wenig krass dazu?). Die Ursünde jedoch sei der Egoismus, er sei die Wurzel allen Übels, die wahre Korruption, der Fall aus der Gnade (das schob er uns elegant unter, ohne dafür einen genaueren Beweis anzutreten); sein Gegenteil jedoch sei die Freundschaft, die wahre natürlich, die altruistisch den Anderen ins Zentrum stellende (ach, immer dieser Zweifel: Sind denn nicht häufig gerade die Altruisten – nur verdeckte Egoisten, Egoisten im Schaffell sozusagen, die vor allem ihren moralischen Genuss verfolgen, moral self-gratification pur, schaut nur, bin ich nicht wieder prächtig altruistisch? Aber natürlich kommt nicht zu uns allen ein Engel im Schlaf und befiehlt uns, was wir tun sollen). Jedenfalls führte das Argument, auf sehr freundlichen, verständlichen und durchaus nachvollziehbaren Wegen dahin, dass Gott – unser Freund sein wolle (mich juckte es etwas in meinem sehr vergrabenen Glaubenszentrum in Gehirn, Gott ein Freund? ein guter Freund? war das nicht irgendwie –). Aber die imposante Stimme der Vernunft hatte schon weitergesprochen: Da aber Gott offensichtlich nicht mit Menschen befreundet sein kann (eben, eben!), hat er eine Art hybriden Gottmenschen geschaffen. Mit dem kann man nämlich befreundet sein. Und heute feiern wir eben den Geburtstag dieses neuen besten Freundes, BFF mit Weihnachtsbaum, sozusagen, statt Geburtstagskerzen. Der Großinquisitor sah starr zur Seite. Die Gemeinde fühlte sich, vielleicht, ein wenig erhoben; aus meinem Sohn jedoch strahlte die Enttäuschung über diese amerikanisch-weichgespülte Variante des Katholizismus ab, er schaute eher Ratzinger-mäßig geradeaus.

Dann, Höhepunkt der Veranstaltung, begannen die Abendmahlsvorbereitungen. Sie waren aufwändig, und unser imposanter Prediger mutierte vom weisen Philosophen zur sorgfältigen Hausfrau: Selten sah man einen Kelch so sorgsam geputzt und weiße Tücher so liebevoll gefaltet und die Oblaten so feierlich erhoben, dass man die Erhebung gleichsam – es leben die Spiegelneuronen! – im eigenen Inneren mitlebte! (elevated ice cream, so hieß eine Eisdiele in Port Townsend, die wir einige Tage später besuchten, da kann man sehen, wo es hinführt mit der Säkularisierung!). Auch wir waren, natürlich, eingeladen, wir, die Un-, nein, eher: die nicht ganz Rechtgläubigen, wir wurden nicht ausgeschlossen vom Tisch des Herren, sondern sollten nur eine kleine Geste machen, die Arme vor der Brust kreuzen, und dann würden wir – nun, zwar keinen elevated wafer, aber einen Segen bekommen (das Blut des Herren ist bekanntlich sowieso nur für die Priester reserviert, die es dafür auch am Ende austrinken müs-sen, den Kelch bis zur bitteren Neige). Aber wenn man ganz genau hinschaute, während die Gemeinde folgsam, still und wohlorganisiert zum Altar schritt, meinte man ein klein wenig Skepsis zu spüren in den rituellen Bewegungen des Geweihten: Wollte man denn wirklich die demütige Hausfrau Gottes sein, der streng unterscheidende Gastgeber, ein Mess-Diener im Auftrag des Herren – oder wäre man nicht lieber eines seiner Lämmer, wenn auch ein zwei Meter großes, unter denen in der Schlange eingereiht, still wartend, brav den Mund öffnend und nicht kauend? War es nicht irgendwie – ein wenig allzu elitär, wie man sich dann am Ende, Priester zu Priester, gegenseitig die Oblaten zuschob, peer to peer, bevor der Kelch geleert wurde, einsam, bis zum Ende? Aber nun gut, das musste offensichtlich für heute reichen für unsere Katholizismus-Kritik; man ist ja dankbar für Brosamen vom Tisch des Herrn!

Am Ende Auszug, feierlich, wie sie gekommen waren, schritten sie wieder hinaus, aber alle schauten jetzt etwas milder und – nun ja, erhobener, sogar der Großinquisitor. Derweil zerstreute sich die Gemeinde sehr langsam, Familien machten mit ihren kleinen Prinzen und Prinzessinnen Foto-Shooting vor dem Altar, man schaute nach Bekannten umher, nach dem etwas spärlich geschmückten Weihnachtsbaum, und sogar mit dem nun wahrlich befreit strahlenden XXL-Priester durfte man Selfies machen am Ausgang, ein Priester zum Anfassen! Allein der Klavierspieler schlägt noch einmal voll in die Tasten, er sitzt vorn an einem eher bescheidenen Instrument und ist unzufrieden mit seiner Performance, jetzt will er zeigen, was er kann! Die Glocken läuten nicht, als wir vor die Tür treten. Es ist eine stille Nacht in Amerika.

Zuhause


Weihnachtsworte


Und da war Weihnachten wieder. Alle Jahre wieder saß man in der Kirche, etwas eingezwängt zwischen anderen Familien, die unbehaglich in ihren warmen Wintermänteln auf den harten Bänken hin- und herrückten und dann und wann einen verwirrten Blick auf die fremdartigen Texte im Gesangbuch warfen. Vorn leuchtete der Christbaum, mit einfachen großen Strohsternen geschmückt, und die Kerzen waren noch aus warmen gelben Wachs und flackerten in der freudig bewegten Weihnachtsluft. Hatten die anderen wohl schon beschert zuhause? Oder kam das Weihnachtsessen zuerst, dann die Kirche, und dann endlich, endlich, das Christkind selbst? Damals, als sie noch klein war, ging man natürlich zuerst in den Familiengottesdienst am späten Nachmittag, bei dem das Krippenspiel aufgeführt wurde. Sie war nie im Kindergottesdienst gewesen und durfte also nicht mitspielen. Das war ihr aber auch recht: So öffentlich vor all den Leuten zu stehen, vielleicht gar noch als tumber Hirte mit einem Schaffell-Flokati über den Schultern, dafür war sie viel zu schüchtern; ganz abgesehen davon, dass die Jungen sowieso immer die Hirten spielen mussten, die Mädchen aber durften Engel sein. Aber während sie so auf der harten Bank zappelte und die Christbaumlichter flackerten, träumte sie ihren ganz persönlichen Weihnachtswunschtraum: Einmal wollte sie selbst auf der Kanzel stehen und die Weihnachtsgeschichte vorlesen. Und sie würde beginnen mit den langvertrauten Worten, sehr langsam und sehr deutlich würde sie sie sagen und den schönen Rhythmus fließen lassen, der die Sätze dahintrug wie auf weichen Wellen: Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die aller-erste und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger von Syrien war. Und jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. Und es spielte gar keine Rolle, dass man weder Cyrenius kannte noch wusste, was ein Landpfleger in Syrien war – das waren die Worte, sie standen geschrieben und sie durften niemals verändert werden, sonst wäre Weihnachten nicht mehr das, was es alle Jahr wieder war. Und sie würde die ganze Geschichte vorlesen, jeden der vertrauten Verse: wie der Engel zu den Hirten kam und sagte „Fürchtet euch nicht!“, und wie kein Raum war in der Herberge für Josef, und Maria, seinem vertrauten Weibe, die war schwanger. Und alle würden ganz still zuhören, außer ein dummes Baby schrie dazwischen; aber damals war man noch der Meinung, dass Kinder sich zu benehmen hätte in der Kirche, gerade an Weihnachten, der stillen Nacht, der heiligen Nacht. Es kam jedoch niemals dazu, dass sie die heiligen Worte der Weihnachtsgeschichte vorlesen durfte, auch wenn sie es, davon war sie überzeugt, viel schöner gemacht hätte als der ältliche Pfarrer mit seiner durch Jahrzehnte von Weihnachtsgottesdiensten abgenutzten Pastoralstimme, deren Pathos allen Glanz verloren hatte. Es blieb ihr Traum, der Geist der vergangenen Weihnacht, und wenn ganz am Ende bei „O du fröhliche“ alle Lichter gelöscht wurden und nur noch die Kerzen flackerten, konnte man ihn zu Ende träumen.

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Und da war Weihnachten wieder, und nun war das eigene Kind geboren, und man besuchte eine andere Kirche. Das Kind ging zum Kindergottesdienst und natürlich durfte es auch beim Krippenspiel mitspielen. Und so erschien an dieser Weihnacht ein kleiner männlicher blonder Engel mit Zahnlücken, und die Mädels waren alle neidisch auf sein Flügelpaar, mit ganz echten weißen Federn, und sein mit goldenen Sternen übersätes, in weichen Falten bodenlang herabfallendes Gewand. Und der Engel erschien in der abgedunkelten Kirche in einem eher seltenen Moment der Stille – inzwischen war man der Meinung, dass Kinder auch im Gottesdienst herumlaufen durften, ja geradezu sollten, damit sie sich jederzeit frei entfalten konnten. Und weil man dem blonden Engel mit den Zahnlücken gesagt hatte, er müsse laut und deutlich ins umgehängte Mikrophon sprechen, schließlich sollten es ja alle hören, auch die schon etwas älteren Leute; und weil dieser Engel dazu neigte, vernünftig begründeten Anweisungen aufs Wort zu gehorchen; und weil schließlich das Mikrophon ausnahmsweise sogar funktionierte, schallte es nun voll und rund durch die Kirche: „Fürchtet euch nicht!“ Alle zuckten zusammen, nicht nur die Hirten. Aber es war nur ein kleiner Schreck, und man konnte sich gleich viel besser vorstellen, dass die Hirten wahrlich allen Grund hatten, erschreckt zu sein, wie sie da ahnungslos auf dem Feld lagerten und hüteten des Nachts ihre Herde.

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Und da war Weihnachten schon wieder, wieder in einer anderen Kirche, und inzwischen war man der Meinung, dass Krippenspiele zeitgemäß sein sollten: keine Jungen mehr als Hirten mit umgehängten Schafsfellteppichen, keine niedlich her-ausgeputzten Mädchen als Engelchen –Weihnachten spielte nun in einer kaputten Familie, von Arbeitslosigkeit und Scheidung bedroht, und das Weihnachtswunder brachte sie auf irgendeine etwas befremdliche Art wieder zusammen, keiner wusste auch nur fünf Minuten später noch, worum es eigentlich gegangen war. Es wurden auch keine heiligen Worte gesprochen, sondern ungeschickte, aber zweifellos gut gemeinte kleine Dialoge, und die meisten hatten sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, sie auswendig zu lernen; und wieder einmal funktionierte das Mikrophon nicht, und alle waren wirklich froh, wenn es vorbei war. Immerhin, manchmal kehrte man auch zurück zu der vertrauten Geschichte; aber dann spielte sicherlich ein besonders großer ungelenker Junge die Maria, und Josef war ein besonders zierliches Mädel, und man wollte lieber nicht wissen, was genau in der Krippe lag. Bei einem solchen Krippenspiel begab es sich nun, dass die Darsteller kleine Spielzeug-Schäfchen mitbringen sollten. Das Kind hatte, schon seit den ersten Babyjahren, ein Herzenslämmchen, das lange Jahre bei ihm schlief; es lang ganz ruhig da, die Vorderpfoten ausgestreckt, auf die es mit einem recht herzerweichenden, aber auch ein wenig verschmitzten Schafsblick herabblickte. Und das Kind durfte diesmal lesen, von der Kanzel herab vorlesen, es war der Geist der vergangenen Weihnachten geworden; schließlich hatte es ja auch gerade den Vorlesewettbewerb an der Grundschule gewonnen, obwohl er ein Junge war! Und das Kind sprach die heiligen Worte, wenn auch in einer inzwischen modernisierten, vielleicht aber noch nicht geschlechtergerechten Fassung, und rechts neben ihm lag, ganz ruhig mit Schafsblick, sein mitgebrachtes Lämmchen auf der Kanzel – was sollte es schließlich auch bei den Hirten, es war das Lämmchen eines ehema-ligen Verkündigungsengels mit Zahnlücken, und es lauschte nun aufmerksam und hingebungsvoll den laut und deutlich vorgetragenen heiligen Worten, wie wir alle dort unten. Und als dann der Pastor auf die Kanzel stieg und seine Weihnachts-predigt hielt – wahrscheinlich irgendetwas über die Hirten als soziale Outcasts, das war zu dieser Zeit der Klassiker –, war das Lämmchen liegen geblieben, und man konnte sich einbilden, dass der Pastor ab und zu einen etwas erstaunten Blick nach rechts unten auf das weiße wollige Etwas richtete, bevor er wieder zu seinem Text zurückkehrte. Aber vielleicht machte es seine Stimme etwas weicher, und man dachte, dass man viel öfter kleine weiße Lämmchen im Blick haben sollte, wenn man redete.

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Und da war Weihnachten wieder, und es war der Geist der gegenwärtigen Weihnacht. Dem Kindergottesdienst waren wir lang entwachsen, wahrscheinlich führten sie immer noch Krippenspiele auf, und man hoffte, dass der heilige Text vielleicht doch noch eine Rolle dabei spielte; aber wahrscheinlich wurde er nun gerappt, oder das Christkind bekam einen Facebook-Account zur Geburt von den Hirten, die heldenhaft für freies Internet auf ihrem Acker gekämpft hatten, und der Engel war ein multikultureller Bote aus dem Jenseits, aber keinesfalls mehr ein christliches Symbol einer höheren Himmelshierarchie, und er twitterte: #Heilandgeboren-cooldude! Und wieder saßen wir, zwischen immer noch erstaunlich großen, aber wahrscheinlich inzwischen durch Patchwork zusammengehaltenen Familien in modischen Wintermänteln auf immer noch harten, aber inzwischen geheizten Holzbänken; die Lieder bekam man nun auf kopierten Zetteln, aber die meisten kannten sowieso außer „O du fröhliche“ gar kein Weihnachtslied mehr. Es war das Jahr gewesen, in dem das Elend der Welt nach Europa kam; von Flüchtlingen und von nichts anderem hatten die Medien gesprochen in den letzten Wochen und Monaten, immer im pastoral durchzitterten Tonfall hoher moralischer Empörung; und ganz kurz vor Weihnachten hatte sich gar irgendeine Dschungelcamp-Berühmtheit hervorgewagt mit den Worten, Maria und Josef seien ja eigentlich auch Flüchtlinge gewesen, und so arm, dass sie im Stall hätten übernachten müssen! Nun gut, man hätte sich an dieser Stelle etwas mehr Vertrautheit mit dem heiligen Text wünschen können; dass Maria und Josef im Gegenteil auf dem Weg zu ihrem Geburtsort waren, einer kleine Stadt in Judäa, die da heißt Betlehem, da nun mal ein Gebot vom Kaiser Augustus ausgegangen war, dass alle Welt sich zählen ließe, war ihr wohl ebenso wenig gegenwärtig wie die Tatsache, dass schlicht kein Raum mehr war in der Herberge und nicht etwa alle Luxushotels unbezahlbar für einen armen Tischler mit seinem vertrauten Weibe Maria, die war schwanger. Dass Maria und Josef kurz nach der Geburt des Heilands tatsächlich fliehen muss-ten, nämlich nach Ägypten vor Herodes, der alle jüdischen Erstgeborenen kurzer-hand ermorden ließ, wäre die viel stärkere Geschichte gewesen; aber woher sollte man das auch wissen, wenn man gerade dem Dschungelcamp entronnen war! Es war einmal mehr der gute Wille, der zählte, nicht die unverständlichen Worte eines rettungslos veralteten heiligen Textes.

Aber das war zweifellos der Geist der gegenwärtigen Weihnacht, und wir alle fürchteten uns ein wenig vor der Predigt. Die Hirtenvariante würde uns zwar hoffentlich erspart bleiben, weil die Hirten keine Flüchtlinge waren, sondern höchs-tens Nomaden, aber sicher konnte man sich nicht sein, wer achtete schon auf solche Feinheiten der Überlieferung? Hingegen war eine Predigt über die drei Weisen aus dem Morgenlande ganz sicher nicht zu erwarten – ein allzu kolonial wirkender Gestus, zweifellos, mit dem hier kostbare und völlig unnütze Geschenke von her-ablassenden Bessergestellten überreicht wurden, und selbst wenn der eine von ihnen wirklich ein Farbiger war (oder wie sagte man gerade?), würde das diesen Teil der Geschichte nicht mehr retten. Es war also, aus gegebenem Anlass, ganz sicher eine Flüchtlingspredigt zu erwarten, auch wenn der Pastor uns hoffentlich nicht Maria und Josef als Flüchtlinge und Christus als minderjährigen Asylkandidaten präsentieren wurde.
Dass es dann anders kam, war ein kleines Weihnachtswunder. Denn der Pastor, mittleren Alters wie wir und vielleicht ja selbst überdrüssig der sozialkritischen Hirtenpredigten und der wohlmeinenden, aber leider fehlinformierten Korrektheits-Pirouetten, erzählte uns eine ganz andere Geschichte. Sie handelte von einem Ehepaar im Nachkriegsdeutschland – einen Moment zuckte man zusammen, sollte es jetzt gar eine Predigt zum Dritten Reich geben? –, aber die Geschichte nahm gleich zu Beginn eine unerwartete Wendung: Beide Eheleute waren bettelarm, das Land lag in Trümmern darnieder. Aber beide hatten, durchaus verständlich, Wünsche für Weihnachten: keine moralischen, keine sentimentalen, sondern durchaus handgreifliche Herzenswünsche – denn so ist der Mensch, die Welt liegt in Scherben um ihn herum, aber gerade deshalb hilft ein kleines funkelndes Etwas, auf das man seine Gedanken richten kann, ohne dass sie wehtun, und an dessen Schönheit man sich einen Moment, und dann immer wieder, erfreuen kann! Was die beiden sich genau wünschten, und wie sie sich dabei gegenseitig missverstanden und am Ende doch wieder verstanden, ist unwichtig und längst vergessen. Was aber den Geist dieser gegenwärtigen Weihnacht unvergesslich und unerwartet prägte, das war der Pastor, der, ganz ohne Lämmleins Beistand, eine Predigt über die Wohltaten des Schenkens hielt – des durchaus materialistischen Sich-Beschenkens mit Dingen! Denn das verteidigte er nun, gar nicht pastoral-pathetisch, sondern mit echtem Ernst in der Stimme, gegen die wohlfeilen Formeln der Konsumkritik – Wir haben doch schon alles! Wir können uns doch selbst kaufen, was wir uns wünschen! Ist es nicht der Geist der Weihnacht, der zählt? Weil es nämlich wichtig sei, darüber nachzudenken, was ein Anderer sich wünschen könnte. Weil Geschenke, egal ob sie gelingen oder nicht, nicht ein leerer Tauschvorgang, sondern eine Besinnung aufeinander seien: Nicht, weil ich es mir wert bin (dem Mantra des egoistischen alltäglichen Konsumrausches), sondern weil ein Anderer es mir wert ist. Menschen brauchen Dinge, könnte er gesagt haben, Symbole, selbst wenn sie schon alles haben; sie brauchen etwas, was man mit sich tragen kann und immer wieder einmal anschauen, wie das freundliche Lämmchen rechts unten, und dabei denken: Das habe ich geschenkt bekommen. Jemand hat an mich gedacht und dann auch gehandelt, nicht nur salbungsvoll von Beziehungen oder gar von Liebe geredet, dem am meisten missbrauchten Wort der Welt. Das ist ein schönes Gefühl, und man wünscht es jedem, Engeln und Hirten, Königen und Flüchtlingen gleichermaßen. Bei „O du fröhliche“ wurden dann die Lichter gelöscht, die inzwischen elektrischen Kerzen flackerten tapfer und gleichmäßig. Wir drückten dem Pastor besonders herzlich die Hand beim Hinaus-gehen; er sah etwas müde aus und nicht ganz gesund.

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Und Weihnachten wird wieder kommen, und dass der Geist der zukünftigen Weihnacht Frieden auf Erden sein sollte, wer wollte es nicht wünschen! Dass dieser Wunsch so bald nicht erfüllt werden wird, wissen nicht nur die Hirten auf dem Felde, sondern vor allem die Könige der Welt. Und es steht auch zu befürchten, dass bald gar niemand mehr mitsingt bei „O du Fröhliche“ – weil die „himmlischen Heere“ als zu militaristisch enttarnt wurden; oder weil keiner mehr weiß, was das komplizierte und viel zu lange Wort „gnadenbringend“ bedeuten soll; oder ganz einfach, weil noch nicht einmal mehr dieser einfache Text im Gedächtnis geblieben ist, und wenn das Licht gelöscht ist, kann man nichts mehr sehen auf den kopierten Zetteln, außer der fettgedruckten Aufforderung, sie ordnungsgemäß zu recyclen. (Handys sind auszuschalten!) Und deshalb gehe jede und jeder einher, alle Weihnacht wieder, nehme sein Herzenslämmchen zur Brust und besorge all seinen Liebsten die Geschenke, die sie verdient haben, selbst wenn sie sie im Einzel-fall nicht verdient haben mögen; und dann lese man die Schrift. 

Zuhause