ICH BIN, ALSO DENKE ICH!
Denkgeschichten
mit Gedankensprüngen, Denkbildern,
moralisch-polemischen Essays
und Argumenten-Evaluationen,
einigen Geistergesprächen und Parabeln
von Serena Heiter
Inhalt
STATT EINER EINLEITUNG
Ausgedacht. Archetypen des Denkers
A. HISTORISCHER TEIL
Sokrates und der Todesbeweis * Rousseau, der Paradoxenmacher * Kant, oder: Kopernikus in Königsberg * Friedrich Nietzsche und der ewige Mittag
II. Geister-Gespräche
Marx, Heidegger und Rilke treffen sich mit Hartmut Rosa im Weltinnenraum und schwingen sich ein wenig ein, oder: ein Resonanzbericht * Philosophieflüstereien, oder: Sanfte Disruptionen * Athene yawned. Philosophen-Quartett, weiblich * Walter Benjamins ‚Kritik der Gewalt‘, oder: Wie Wesentliches über Gewalt nicht gesagt wird * Singzikaden, oder: Mein day of the locust
III. Mission Minutiae, oder: Denkanstösse
B. POETISCHER TEIL: DENKBILDER
Ins Unreine gesprochen + Sprechklausel * Rede-Wendungen * Mit anderen Worten * Alles oder Nichts? * Gender-Wordstreaming * Ironie-Signale * Vorsicht Wortspiel! * Ideen-Sex * Denkversuche * Sym-Biose * Der Körper denkt * Exzellenzinitiative. Vom Abstieg einer Floskel * Train of thought * Tabula rasa * Kleider machen Leute * Teatro mundi * Hermeneutik als gutwillige Wissenschaft betrachtet * Will man mich verstehen * ICH
C. ANALYTISCHER TEIL. Gedankensprünge, oder: Erlebtes Denken
Vom Wert des kleinen Gedankens * Eingeborene * Die Ordnung mentaler Kleiderschränke * Das Gehirn braucht Bewegung * Gehirnoszillationen * Die Falten des Gehirns * What’s in a shoe * Handtaschen * Pubertätsverweigerung * Wahre Geschichten * Ein Lob auf Wikipedia, oder: Wie man findet, was man nie gesucht hat * Im Bergwerk des Geistes (Vorsicht, ausgebaute Metapher!) * Beschreibungssprachen * Das kleine Wörtchen „Mithin“, oder: philosophy in a nutshell * Highly Sensitive Persons, Clusters und der Unterschied zwischen einer HSP- und einer HUI-Philosophie * Shiri‘s scissor oder: An den Wurzeln der Moral zu sägen * Die Wonnen des Warum * Zielkonflikte * Paradoxenmacher, oder: Das Verschwinden der Widerspruchstoleranz * Als-ob, oder: Bilderblitze * Die normative Kraft des Faktischen * Die Freuden des Urteils * Von hinten gesehen * Fürwahrhalten * Der Sprung ins Urteil * Über Geschmack muss man streiten! * Menschliche Naturgewalten
D. POLEMISCHER TEIL
I. Argumenten-Evaluationen
Wert-Schätzungen. Gehässige Meditationen über missbrauchte Wörter * Kaufprämien * Opfer * Die Abholgesellschaft * Auf Augenhöhe herabgelassen * Gut aufgestellt oder gut aufgelegt? * In der Tiefe, oder: deep * Saubere Worte, oder: Serendipity * Superlative der Negativität * Gelegentlich. Wirklich! * Kriege, evaluiert * Rebooten * Die letzte Bastion * Unqualifizierte Gedanken
II. Rehabilitationen
Lob des Klaubens * Der arme Oberlehrer, oder: Von der Last, Recht zu haben * "Das wird man doch noch sagen dürfen!“ Die Meinungsfreiheit der Anderen * Die Notwendigkeit von Neiddebatten * Das ist aber populistisch! * Wer die Pfeife bläst * Rettet die Sekundärtugenden!
E. POPULARPHILOSOPHISCHER TEIL
Philosophie als Fenster zur Welt * Zarathustra in der Wellness-Oase * Marke und Metaphysik – Neue und alte Hinterwelten * Verwandlungen, Bekehrungen, Erwachen: der Sprung ins Leben * Und jedem Ende wohnt ein Zauber inne – vom guten Geist des Endes und des Anfangs
F. ALLEGORISCHER TEIL
I. Göttergeschichten
Hermes' kleine Sinnwerkstatt * Kassandra und die Wunschmaschine * Hephaistos hinkte * Sisyphos als Autor
II. Parabeln aus der Frühzeit der Menschheitsgeschichte
Die Parabel vom Kaffee- und Teeladen * Die Parabel vom Schuhmacher * Die Parabel vom Gärtner
G. DIDAKTISCHER TEIL
Das Projekt Pädagogische Provinz. Bericht für eine Anstalt
CODA
Kumulative Sündenfälle * Wer ist schuld? Zwölf Kandidaten für das blame game * Der Rückweg ins Paradies – eine nachgetragene Parabel
VOM WERT DES KLEINEN GEDANKENS
Das Problem mit kleinen Gedanken ist, dass sie ständig untergehen. Leute schreiben Bücher, literarische oder philosophische oder sachliche (so arg groß ist der Unterschied gar nicht), und sie packen alles hinein, was sie so wissen und denken und erlebt haben und mitteilen oder erklären möchten. Nun gut, das kann im Einzelnen unterschiedlich interessant oder wissenswert oder nützlich sein, und gerade neuere Bestseller leben doch sehr von der Wiederholung: Was man dem Leser zehnmal sagt, vergisst er vielleicht nicht, und wenn man es ihm zwanzigmal sagt, glaubt er es gar! Aber trotzdem stehen sehr viele Sätze in einem ganzen Buch, und wenn es jemand geschrieben hat, der sehr viel zu sagen hat, weil er viel erlebt und gedacht hat, und weil er gut darüber nachgedacht hat und weil er sich Mühe mit jedem einzelnen Satz gegeben hat und weil er überhaupt schreiben kann – dann geht viel verloren, dann geht, genau genommen, das meiste verloren. Denn niemand liest mehr einzelne Sätze, selbst wenn er noch ganze lange Bücher liest. Ich weiß zufällig, wovon ich spreche, da ich Literaturwissenschaften unterrichte und nun schon mehrere Generationen lesende (und leider auch nicht-lesende) Studenten erlebt habe. Der wesentliche Trend ist der zur Kürze. Lange Texte werden gar nicht mehr gelesen – womit schon ein ziemlich großer Teil der Weltliteratur unter den Tisch fällt; wenn es unbedingt sein muss, dann liest man halt die Zusammenfassung auf Wikipedia oder anderswo. Das, was noch gelesen wird, wird oberflächlich gelesen: Man will wissen, worum es geht und wie es ausgeht. Was dazwischen passiert, naja, vielleicht beim nächsten Mal, o.k.? Oder wenn es den Film gibt, die Doku zum Buch. Beim Lesen überliest man das meiste. Zum Beispiel Wörter, die man nicht kennt, oder, schlimmer noch, nur zu kennen meint; und wenn die Seminarleiterin dann tückisch nachfragt, was der geneigte Autor denn wohl hier mit ‚Geist‘ genau meint (der Artikel umfasst im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm, einem Unternehmen, dessen Länge geradezu astronomisch erscheint nach neueren Maßstäben, 150 Seiten), erntet sie verlegenes Schweigen. Na, weiß man doch, was gemeint ist! Lieber will man gleich zur Interpretation kommen, was insgesamt als eine Art eigene Meinung zu den im Buch verhandelten Inhalten verstanden wird, egal ob man dazu die nötige Reife oder den nötigen Verstand oder überhaupt eine entwickelte Urteilskraft hat. Aber da man schließlich die Schule mit einem Grundbaukasten an allgemein akzeptierten und immerwahren Meinungen verlassen hat (Frauen werden immer unterdrückt. Kritik ist immer gut. Herrschaft ist immer schlecht. Die Gesellschaft ist immer schuld. Alle Menschen wollen frei sein. Nur die Liebe zählt, usw.), muss man nur noch herausfinden, welche jetzt zum Text passt; und je weniger und je oberflächlicher man den Text gelesen hat, umso besser werden einige oder gar mehrere davon passen. Alle kleinen Wahrheiten jedoch, die sich in all den einzelnen Zeilen oder sogar zwischen ihnen tummeln, für die man sorgfältig lesen müsste, damit sie einem nicht entwischen, über die man zwischendurch meditieren könnte und die erst einen langen und großen Text lebendig machen – untergegangen für immer im großen Meinungsmeer, in dem nur die Haifische allgemein akzeptierter Banalitäten überleben. Im Leben jedoch sind die meisten von uns kleine Fische, die eigentlich dankbar sein sollten, wenn sie hier und da ein kleines Bröckchen finden, das uns das Leben verständlicher und interessanter macht; den Fetzen eines Gedankens, die Spur einer Idee, das vergehende Glitzern einer sehr kleinen Erleuchtung. Denn die großen Erleuchtungen führen meist in die Irre, es sind die kleinen, die zählen und wirken. Aber nein, wir bekommen Dosenfutter, vorgekaut, geschmacksneutral, in der großen Sparpackung. Lieber nicht so genau gucken, was draufsteht!
EINGEBORENE
Es ist gar nicht so leicht, mit Eingeborenen zu reden. Denn Eingeborene tendieren dazu anzunehmen, dass ihre kleine Welt allen bekannt ist. Sie selbst kennen schließlich keine andere und verdächtigen schon die Einwohner des Nachbardorfes schlimmer Dinge, weil ihr Dialekt um ein Haarbreit anders ist, jedenfalls bei einigen Worten. Ein typisches Telefonat eines Eingeborenen mit einem Ortsfremden geht deshalb so (bzw. ging so, diese Geschichte spielt in den guten alten Zeiten vor der Erfindung von Navigationssystemen, wo man noch einen Pfadfinder brauchte, um sich in schwäbischen Dörfern zurechtzufinden): Ja, schönen guten Tag, ich rufe an wegen des Hauses, das Sie vermieten. Wir würden es gern anschauen, gleich heute Nachmittag, wenn es geht. Das passt bei Ihnen? Prima! Können Sie uns sagen, wie wir dorthin kommen? Und dann beginnt die Odyssee, die durch ein leichtes Verständnisproblem angesichts des lokalen Dialektes in einer bestimmt sehr charakteristischen, aber Fremden in seinen Feinheiten nicht immer verständlichen Färbung noch erschwert wird. Wir sollen am See abbiegen? Äh, welchem See denn bitte? (wir befinden uns mitten in Schwaben, am Rand der schwäbischen Alb, die Felsen klettern nur so in die Höhe vor unserm inneren und bald auch äußeren Auge). Ach so, dem See halt, alles klar (Hilfe!!!). Also, wenn man in den Ort reinkommt, fährt man immer geradeaus – wie bitte, ach so ja, am Rathaus vorbei (welches Rathaus um Himmelswillen???), äh klar, und dann rechts. Bis zum See. Nee, dann noch weiter? Also am See vorbei, und dann zur Pizzeria (natürlich, eine Pizzeria!). Äh, Entschuldigung wo ist die Pizzeria genau? Hinterm See, alles klar, ach so beim Sportplatz. Ist der vielleicht bei der Schule? Nee, nicht, ach so, die Schule ist ganz auf der anderen Seite. Finden wir schon. Wenn‘s ein bisschen später wird, haben wir uns wahrscheinlich verfahren. Kann man gar nicht? Na gut, hoffen wir es. Bis später dann! Wir haben es gefunden. Wirklich. Wenn man da ist, macht es alles irgendwie Sinn, jedenfalls wenn man den See gefunden hat. Vorher könnte man aber auch eine Wegbeschreibung zum Mare Tranquilitatis auf dem Mond bekommen haben.
(Die Parabel erlaubt vielfache Anwendung).
DIE ORDNUNG MENTALER KLEIDERSCHRÄNKE
Ganz ähnlich ist es häufig, wenn man mit älteren Verwandten telefoniert. Sie fangen nämlich alle Geschichte – im Wesentlichen über Krankheiten und Todesfälle, das liegt halt am Alter – genau da an, wo man gerade in diesem Moment in der Handlung ist, und zwar meist mit den Worten: Und dann hat Tante Erna ja… Und es kann im dritten Akt sein, aber auch schon kurz vor dem fünften, der Katastrophe, wo auch immer: Da man selbst die Exposition verpasst hat und sowieso meist nur eine sehr unklare Vorstellung von der Person hat, die gerade die Hauptrolle spielt, fühlt man sich definitiv im falschen Film. Nachfragen hilft nur begrenzt, weil dann die Geschichte rückwärts abgespult wird, also vom fünften Akt zurück vielleicht bis zum zweiten, was immer noch sehr verwirrend ist. Und man möchte ja wirklich gern verstehen, aber unser Gehirn ist nun mal so eingerichtet, dass es Geschichten von Anfang bis Ende bearbeiten kann, aber nur sehr begrenzt vom Ende zum Anfang zurück. Eine der am meisten unterschätzten Verständnishürden ist nämlich, dass man beim anderen zuviel Wissen voraussetzt. Denn sobald unser eigenes Gehirn sich mühsam ein Bröckchen Wissen angeeignet hat – und welche Mühe macht es nicht, auch nur kleine Bröckchen Wissen zu verdauen, und ist es nicht bewundernswert, wie es sich das alles merkt, wie es unendlich viele verschiedene kleine Schubkästen hat, und manchmal sind sie verklemmt und man bekommt sie einfach nicht auf, und manchmal sind sie überfüllt und man muss sie gewaltsam löschen, verdrängen, zuschubsen –, sobald also ein Stück Welt unser eigen geworden ist und wir es eine Schublade gepackt haben, vergessen wir in der nächsten Sekunde, dass wir es vorher nicht gewusst haben (wie sollten wir uns das auch noch merken?). Wie kann man das nicht wissen? Völlig undenkbar. Liegt doch gleich unten im Schrank rechts, da wo schon immer die Taschentücher lagen, gleich neben den Unterhosen. Wo denn da die Logik ist? Gibt es nicht, war halt schon immer so. Die Welt wäre wirklich leichter zu verstehen, wenn wir alle den gleichen mentalen Kleiderschrank hätten (und die Pizzeria immer hinten am See läge).
DAS GEHIRN BRAUCHT BEWEGUNG
Wirklich komisch ist es allerdings, wenn man Dinge wiederfindet, von denen man gar nicht gewusst hat, dass man sie vergessen hat (klingt unlogisch? geht aber!). Ganz plötzlich also, man macht gerade nichts Besondere – und darauf kommt es hier an, gar nichts Besonderes also, man denkt nicht wirklich an etwas, das Gehirn läuft im Leerlauf, während man mechanisch die Schuhe putzt –, und plötzlich ist da eine Erinnerung. Das Bemerkenswerte an der Erinnerung ist, dass sie auch gar nichts Besonderes ist. Es ist einfach eine andere belanglose Situation, wie damals, als man in Korfu in diesem überfüllten Bus stand, und die Fahrt wollte kein Ende nehmen und dann – passierte mehr oder weniger gar nichts, jedenfalls hat man es vergessen. Weder der Auslöser noch die dadurch ausgelöste Erinnerung sind also von irgendeiner tieferen Bedeutung; sie sind beide gleichmäßig belanglos, flüchtig, zwei Fetzen Leben, für einen Moment verbunden durch einen sehr locker gestrickten Faden, der sich jeden Moment wieder auflösen kann. Ist vielleicht jede Erinnerung – und zwar jede, wirklich jede – eine Art Cocktail in unserem Hirn, in den die unterschiedlichsten Bestandteile eingegangen sind, und nie wieder wird man die gleiche Mischung erzeugen, es ist völlig unmöglich, aber vielleicht kann man durch ganz andere Bestandteile irgendwie einen ganz ähnlichen Geschmack erzeugen, und das eine hat nichts mit dem anderen zu tun, außer auf molekularer Basis vielleicht – aber wie soll man es wissen? Denn komischerweise bleibt auch die Verbindung nicht konstant, sondern löst sich wieder auf, und beim nächsten Mal wird es ein anderer frei vagabundierender Moment sein. Vielleicht sind es Irrläufer im Gehirn, befreite Socken, die ihre Schublade nicht mehr finden und nun auftauchen, sobald ganz entfernt von Beinen die Rede ist. Oder Füßen. Oder Strickwaren. Oder ganz etwas Anderem. Weil das Gehirn Bewegung braucht, es muss ja nirgendwo hinführen. – Wohingegen alle ‚bedeutenden‘ Momente in meinem Leben bzw. das, was man dafür hält, keinerlei tiefe Spuren hinterlassen haben, bei mir jedenfalls. Das mag damit zusammenhängen, dass man davon ja Fotos hat, und sobald man ein Foto zweimal angeschaut hat, überlagert es die authentische Erinnerung: Es rahmt sie hübsch ein und verstärkt die Farben, ein wenig mehr Tiefenschärfe ist nie falsch, und notfalls muss man halt hier und da retuschieren. Wenn man genug Fotos hat – und das ist nun schon seit geraumer Zeit ganz sicher bei allen Hochzeiten der Fall, wo man zwischendurch das Gefühl hat, die Hochzeit wird für die Fotos arrangiert, nicht umgekehrt, nur dass die Hauptdarsteller leider mäßig begabte Laienschauspieler sind –, dann kann man einen ganzen Film davon machen, allein im Kopf. Vielleicht aber kann man einige, weitgehend unberührte, wenn auch nicht 100 % authentische Erinnerungen retten. Es werden die an die unbedeutenden Momente sein, die am Rand stattfanden, als man gerade nicht damit beschäftigt war, eine Rolle zu spielen.
Wenn man allerdings etwas liest, und man ist sich nicht ganz sicher, ob man es schon einmal gelesen hat, gerät das Gehirn in einen seltsamen Zustand (besonders gut lässt sich das bei wiederholter Krimilektüre beobachten): Es oszilliert, und zwar auf eine ziemlich chaotische und unbestimmte und insgesamt beunruhigende Art. Denn während der Lektüre, bei jedem einzelnen Satz, nagt an einem ein Gedanke im Hinterkopf: Es kommt mir bekannt vor. Ich kann es nicht genau sagen. Irgendwas kenne ich. Oder doch nicht? Lesen wir noch einen Satz. Nein, kenne ich nicht. Oder doch? Der Zustand, der dabei entsteht, ist ziemlich unangenehm, und allein das Entstehen dieses Zustandes signalisiert mir inzwischen, dass ich etwas lese, was ich schon einmal gelesen habe. Ich habe null Erinnerung an die Handlung, ich könnte niemals sagen, wie es ausgeht, noch nicht einmal einzelne Figuren benennen – aber es oszilliert im Kopf, das Gehirn weiß nicht, ob es die Informationen als neu oder bekannt verwerten soll, und es versucht beides auf einmal. Es ist, als würde es nacheinander in allen Schubladen graben, aber es findet die passende Socke nicht. Man muss schnell damit aufhören, sonst kommen nachher noch alle Socken durcheinander.
Wie alle guten Schülerinnen habe ich eine Zeitlang Nachhilfestunden gegeben. Außerdem habe ich einen gar nicht so unbeträchtlichen Teil meiner Schulzeit damit verbracht, meiner besten Freundin – einer weder besonders fleißigen noch besonders wissbegierigen noch besonders aufnahmefähigen Schülerin (sie hatte andere Qualitäten, aber das ist eine andere Geschichte) – vor Klassenarbeiten den Stoff noch einmal zu erklären; sehr gründlich, von Anfang an, in immer neuen Sätzen, Ansätzen, Beispielen, Variationen. Aber, und das machte mich damals schon stutzig: Es half nicht wirklich. Ich gab mir große Mühe, es war doch alles gar nicht so schwer; selbst wenn man es im Unterricht nicht genau verstanden hatte, wollten die Lehrer doch nicht mehr von einem, als einfache Regeln auf einfache Fälle anzuwenden, ein Weniges auswendig zu lernen und folgsam, allenfalls mit minimalen Variationen, zu wiederholen, was sie uns erzählt hatten. Aber es funktionierte nicht. Natürlich lernte ich selbst unendlich viel in diesen etwas mürbe vergehenden Stunden, auch wenn mir das damals sicher nicht besonders auffiel: einer Sache auf den Grund zu gehen, ihre einfache Logik zu finden, ihre Folgen zu entdecken – und sie dann, wenn man sie wirklich und von Grund auf erfasst hatte, so oft zu drehen und zu wenden, bis man sie auch von allen Seiten kennengelernt hatte; und sie dabei in eigene Wörter zu packen, in immer wieder ein wenig anders gewandete Sätze, sie dadurch zu einer persönlichen Wahrheit (oder wenigstens Gewissheit) zu machen – was war das nützlich und großartig und eine Lehre! Wahrscheinlich hätte ich mich bedanken sollen bei Monika (so hieß sie, es waren aber noch eine ganze Reihe weiterer Namen, und sie bezahlte sowieso auf ihre Art und Weise). Aber ich verzweifelte nur still vor mich hin: Wie war es möglich, dass eine Sache, die mir so vollendet klar und durchsichtig erschien und die ich in ordentlich aufeinander aufbauenden Sätzen darstellte, die sich vollendet logisch aneinanderschlossen – wie war es möglich, hier nicht zu verstehen? Ich konnte das Unverständnis nicht verstehen, ich stieß mir das Gehirn wund an dieser prinzipiellen Möglichkeit des Nicht-Verstehens, sie stellte, wenn man es ganz groß sagen will, mein Weltbild in Frage: Logik musste jeder verstehen. Kausalität. Folgerichtiges Denken. Wie konnte die Welt überhaupt funktionieren, wenn das nicht funktionierte? (Natürlich ist es genau das einer der Gründe dafür, dass sie nicht besonders gut funktioniert, jedenfalls in den Teilen, die Menschen machen).
Heute bin ich, mühevoll genug, näher daran gekommen, Unverständnis zu verstehen, aber nur näher, noch nicht im Grunde. Es hat wohl nicht nur damit zu tun, dass Menschen manchmal nicht verstehen wollen – zum Beispiel, weil sie keinen Vorteil davon haben, ja vielleicht sogar einen Nachteil, auch wenn das einer der Hauptgründe sein mag: Eigeninteresse macht, auf manchmal erstaunliche Art und Weise, blind und taub und resistent gegen jede Art von Argumentation. Es hat auch nicht nur damit zu tun, dass sie sich nicht genug Mühe geben; alle Erkenntnis ist Arbeit, und manche Menschen arbeiten eben gern und andere eher nicht. Nein, ein weiterer Grund für dieses Nicht-Verstehen-Können des doch anscheinend so Einfach-Verständlichen scheint mir zu sein, dass das Gehirn ein Gewohnheitstier ist. Eine Maschine, die am liebsten das tut, was man ihr beigebracht hat, und zwar mit dem niedrigstmöglichen Energiebedarf. Die wesentlichen Routinen werden, wie alles am Menschen, wahrscheinlich sehr früh ausgebildet, zu einer Zeit, in der wir selbst kaum einen Einfluss darauf haben; und es ist eine der großen Tragödien des Menschseins, wenn es solche überhaupt gibt, dass wir in dem Moment, wo wir anfangen, uns selbst zu verstehen, und wo wir, vielleicht, planen können oder wollen, was aus uns werden soll – dass in diesem Moment schon das meiste geschehen ist. Natürlich, wir lernen lebenslang, natürlich, das Gehirn bleibt plastisch, natürlich können wir uns trainieren und üben und entwickeln und steigern; aber nur innerhalb gewisser Grenzen, die vielleicht, wahrscheinlich, schon sehr früh gezogen wurden. Und wenn das Gehirn schon sehr früh nicht dazu angeregt wurde, beweglich zu sein, Folgerungen zu ziehen, verstehen zu wollen – dann wird es jede Bewegung als Zumutung empfinden, gegen die es zu bewährten Abwehrmaßnahmen greift: blockieren, mauern, ablenken, abschalten – verstehe ich nicht, echt nicht, ich kapiere auch gar nicht, wozu das gut sein soll, lass uns erst mal Pause machen! Hingegen hält es die wenigen Dinge, die sich ihm früh eingeprägt haben, mit außerordentlicher Sturheit fest. Es können sehr einfache Falten sein, die aber gründlich und tief eingegraben sind, von der Schärfe einer mit Stärke wieder und wieder gefestigten Bügelfalte, und alles spätere Bügeln hilft und hilft nicht, es bleiben immer die Spuren, das Bügeleisen fällt von selbst wieder in die gewohnten Bahnen. Man kann ein Gehirn nicht zwingen, etwas Bestimmtes zu denken, und wenn es noch so richtig und folge-richtig dazu ist. Es ist ein lebendiges Wesen und es verweigert einfach die Gefolgschaft. Nee, verstehe ich nicht. Können wir über etwas andres reden? Nee, auch nicht, wenn du es mir noch dreimal erklärst. Finde ich nicht logisch!
Es mag wohl sein, dass die Logik – nun ja, kein gutes Bügeleisen ist. Sie kann sicherlich scharfe Falten machen, aber sie passt sich nicht den Windungen des individuellen Gehirns an, seinen ungleichmäßigen Oberflächen und versteckten Winkeln. Und sie glättet auch nicht, sie bügelt Probleme nicht unter, sondern sie wirft auf, Fragen nach den Ursachen, nach den Folgen, nach dem Gang der Dinge, wie sie ihn gehen in der Realität und unabhängig von den Wegen, die ein bestimmtes Gehirn nun einmal lieber geht, weil es sie doch gewohnt ist. Dass es Abkürzungen geben mag, Querverbindungen, Entdeckungsreisen in noch unentdeckte Länder – interessiert nur den, der den Reiz des Unbekannten höher schätzt als die Bequemlichkeit des Gehirns, das lieber faul auf dem Sofa liegt und die Synapsen schont und gern einmal ganz abschaltet und sich berieseln lässt.
Man muss also nicht nur Lernen gelernt haben, man muss es früh gelernt haben. Man muss nicht nur verstanden, man muss empfunden haben, dass ein folgerichtiger Zusammenhang nicht nur eine Befriedigung (durchaus im Sinne von: etwas, was einem Frieden verschafft), sondern sogar eine Freude ist, er ist schön und sinnvoll und immer wieder nachvollziehbar und verlässlich. Man muss nicht nur erkannt, sondern erlebt haben, dass man nicht nur für den Lehrer und die Noten lernt (was wirklich doof ist und keinerlei Freude macht, außer man liebt den Lehrer ein wenig), sondern dafür, dass das eigene Gehirn: sich ent-faltet. Denken kann eine Belohnung sein; vielleicht ist es sogar die einzige, deren Wert sich nicht erschöpft und abnutzt, sondern immer wieder vervielfacht.
Man sieht es immer an den Schuhen. Manchmal nämlich, wenn ich auf die S-Bahn warte und keine Lust habe, wie alle anderen auf meinem Smartphone herumzuspielen, und ich habe auch schon alle Nachrichten gelesen und kann wirklich keine weiteren Informationen über den fatalen Zustand dieser Welt verarbeiten, noch nicht einmal diejenigen, die mir einreden wollen, es sei alles gar nicht so fatal – dann schaue ich Leute an. Menschen. Das ist ziemlich ungewöhnlich, und die meisten gucken sehr verunsichert zurück, wenn sie mich dabei erwischen. Mein Spiel geht so, und es ist leider nicht besonders menschenfreundlich: Ich gucke, welches Problem eine Person hat. Irgendeine Person, nicht nur die offensichtlich auffälligen. Jede und jeder hat ein Problem, da nehme ich mich nicht aus, oh nein, ich habe einen ganzen Stapel davon, und wie alle anderen versuche ich, sie zu verbergen. Aber das klappt unterschiedlich gut, auch bei mir. Und ich weiß natürlich, woran man mein Problem erkennt, aber ich kann es nicht ändern, ich will es auch gar nicht; denn man würde es sowieso merken, wenn auch vielleicht nicht an den Schuhen. Im Allgemeinen aber sind Schuhe, das kriegt man mit der Zeit raus, ein guter Problem-Indikator. Denn viele Leute gehen als ganz unauffällig durch, sie sind alters- und wettergemäß gekleidet, oder für den Beruf, oder sie haben sich hübsch gemacht, weil sie ausgehen, was auch immer: Das meiste passt. Bis man die Schuhe sieht. Manchmal haben sie eine grellbunte Farbe, sie schreien geradezu: Ich bin eigentlich anders, ich bin unangepasst und originell, seht doch nur, seht auf meine Schuhe, ich bin eigentlich gar nicht so, wie ich mich von Kopf bis Knöchel vermummt habe, weil irgendjemand es so von mir erwartet! Manchmal, vor allem bei Frauen, sind sie zu elegant; sie erfordern einen schönen Frauenfuß, schlanke Knöchel, einen bestimmten Gang, ja sogar einen bestimmten Blick – aber nichts davon haben diese Frauen, sie hätten es nur so unendlich gern, und ich verstehe es sehr gut: Einmal in meinem Leben, ich war ungefähr 14 oder 15 Jahre alt und wahrscheinlich war das schon so ziemlich der Höhepunkt meiner pubertären Extravaganzen, habe ich mir weiße Lederstiefel gekauft, sie hatten sogar Absätze! (ich war damals schon ziemlich groß für ein Mädchen und machte mich lieber klein, und was war ich später froh darüber, eine große Frau geworden zu sein!) Ich weiß noch nicht einmal, was ich damit eigentlich sagen wollte, und meine Mutter hat mich sehr seltsam angeschaut. Aber ich habe sie nur einmal getragen, danach ging es einfach nicht mehr. Es war ein Versehen gewesen, ich hatte mich kurzfristig offenbar für eine andere Person gehalten, und es tat mir sehr leid um das Geld.
Es gibt aber auch das andere Extrem, bei Frauen und bei Männern, und zwar das, was die Engländer in ihrer großen sprachlichen Prägnanz sensible shoes nennen; ‚vernünftige Schuhe‘, würde man übersetzen, es hat auch einen schönen Beiklang von fühlbar, sinnvoll, angemessen, fußgerecht eben. Sensible shoes werden aber gelegentlich auch getragen von Männern oder Frauen, die sonst nicht besonders vernünftig gekleidet sind; offenbar müssen sie diese Anzüge tragen, schlechtsitzend und schlechtriechend, oder diese Hosenanzüge, die unter den Achseln kneifen, die Blusen, die etwas zu eng sind, und eine völlig unnütze, viel zu große und mit endlosen Schnallen und Verschlüssen versehene Handtasche dazu; aber wenigstens kann man, ganz unauffällig, dabei vernünftige Schuhe tragen. Wird schon keinem auffallen. Tut es aber doch, Vernunft fällt immer auf, jedenfalls wenn man hinschaut. Ganz besonders auffällig, aber eher selten sind natürlich handgefertigte Schuhe, die nur von Männern eines bestimmten Alters getragen werden; aber das passt meist zu ihnen, wenn man genau hinschaut, sieht man, dass der Anzug auch nicht von der Stange ist und die Frisur messerscharf geschnitten – also keine Überraschung. Designerschuhe gehen sowieso immer, da regelt schon der Preis, dass sie nicht an den falschen Fuß kommen. Auch Birkenstock ist und bleibt Birkenstock und enttarnt einen im Ausland sofort zuverlässig als ordentlichen Deutschen, ebenso wie Wanderschuhe, besonders auf Wanderwegen. Wohingegen Flipflops offensichtlich ein kollektiver internationaler Wahnsinn sind; man kann gerade noch verstehen, dass Füße gerne frische Luft haben, aber jedes Kind weiß, dass Flipflops zwischen den Zehen einschneiden und komische schmatzende Geräusche beim Gehen machen. Offensichtlich sind sie so obercool, dass jede Vernunft sofort das Weite und schnell wieder den nächsten potentiellen Träger von sensible shoes sucht. Nur sehr selten aber sieht man noch Schuhe, die mit einem gewissen Alter ihrem Träger ähnlich geworden sind: Seine Bewegungen haben sie geformt, sein Gang hat sich in ihnen abgedrückt, sie haben ein paar Narben und Schrammen, ehrlich erlaufen, ihre Farbe verschwimmt ins Undefinierbare. Man kann sich eigentlich gar nicht vorstellen, dass sie ihren Fuß noch jemals verlassen; sie sind mit ihm verwachsen, verschmolzen zu einer Einheit.
Charakter muss nicht schön sein. Aber man sieht ihn, oder das, was man dafür hält, an den Schuhen.
Wenn es übrigens irgendein Kleidungsstück gibt, dass die Emanzipation der Frau um Jahrzehnte zurückgeworfen hat, sind es Handtaschen – und ja, sie gehören zur vollständigen Bekleidung der modernen Frau, und deshalb muss man ja auch mehrere davon haben, damit sie immer zum Rest der Kleidung passen. Seit einigen Jahren diktierte die unbarmherzige Mode nun besonders große klobige Handtaschen. Sie sind eher über dem Ellenbogen als über der Schulter zu tragen, was den rechten Arm schon einmal ziemlich stilllegt für alle anderen Aktivitäten. Vielleicht kann man dann noch ein Smartphone bedienen (das natürlich auch ein Accessoire ist), aber man kann mit Sicherheit nichts mehr arbeiten, man kann noch nicht mal den Arm richtig schlenkern. Eine solche Handtasche zwingt frau auch einen gewissen Gang auf; es sieht total blöd aus, wenn man solch ein massiv beklunkertes Dinge am Arm hängen hat und dann daher schlurft oder springt, man hat damit damenhaft zu gehen, es schreit geradezu nach einer bestimmten Art Schuh als Ergänzung, und die Heels können eigentlich gar nicht hoch genug sein, damit die total emanzipierte Karrierefrau elegant daherstöckelt, bewaffnet mit ihrer Handtasche, die eher ein Klotz am Arm ist, und ihren Schuhen, die eher ein Gesundheitsrisiko sind. Zudem sind die Dinger größtenteils wirklich hässlich – bis auf die klassisch-eleganten natürlich, aber da bezahlt man auch heftig dafür, dass der Designer sich zusammengerissen hat und allen blöden Schnickschnack weggelassen. Sonst haben sie gern so viel Schnallen, Verschlüsse, Nieten, Fransen, Schleifen, wie man sich nur ausdenken kann. Oder Logos, ich habe nie kapiert, was an ins Endlose wiederholten Initialen toll sein soll, wenn es noch nicht mal die eigenen sind; soll es demonstrieren, dass man lesen kann? Nichts davon hat den geringsten Nutzen; es ist reine Verzierung um der Verzierung willen, und was sagt uns das nun über das Frauenbild, das sich angesichts einer solchen Handtaschenträgerin aufdrängt? Unnütz, nur zur Verzierung gut, wahrscheinlich demnächst aus der Mode, muss man eine neue (Frau) kaufen. Wie sollte man auch mit aufmontierten künstlichen Fingernägeln, einer weiteren Großtat zur Verhinderung wahrer Emanzipation, etwas anders anfassen als mit spitzen Fingern? Schuhe, die nicht zum Laufen gemacht sind, Finger, die nicht zum Zufassen taugen, Taschen, die Beute-Beutel fürs Shopping und Behälter fürs Ego sind sind – und alles kostet auch noch Geld und will ständig gepflegt und ausgetauscht werden, Zeit und Geld, die man für nützliche Dinge verwenden könnte! Ist es nicht genial?
Die Steigerung von Unterdrückungshandtaschen sind übrigens Clutches. Frau ist endgültig gefesselt, die Tasche muss gehalten werden, die ganze Zeit. Wir wussten es damals nicht, aber Rucksäcke sind ein Zeichen wahrer Emanzipation.
Gelegentlich sieht man heutzutage, dass Kinder ihre Eltern erziehen. Das kann in jedem Alter vorkommen, meistens jedoch sind es Jugendliche. Es scheint eine Art von Trotzreaktion darauf zu sein, dass man heute als Jugendlicher, vor allem im aufgeklärten, besserverdienenden und fortschrittlicher denkenden Familienmilieu, geradezu verpflichtet ist, ‚Pubertät‘ zu haben. Unvernünftig zu sein, zu rebellieren, gegen die Eltern zu trotzen, gegen das establishment, gegen alles. Ohne Grund, einfach so, weil das Gehirn ja bekanntlich umgebaut wird und die Hormone verrücktspielen. Tatsächlich jedoch kann die Pubertät auch mehr oder weniger ausfallen, oder später stattfinden, oder sie äußert sich in einem Anfall außerordentlicher Vernünftigkeit: Dann erkennt man nämlich, dass der maximale Trotz gegen die planmäßig erwartete Unvernunft ist, sie zu verweigern, ja geradezu gnadenlos vernünftig zu sein und im Notfall sogar gegenüber den Eltern deren eigene Erziehungsmaximen einzufordern (warum habt ihr wieder nicht aufgeräumt? wie sieht es denn hier aus? müsst ihr wirklich schon wieder so viel Wein trinken?)! Man geht allerdings ein erhöhtes Risiko ein, zur Psychotherapie geschickt zu werden: Schließlich kann es nicht sein, dass jemand einfach so ohne Grund vernünftig ist, wahrscheinlich unterdrückt und verdrängt sie nur alles, und das ist ja so viel gefährlicher als ordentlich gelebte Unvernunft! Aber wenn das Gehirn sich noch ein Stück weiter umgebaut hat, erkennt es sogar, warum alle so interessiert daran sind, dass Jugendliche Pubertät haben: Alles, was einem selbst einen Grund liefert, ebenfalls nicht vernünftig zu sein, wird gern befördert. Weshalb schon kleine Kinder gelegentlich vernünftiger sein können als ihre Eltern und gerade keinen Trotzanfall vor der Supermarktkasse kriegen: Weil nämlich eigentlich die Großen das Schokoladen-Überraschungsei wollen, und nein, man hat wirklich keine Lust auf Schokolade, und meist ist sowieso was ganz Doofes drin, und wenn ihr eins haben wollt, kauft doch selbst eines! Das Kind im Kind kann ein ganz anderes sein als das Kind im Erwachsenen, das allzu häufig eine Art Zombie ist, den man nicht sterben lässt, weil er noch ge- oder vielmehr: missbraucht werden könnte (jedenfalls bis die Midlife-Crisis kommt. Oder die Wechseljahre. Oder die Altersschwäche).
Die Welt wurde angeblich völlig überrascht von dem Erfolg von Twitter und den social media insgesamt; genauer gesagt: von dem hype, den das völlig Unbedeutende, Alltägliche, Belanglose, Triviale und Ultimativ Langweilige erzeugen kann, sobald es jemand online stellt. Er ist aber gar nicht so überraschend. Denn wer beispielsweise ein erfahrener Leser ist – also, von Büchern, den alten und eher unsozialen Print-Medien mit sehr eingeschränkter Öffentlichkeit –, weiß, dass er Bücher mit wirklich geschehenen Geschichten anders liest als solche mit erfundenen Geschichten – Autobiographien beispielsweise, die sich deshalb immer wie frisches Brot verkaufen, selbst wenn es sich nicht um einen Popstar oder Fußballprofi oder den Papst handelt. Man liest sie, und die Forschung sollte das wirklich einmal genauer untersuchen, neurophysiologisch mit einem inneren Realitätsmarker, der besagt: Hey, guck mal, ist wirklich passiert! Und schon wird die ganze Geschichte, so langweilig sie sonst sein mag, irgendwie mit Bedeutung aufgeladen, man kann sich gar nicht dagegen wehren. Realität ist einfach interessanter, ja sogar spannender als Fiktion, und wenn Literaturwissenschaftler das Gegenteil behaupten, sollte man sich vor Augen halten, dass sie vielleicht persönlich nicht ganz uninteressiert genau diese These behaupten, da das Gegenteil sie offensichtlich ihres Spezialistenstatus entkleiden würde und insgesamt eigentlich überflüssig machen. Denn nur wenn es gelebtes Leben ist, was die Literatur interessant macht, kann die Literatur auch das Leben interessant machen, und dadurch werden wir alle zu Spezialisten. Natürlich nicht zu Autoren, das wäre nun etwas viel verlangt; aber andererseits erzählen wir uns auch selbst unser eigenes Leben gern als Geschichte, und seit es die social media gibt, hören und sehen einem sogar Leute dabei zu. Und vielleicht ist es auch kein Zufall, dass komische Literatenworte wie ‚episch‘ oder ‚Narrativ‘ oder ‚ikonisch‘ seit Neuestem aus dem Wissenschaftszoo ausgebrochen sind und nun in freier Wildbahn gesichtet werden, auch wenn sie dort gelegentlich falsch gefüttert und sonstwie missbraucht werden. Nein, tatsächlich lieben wir wahre Geschichten – weil sie wahr sind, nicht weil sie spannend sind. Fiktion ist ein Missverständnis.
EIN LOB AUF WIKIPEDIA, ODER: WIE MAN FINDET, WAS MAN NIE GESUCHT HAT
Nicht nur die besten Geschichten sind gar nicht erfunden, sondern irgend jemand wirklich passiert, sondern auch die besten Gedanken sind gar nicht ‚ausgedacht‘, sondern verborgen im Dickicht des Realen. Oft passiert es mir, dass ich einen kleinen Gedankensprung aufschreiben will, irgendetwas, das mir vage bemerkenswert und deutungsfähig erscheint, und noch im Schreiben komme ich im nächsten Schritt auf etwas, das ich erst einmal in Wikipedia nachschauen muss. Eine Realie; ein Ereignis, eine Formel, was auch immer. Dinge, die eine Existenz haben außerhalb von Geschichten und Gedanken. Manchmal auch ein Fachbegriff, ein Fremdwort, also ein mit Sachgehalt angereichertes und von Gefühlsgehalten weitgehend befreites Wort. Und oft lerne ich dann etwas, was ich vorher nicht wusste, noch nicht einmal ahnte. Es passt aber, so stellt sich dann heraus, ganz wunderbar in den kleinen Gedankensprung, es gibt ihm eine neue Spiegelung oder eine andere Tiefe, und niemals hätte ich mir das ausdenken können, was das versammelte konkrete Wissen der Menschheit an Schätzen bereithält! Das Problem ist nur, dass nie jemand ordentlich hinschaut, sondern dass zu viele zu hochnäsig dafür sind (die Wikipedia-Verächter unter den Gebildeten etwa). Selbst aus einem schlechten Wikipedia-Artikel kann man manchmal mehr lernen als aus einem auch nur mittelmäßigen Vortrag, der Halb-Gewusstes, Kaum-Verstandenes und Gern-Geglaubtes moralingeladen widerkäut, und alle nicken erfreut, puuh, zum Glück wieder kein neuer Gedanke, das verunsichert ja so! Nein, Wikipedia ist wortgewordene Schwarmintelligenz, und hyperlinks zeigen uns Gewohnheits- und Oberflächendenkern, wie die Welt untergründig zusammenhängt, und zwar in den Sachen, nicht in den Worten oder Gedanken, auf die wir uns so viel einbilden. Man kann durch Wikipedia ganze Weltreisen machen, auf hyperlinks ist man ebenso schnell auf dem entlegensten Stern des Universums wie in den undurchsichtigen Tiefen der Weltmeere, und siehe da – und ich schwöre, ich habe zuerst diesen Satz hingeschrieben, völlig an den Haaren herbeigezogen, es ging mir nur darum, möglichst weit räumlich und zeitlich Entlegenes zusammenzubringen, Wikipedia aber weiß: Es gibt ganz unten in der Tiefsee, wo sie am tiefsten und schwärzesten ist, sognannte ‚schwarze und weiße Raucher‘ (und schon schlug mein Herz ein wenig höher, denn: wenn es schwarze Löcher im Universum gibt, gibt es vielleicht auch weiße?), es sind hydrothermale Quellen, ich erkläre jetzt mal nicht, was das ist, sonst führt uns der nächste hyperlink zum übernächsten – jedenfalls stellen diese hydrothermalen Felder in der Nähe von Schwarzen Rauchern Umweltbedingungen her, die denen außergewöhnlich ähneln, wie sie zur Zeit der Entstehung des Lebens auf der Erde geherrscht haben sollen: Vulkanismus, hohe Temperaturen mit hohem Druck, wenig Licht, umso mehr anorganische Stoffe. Und schon sieht man eine Verbindung zwischen der Tiefsee und dem Universum (na gut: der frühen Erdgeschichte als Teil des Universums, aber wer weiß, vielleicht ist ja auch anderswo Leben geboren worden aus ‚Schwarzen Rauchern‘, wir haben es nur noch nicht gefunden?); eine Verbindung, die nicht ausgedacht ist, keine Metapher und keine Spekulation. (Nur einen hyperlink von den hydrothermalen Feldern weiter übrigens kommt man zu den ‚Ruschelzonen‘, und das darf jetzt jede selbst nachschauen!). Wikipedia kann sogar das Vage einfangen: Abends lernte ich von meinem Sohn, dass Leute, die Vögel beobachten und bestimmen (birdspotter) eine Kategorie für alles kleine, braune und sich irgendwie allzu ähnliche haben, nämlich den little brown bird. Es ist eine Kategorie für das, was sich der Kategorisierung wegen allzu großer Unspezifik entzieht, ist das nicht interessant? Im Weiteren verweist Wikipedia auch auf damned yellow composite, also kleine irgendwie vage gelbe Blumen, die alle mehr oder weniger genauso aussehen. Vielleicht sollte man eine vergleichbare Kategorie einrichten für ‚metaphysische Absolutbegriffe‘, also: Freiheit-Vernunft-Absolutes-Unendliches-Weltgeist und den ganzen Anhang? Lauter Konzepte, die noch nie in freier Wildbahn beobachtet wurden, aber ein sehr ähnliches Verhalten aufweisen, sobald sie einmal einen Text oder einen Autor in ihre Klauen bekommen haben: Jede Differenzierung geht dahin, und man befindet sich fortan im freien Fallmodus des haltlosen Spekulierens, wo im Milieu des Absoluten alle Farben entweder grellweiß oder nachtschwarz sind. Im Hintergrund entwischen die kleinen Erkenntnisse, die man nur findet, wenn man gut beobachtet und einen Sinn auch für das hat, was sich verdeckt und heimlich zeigt. Dem aber, der partout an den ‚Geist‘ glauben will – ist auch mit Wikipedia nicht zu helfen.
Manchmal habe ich beim Denken das Gefühl – und ich meine nicht ein gefühliges Gefühl, sondern eher eine beinahe-sinnliche Wahrnehmung –, dass ich gegen eine Wand anrenne. Etwas leistet Widerstand, energisch, hart. Der Gedanke, der sich gerade in meinem Kopf gegen etliche Konkurrenten durchgeboxt hat, möchte gern in eine Richtung weitergehen, aber er soll offensichtlich nicht. Wenn ich dann gerade genug Energie übrighabe und die ablenkenden Sparringspartner noch erschöpft am Boden liegen, denke ich: Trotzdem! Jetzt erst recht! Wenn der Kopf durch die Wand will, dann soll er sich halt Beulen holen, dieser blöde Gedanke! Aber vielleicht, vielleicht ist hinter der Wand ja eine Goldader. Oder was anderes Wertvolles, es ist ja nicht alles Gold, was glänzt. Seltene Erden vielleiht, auf denen seltene Erkenntnisse reifen können (ich weiß, das Seltene Erden nichts mit Erde zu tun haben, sie sind im strengen Sinne weder Erden, sondern Metalle, und einige sind auch nicht besonders selten, aber wenn eine ausgebaute Metapher nicht manchmal hinkt, ist sie auch nur langweilig). Wegen mir auch nur Katzengold, das Wort habe ich schon immer gemocht (und ist es nicht interessant, dass man Pyrit auch ‚Narrengold‘ nennt?). Bergkristalle, ganz unscheinbare Schönheiten. Einmal, und ich erzähle die Geschichte nur, weil sie ein Seitengang ist, der sich leicht anbietet, und weil sie nicht groß genug für eine wirkliche Geschichte ist, die auf eigenen Beinen stehen kann; einmal also war ich mit meinem Vater und seinem Büro auf Reisen. Man fuhr nicht allzu weit fort, man hatte gesellige Abende, und man bekam belehrende Vorträge. Unsere Mutter mochte das nicht, vor allem das Reisen, ich war die Ersatzbesetzung. Einmal also besuchten wir irgendein belehrendes Bergwerk, keine Ahnung mehr wo, jedenfalls gab es dazu einen Shop, und mein Vater wollte mir ein kleines Schmuckstück kaufen. Ich leistete ziemlich energisch Widerstand, ich trug damals keinen Schmuck, schließlich war ich jung, das sollte eigentlich reichen; es reichte aber nur zu Gedankenlosigkeit und Undankbarkeit, wie so oft. Mein Vater also, der ein ruhiger, nur gelegentlich cholerischer Mann war und es schwer hatte mit seiner Frau und seine Töchter nur heimlich lieben durfte, wie alle Väter damals, kaufte mir trotzdem einen kleinen Bergkristall, silbern gefasst, in Tropfenform, an einem Kettchen zu tragen. Immerhin war ich klug genug, ihn nicht wegzuwerfen, sondern begrub ihn wahrscheinlich in einer kleinen Schatzkiste. Heute ist der kleine Bergkristall eines der wenigen Dinge, die ich noch habe von meinem Vater; außer dem Berg von Jahreskalendern, in die er, als er schon älter war und pensioniert und es immer noch nicht viel leichter hatte, mit schöner Regelmäßigkeit das Wetter des Tages eintrug und seine Arzt- und sonstigen Termine und gelegentlich ein besonderes Ereignis. Nur Stichworte natürlich, in seiner eckigen kleinen Handschrift, die später dann vom Alter und vom Parkinson verwischte. Den Bergkristall aber trage ich recht gern inzwischen; an Schmuck habe ich mich schon lange gewöhnt, und man soll jede Chance nutzen, der Welt ein wenig Glanz hinzuzufügen, sie hat es nötig. Und der kleine Tropfen ist ein angenehmes Schmuckstück, er drängt sich nicht vor, nur wenn man ihn von Nahem betrachtet, glitzert er ein wenig, und man kann sich einbilden, dass er in einem späteren Leben ein Diamant würde, ein paar Millionen Jahre später, wenn wir Menschen endlich weg sind und die Kristalle in Ruhe wachsen können ohne unser ewiges Gehämmer.
Aber wir verlassen den sentimentalen Nebengang und kommen zurück zum Hauptstollen der ausgebauten Metapher. Normalerweise folgt man im Denken ja gern vorgebahnten Wegen; sie heißen ‚Vorurteil‘, wenn man einen bösen Namen dafür sucht, und ‚Gewohnheit‘, wenn man einen pragmatischen bevorzugt, oder ‚Energiesparen‘, wenn man nach einem Grund sucht, warum das Gehirn lieber schon gebahnte Wege geht. Inzwischen haben die Neurowissenschaften auch einen schönen Fachbegriff dafür gefunden, er heißt priming und meint, unter uns Laien: Bestimmte Reaktionen, Wörter, Gedanken, Gefühle werden je nach Kontext von unserem vorausschauenden Gehirn für unser etwas langsamer hinterher hinkendes Bewusstsein voraktiviert. Wenn wir eine Küche gesehen haben, erkennen wir Kochtöpfe schneller, nicht aber Computer. Wenn wir lächelnde Gesichter sehen, halten wir die Welt eher für einen besseren Ort als einen schlechteren. Wenn wir das Wort ‚Bergwerk‘ gehört haben, fallen uns schneller Wörter wie Schacht, Dunkelheit, Gefahr ein als Luftschiff, Sonnenschein, Wohlergehen. Wir denken, fühlen, sehen, um nun ein wenig einen größeren Verbindungsgang voranzutreiben, immer in Kontexten, finden Ähnlichkeiten lieber als Verschiedenheiten, bleiben leichter bei dem, was wir gerade schon gemacht-gedacht-gefühlt haben. Das Gehirn tut das, weil es ein vernünftiger Apparat ist, der gern Energie spart und unnötige Mühen scheut; schließlich hat es genug zu tun, uns die ganze Zeit unser sogenanntes ‚Selbstbewusstsein‘ als freie Menschen und selbständige Agenten vorzuspiegeln! Im Hintergrund aber, oder besser: im Untergrund, in den tiefsten Schächten des Gehirns, wird ernsthaft gearbeitet. Keine Schätze, oh nein, Kohle, für den Tagesbetrieb. Das Bewusstsein erfreut sich derweil am Narrengold.
Aber ab und zu denkt man doch, meist eher aus Versehen, etwas Neues. Oder man spürt es erst, man hat das diffuse Bedürfnis, in eine neue Richtung zu denken, dahin, wo noch keine Schächte vorgebahnt sind; aber dann spürt man sogleich nach dem Bedürfnis den Widerstand, er ist wahrscheinlich das negative priming, das gibt es nämlich auch in dieser Welt der auf der Oberfläche sich bekämpfenden Dinge und Worte. Das geahnte Neue fühlt sich ein wenig gefährlich an, schließlich weiß man nicht, wo man hinkommen wird auf diesem neuen Weg; es drohen Folgen, Konsequenzen, womöglich Umgestaltungen im ganzen Schachtsystem, man könnte neue Sicherungssysteme brauchen, mehr Geduld, einen langen Atem, größere Schaufeln? Vielleicht aber, und das hofft man heimlich, ist es doch einfach nur eine Abkürzung; die Wand ist gar nicht so dick, und wenn man sie durchbrochen hat, sieht man, dass sich auf einmal Dinge auf kürzestem Wege verbinden lassen, die man noch nie im Zusammenhang gesehen hat, weil kein Weg zwischen ihnen vorgebahnt war. Aber man ahnte die Verbindung, schon immer.
Und so hofft man, dass das Gehirn irgendwann ein ausgebautes Stollensystem wird, es ist viel Arbeit dazu nötig, es gibt Nacht- und Tagschichten, und man kann sich nicht immer aussuchen, wozu man eingeteilt wird. In seine tiefsten Gründe wird man nie vorstoßen, und das soll man auch nicht, dort gibt es schlagende Wetter und zu wenig Sauerstoff und man kommt dem glühenden Inneren der Erde zu nahe (das Bewusstsein aber ist ein hysterischer Papagei, es wittert Gasausbrüche und fällt leicht von der Stange). Aber dazwischen, zwischen dem Licht der Oberfläche, das sich auf den Dingen fängt, und dem glühenden Inneren der Erde, kann man ganze Paläste aus Gängen errichten. Natürlich sind einige von ihnen leichter zugänglich als andere, und es ist wohltuend und beruhigend, einen breiten, gut gesicherten und beleuchteten Hauptgang zu gehen, den man schon oft beschritten hat. Aber interessanter sind die Seitenwege. Oft führen sie in Sackgassen; aber manchmal sind Sackgassen eine recht heimelige Angelegenheit, kein Durchgangsverkehr und ein Ende ist abzusehen. Andere führen zu großen Hallen, mit uralten Stalaktiten und Stalagmiten; es tut nicht gut, an ihnen zu rütteln, dann brechen sie ab und man steht da, ohne Geschichte, unverwachsen. Gelegentlich begegnet man auch fantastischen Wesen, Traumgespenstern, die das Bergwerk nachts unsicher machen; sie kennen noch die geheimsten Verbindungen und können sowieso durch Wände gehen.
Und irgendwo gibt es sicherlich Goldadern. Aber meist sind es doch nur Quarzgänge, ‚taube Gänge‘, wie man im Bergwerksjargon sagt; und es bedarf großer Geduld die wenigen zu finden, die tatsächlich Einsprengsel von gediegenem Gold haben. Vielleicht soll man sie auch gar nicht finden. Gold hat noch nie gutgetan, und noch jeder Philosoph, der nach den Goldkörnern der einzig wahren Wahrheit suchte, ist als Alchimist geendet und hat sich am Stein der Weisen verschluckt, heraus kamen aber nur die Kröten der Metaphysik. Bergkristalle hingegen sind transparent, farblos; sie können jedoch die unterschiedlichsten Farben annehmen, durch Einschluss farbiger Materialien oder durch Strahlung. Und das ist ein Bild, mit dem mein Bewusstsein und mein Gehirn ohne jeden Widerstand übereinstimmen können.
Männliche Philosophen haben häufig eine Obsession, und sie heißt: ‚Bewusstsein‘, in fortgeschrittenem metaphysischem Befall auch ‚Selbstbewusstsein‘. Immerzu wollen sie verstehen, was das ist, weil es etwas so Besonderes ist, etwas, was nur der Mensch habe, etwas, das mit seiner Geistigkeit angeblich zusammenhängt, weil es nämlich – hier läuft das Argument meist unauffällig in einem kleinen Zirkelschlag zurück zum Ausgang – der Geist ist, der den Menschen besonders macht, und ohne das Selbstbewusstsein könnte sich der Mensch nie in den Spiegel sehen (‚Reflexion‘ auf bewusstseinsphilosophisch) und würde nie erkennen, dass er dieses ganz besondere Phänomen namens ‚Selbstbewusstsein‘ hat. Ich war schon immer geneigt, das eher für eine Art von philosophischem Narzissmus zu halten, wenn sie sich schon nicht aus Eitelkeit vor dem Spiegel drehen und wenden können, drehen männliche Philosophen halt gern den Inhalt ihres Kopfes vor einem inneren Spiegel hin und her und finden die wunderbarsten Dinge dort, je nach Begriffs- und Denkmode: Die Subjektivität! Den Geist! Das Absolute! Die Vernunft! Die Freiheit! Keine Ahnung, wie sich die Freiheit im Spiegel zeigt, man würde meinen, ein Spiegel sei die Inkarnation von Abhängigkeit, immer zeigt er nur das, was man hineinspiegelt, und sobald man ihm einen weiteren Spiegel gegenüberstellt, geht es ins Unendliche – ach ja: Das Unendliche natürlich auch! Das alles sind, Schande über mich, Dinge, die mich nicht nur nicht interessieren, sondern ein großes hohles Loch in meinem sehr weiblichen Kopf erzeugen, automatisch und sofort, wo gerade noch Gedanken über lebendige einzelne Dinge waren: Geschichten! Erfahrung! Erlebnisse! Und dann versuchen sie, die Bewusstseinsphilosophen, mit groben leeren Worten die Reflexion einzufangen. Zu sprechen von dem, was doch selbst nicht sprachlich ist. Mit unserer Wortsprache, mehr gemacht, um Missverständnisse zu potenzieren (ein Spiegel ist kein Spiegel ist kein Spiegel) denn um Verständnis zu befördern (was ist ein Spiegel eigentlich, es gibt doch so viele Spiegel, zum Beispiel gut und schlecht gemachte?).
Dafür jedoch, so möchte ich dann sagen, sind Beschreibungssprachen erfunden worden, und sie funktionieren – aber das ist nur ein Verdacht – umso besser, je weiter sie sich von dem Phänomen entfernt haben, das man verstehen will. Also, um das eindeutigste und erfolgreichste Beispiel zu bemühen, Mathematik: Was war das nicht für ein großes erstauntes Aufatmen, als die ersten Wissenschaftler erkannten, dass das, was schon Jahrhunderte lang in Formeln beschrieben wurde, tatsächlich ein Äquivalent in der Natur hatte! Mathematik war, so zeigte Newton erstmals und mit sensationellem Erfolg, eine Beschreibungssprache für Natur, und man konnte ihre Kräfte und ihre Gesetze jetzt lesen. Wer die Formel zur Berechnung von Geschwindigkeiten verstanden hatte, hatte Geschwindigkeit verstanden; nicht das Wort, sondern das Phänomen. Aber, so wenden nun die neidischen Philosophen und sonstige Schöngeister ein: Aber man hat ja Geschwindigkeit gar nicht verstanden! Die Formel ignoriert ja vollständig das besondere menschliche Erleben von Geschwindigkeit, den Rausch, den sie auslösen kann, die Allmachtsgefühle, das besondere des – nun ja, Bewegtseins in Raum und Zeit! Hat ja auch keiner behauptet. Dafür nämlich gibt es Dichtung, oder, wem das zu groß ist: Literatur (Dichtung im strengen Sinn funktioniert aber, weil, siehe oben, je weiter entfernt vom Phänomen, besser!) Dichtung nämlich kann, durch Sprache, einen Eindruck erzeugen, ein Erlebnis initiieren, das dem von Geschwindigkeit gleicht (man stelle sich eine Reihe von Verben oder Adjektiven vor, gedrängt aneinandergereiht, in einem sehr dynamischen Versmaß). Musik kann das wahrscheinlich noch besser: durch Töne, in einem bestimmten Abstand, mit einem bestimmten Rhythmus (weshalb sie ja auch eher mit d1er Mathematik verwandt ist als mit der Philosophie oder der Dichtkunst). Natürlich kann man sich auch auf ein Pferd setzen, in ein Auto, ein Flugzeug, was immer: Und schon wird man Geschwindigkeit erleben – aber, wenn man kein Dichter ist, kein Musiker oder kein Mathematiker, wird man anschließend das Erlebnis nicht mitteilen können. Schon gar nicht durch Denken und abstrakte Sätze. Denken, die Disziplin der vermeintlich reinen Begriffe mit ihren logischen Definitionen und Abfolgen – ach, wie blutleer, wie langweilig, wie missverständlich. Noch niemals hat sich in einem Spiegel etwas gezeigt, was neu wäre oder aufregend. Reflexion reflektiert immer nur ihr eigenes Ungenügen. Eine ordentliche Beschreibungssprache hingegen – erzeugt zumindest ein paralleles Erleben.
I. Philosophische Vorträge. Eine Charakter-Galerie
Die Geschichte beginnt mit einer Abschweifung. Ich war also mal wieder auf einer wissenschaftlichen Tagung, ungefähr der hundertsten meines langen und mäßig erfolgreichen beruflichen Lebens, und umgeben von alten Bekannten. Man weiß deshalb schon vorher ungefähr, cum grano salis, nicht nur was gesagt werden wird, sondern von wem, in welcher Reihenfolge, mit welchen Argumenten und welchen Gegenargumenten in der Diskussion. Deshalb mache ich bei solchen Gelegenheiten, zumal wenn die Stimmung irgendwie entspannt und die Atmosphäre etwas assoziationsbeflügelnd ist, gern einen Ausflug auf die Meta-Ebene, wo es luftig zugeht und lustig und die Ideen freier fliegen dürfen als unten in der Kampfarena des wissenschaftlichen Diskurses. Diesmal also beschloss ich relativ früh, eine Art Typologie wissenschaftlicher Vorträge zu entwickeln, eine kleine Charakter-Galerie, wie sie auch häufig in alten wissenschaftlichen Bibliotheken bei den Pfeilerfiguren anzutreffen ist. Hier ist sie!
Als erstes tritt auf: der Staubige. Er trägt innere Ärmelschoner, und er sagt: Ich war in Archiven, ich habe tief in staubigen Manuskripten gewühlt. Ich kann gar nicht sagen, was ich alles gefunden habe, aber – vielleicht sage ich es doch, wenn ihr fragt? Oder auch, wenn ihr mich nicht fragt? Ach, egal, es ist doch alles so interessant! Ist es auch. In der ersten halben Stunde. Danach –
Ihm folgt: der Verhaspler. Er ist der Meister des vielfach variierten, aber treu und periodisch nach einem noch zu findenden physikalischen Gesetz auftauchenden „Äh“. Die Vorrede, äh, ist länger als der Inhalt. Und kaum komm ich in Schwung, äh, da ist es schon vorbei! Man muss sich zusammenreißen, damit man seine Frage nicht mit „Äh“ beginnt. Es liegt so nahe.
Dann kommt die Autorität. Sie sagt: Ich kenne mich wirklich gut aus, aber ich habe keine Zeit gehabt mich vorzubereiten. Aber ich kann ja einfach erzählen, was im Text steht, den ich im Flugzeug gelesen habe, zum Glück war der Flug etwas länger. Und ansonsten kenne ich mich wirklich gut aus! Zum Glück ist es wirklich immer ein Gewinn jemanden zuzuhören, der sich gut auskennt, auch wenn er aus Versehen manchmal zum falschen Thema spricht. Man kommt halt viel herum in Flugzeugen.
Danach, des Kontrastes halber: der Eifrige. Ich bin ein fleißiger Doktorand und versuche alles richtig zu machen! Aber für mich ist alles Wissen neu, und es begeistert mich tatsächlich! Ihr müsst aber nicht zuhören. Tatsächlich kann man von ihm etwas lernen, wenn man ihm zuhört; frische Augen sehen zumindest anders, und Eifer hat noch niemand geschadet, wenn er sich denn auf Sachen richtet und nicht nur auf die eigene Karriere. Wir alle waren einmal diese Doktorandin.
Anstrengend hingegen ist der Missionar, ein Überzeugungsredner: Ich klopfe die Argumente mit einem großen Hammer ein. Ich unterstelle gern Allgemeines. Ich gerate gern ins Mündliche. Hört ihr mir noch zu, ihr da draußen? Wir würden ja gern, aber es ist so anstrengend. Große Worte machen irgendwie so müde. Ist nicht bald Kaffeepause?
Nach der Kaffeepause kommt der Frustrierte: Ich habe es nicht geschafft mit der Karriere, und das nagt an mir. Aber es gibt mir wenigstens Zeit um ordentliche Vorträge zu machen und sie ordentlich vorzutragen. Das mache ich nämlich schon ziemlich lang, auch wenn sonst keiner zuhört. Er ist ein guter Bekannter von mir. Man könnte auch sagen: Sie ist mein anderes Ich. Wir machen Vorträge, die so professionell und geschlossen in der Argumentation sind, dass sie keinerlei Diskussion erzeugen. Nein, ich korrigiere. Wir sind so professionell, dass wir die Lücken für die Fragen mit einplanen.
Für Erfrischung sorgt anschließend das Küken: Ihr habt mir eine Chance gegeben. Sie war zu groß für mich. Aber ihr werdet mich schützen! Natürlich schützen wir das Küken. Es war sowieso nur dazu da um behaupten zu können, man würde den Nachwuchs fördern. Weibliche Küken haben es übrigens besser als männliche.
Die Galerie wäre sicherlich fortzusetzen, auch wenn sie nur für insider interessant sein mag. Aber auf einmal kam ein anderes Steckenpferd vorbeigesprungen. Mir fiel nämlich auf, dass ich bei einigen dieser Vorträge ein Wort gehört hatte, das im Alltagsleben gar nicht so oft fällt: Es ist das kleine Wörtchen ‚mithin‘. ‚Mithin‘, so dachte ich spontan, ist das Philosophenwort schlechthin (schlecht-hin? nein, nicht so philosophisch). ‚Mithin‘, so fiel es mir ein, kann man alles Mögliche unterschieben: Etwas ist a, mithin auch b, nur ‚mit etwas anderen Worten‘ (eine Floskel, die ich sowieso auf der Abschussliste habe: ‚Mit anderen Worten‘ sagt man natürlich immer etwas graduell Anderes, man tut aber so, als sei es das Gleiche, nur in einfach). Ach, wenn es so einfach wäre, komplizierte Dinge einfacher zu sagen! Aber dann musste ich doch wieder ein wenig den Vorträgen zuhören, und ich parkte den ‚mithin‘-Verdacht vorerst in meinem inneren Ideen-Parkhaus, auf einem der prominenteren Decks, für künftige Recherchen. Und damit von der Abschweifung zum Text, mithin – nein, gar nicht mithin.
II. Mithin woher? Eine Wortgeschichte
Dort suchte ich es dann, die Tagung lag schon einige Wochen zurück, wieder auf und begann meine Recherchen. Wort-Geschichte zuerst, man kann so unendlich viel lernen, wenn man nachschaut, wie Wörter geboren werden (Indigene? Einwanderer? Kunststücke oder Naturlaute?), wie sie wachsen und an Verbreitung gewinnen, und wie sie dabei gelegentlich, hast-du-nicht-gesehen, sogar die Bedeutung vollständig wechseln können! Wörter, vor allem: Begriffe, sind nämlich Chamäleons, sie passen sich ihrem ideengeschichtlichen Hintergrund flugs an. ‚Mithin‘ also: War ursprünglich ein Wort aus der Kanzleisprache. Nun weiß auch keiner mehr, was Kanzleisprache war; ein vages Abbild gibt noch das Bürokratendeutsch, wie man es in amtlichen Verordnungen antrifft, aber es ist eher ein ziemlich hässlicher Bastard. Nein, eine ordentliche Kanzleisprache war das Deutsch, das man in den höchsten herrschaftlichen kaiserlichen Kanzleien des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation geschrieben hat. Es war eine standardisierte Herrschaftssprache, gebildet um der Präzision des Lateinischen im ungelenken Deutsch irgendwie hinterherzukommen.
Die deutsche Sprache ist in den kaiserlichen Kanzleien, geleitet von den gebildetsten und einflussreichsten Beamten ihrer Zeit, in eine harte Schule gegangen. Sie wurde dabei von einem Mischmasch aus nuschelnden Dialekten fern einer einheitlichen Schriftsprache zu dem Sprachkörper diszipliniert, auf den Martin Luther dann seine deutsche Bibelübersetzung aufsetzen konnte. Kanzleideutsch ist nicht – schön, wohlklingend, leichtverständlich (es ist ungefähr das Gegenteil von ‚Einfacher Sprache‘); nein, aber es hat eine Menge Wörter, die subtile Beziehungen ausdrücken, vor allem einen ganzen Karren von zwischenzeitlich ausgestorbenen Präpositionen: ‚jedennoch“, „allhier’, ‚sintemal‘, ‚wasgestalt’, ‚darob’, ‚klärlich’, ‚sogetan’, ‚unangendenk’ – und mitten darunter auch: das kleine Wörtchen ‚mithin’. Es bedeutete zunächst in etwa ‚gleichzeitig‘: Etwas passierte zeitlich mit etwas Anderem. Von der Gleichzeitigkeit mutierte es dann, in einem noch kleinen Sprung, zur Bezeichnung eines zeitlichen Nacheinanders: Etwas passiert auf etwas Anderes hin. Und dann kam der große Sprung, und für insider ist es ziemlich lustig, dass das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm, dem sich das hier präsentierte Wissen verdankt, diesen großen Sprung ausgerechnet dem großen Philosophen und Mathematiker Leibniz zuschreibt: nämlich hin von einer zeitlichen Folge zu einer kausalen. ‚Mithin‘ war nun: Etwas passiert, weil etwas anderes vorher passiert war (ist alle Kausalität nicht nur Zeitfolge, Koinzidenz, würde etwas später der große Skeptiker Hume fragen? Mithin eine Aufeinanderfolge in der Zeit von einer in der Verursachung sowieso nicht zu unterscheiden? Aber die englische Sprache hat kein ‚mithin‘; ‚therefore‘ ist nur ein blasser Ersatz).
III. Die Meister des ‚Mithin‘
Das zweite Experiment, das ich gern mit Wörtern machen, wenn ich mit ihrer Genealogie fertig bin, ist statistischer Art. Zu den Segnungen der Digitalisierung aller Arten von Texten gehört die Möglichkeit zur Volltextsuche in umfangreichen Textkorpora; man kann also beispielsweise in einem repräsentativen Korpus westlicher Philosophie von der Antike bis hin zu den Grenzen des neueren Urheberrechts suchen lassen, wie oft und bei wem ein Wort vorkommt. Das Ergebnis der ‚Mithin‘-Recherche war eindeutig und bei näherem Nachdenken noch nicht einmal überraschend: Immanuel Kant ist der unbestrittene Meister des ‚Mithin‘! (das mag aber auch mit der reinen Textmenge seiner Schriften in diesem Korpus zusammenhängen); Fichte ist ihm nicht besonders dicht auf den Fersen, und Schopenhauer nimmt einen eher schwachen dritten Platz ein. Nun könnte ich jede Menge typischer schwerverständlicher Kant-Sätze zitieren, die in ihrem Bemühen um vollständige sprachliche Präzision und ihrer daraus resultierenden Verknotungsdichte gleich mehrere ‚mithins‘ aufweisen; ich lasse es aber bei einem einfacheren Beispiel. In der Kritik der reinen Vernunft heißt es, der Kontext ist relativ unwichtig angesichts der Allgemeinheit der Aussage, die „Beförderung einer gründlichen Metaphysik als Wissenschaft“ müsse notwendig („unnachlaßlich“) „dogmatisch und nach der strengsten Forderung systematisch, mithin schulgerecht (nicht populär) ausführt werden“. Rekonstruieren wir: Wenn eine Wissenschaft systematisch verfährt, ist sie (gleichzeitig? oder analytisch, also in ihren Gründen zusammenhängend?) zum ersten schulgerecht und zum zweiten nicht populär. Wäre dann also – wenn man nun einen kausalen Zusammenhang annimmt – ein systematisches Vorgehen in jedem Fall ein Merkmal einer ‚Schule‘ – mithin jegliche Philosophie außerhalb der ‚Schule‘ notwendig nicht-systematisch? (Schopenhauer begs to differ)? Und wäre, zum zweiten, mithin jegliche systematische Wissenschaft nicht populär, oder nur jede schulgerechte? Einiges spricht für diesen leichthin konstruierten Globalzusammenhang, das muss man zugestehen, und Systeme sind ebenso selten Muster an Verständlichkeit wie Akademien. Begründet jedoch wird dies alles nicht, sondern eher suggeriert. System = Schule = strenge Wissenschaft; Nicht-System = Popularität = nun ja, soft science, sozusagen. Mithin für Dilettanten, Schulschwänzer, Frauen, die bekanntlich nicht systematisch denken können. Ach, das unschuldige Wörtchen ‚mithin‘ ...
Heinrich von Kleist, wie Kant ein großer Anhänger von sprachlicher Präzision und ein Meister in der seltenen Kunst der semantischen aufgeladenen Syntax, war ebenfalls ein Meister des ‚Mithin‘. Ein Beispiel möge genügen, das die gefährliche Verführungskraft des verheimlichten In-Ein-Setzens besonders schön illustriert. In seinem Katechismus der Deutschen (Kleist war nicht wenig nationalistisch, was seine Anhänger gern verschweigen, es ließe sich zu leicht ein kleines ‚mithin‘ anhängen) lässt Kleist einen Vater und einen Sohn darüber sprechen, wer das Recht habe, ein Reich, das zertrümmert wurde, wiederherzustellen. Und der Sohn antwortet, ordentlich katechismusmäßig: „Jedweder, dem Gott zwei Dinge gegeben hat: den guten Willen dazu und die Macht, es zu vollbringen“. Der Vater fragt, rhetorisch natürlich, nach einem Beweis dafür (katechetische Weisheiten müssen aber eigentlich nicht bewiesen, sondern nur auswendig gelernt werden); der Sohn bittet darum, ihm den Beweis zu erlassen, der Vater bietet an, ihn zu substituieren, der Sohn erlässt es ihm – warum? „Weil es sich von selbst versteht“, so der altkluge Sohn; ein Evidenzbeweis also. Woran der Vater anschließt, und jetzt kommt es: „Wer nun ist es in Deutschland, der die Macht und den guten Willen und mithin auch das Recht hat, das Vaterland wiederherzustellen?“ Der Kaiser natürlich, springt der Sohn bei, richtige Antwort und Volltreffer offenbar. Also jeder, der in einer Rechtsfrage die Macht und einen guten Willen hat, hat auch das faktische Recht auf seiner Seite? Das eröffnet tatsächlich eine Menge neuer Horizonte. Ein echter Aufklärer immerhin, also einer dieser verrufenen Vernunft-Langeweiler, der als Benimmlehrer verkannte Populärphilosoph (mithin kein systematischer Schulphilosoph) und Satiriker Adolph Freiherr von Knigge nämlich, hatte da die Tücken dieser fatalen Beinahe-Logik schon besser erkannt: „Er war auf Universitäten gewesen, mithin ein Gelehrter“, so schreibt er in seiner Reise nach Braunschweig, und wer die Ironie nicht erkennt, mithin jeden für einen Gelehrten hält, der eine Universität besucht hat, lebt entweder auf dem Mond oder hat es nicht besser verdient.
Sogar Schiller schafft es, eine etwas vertrackte Ironie in einer boshaften Xenie zu konzentrieren: „Cogito, ergo sum. Ich denke, und mithin so bin ich, / Ist das eine nur wahr, ist es das andre gewiß“. Das ist ziemlich verzwickt und, wenn man es erst verstanden hat, ziemlich lustig: Schiller geht also von einer philosophischen Allerweltsweisheit von Descartes aus, der in einem Selbstexperiment versuchte, an allem zu zweifeln, aber dann darauf kam, er könnte nicht an seinem eigenen zweifelnden, mithin: denkenden Ich, zweifeln – deshalb beweise allein dieser eine Denkakt die eigene Existenz jenseits allen Zweifels. Dagegen kann man einige logische Petitessen vorbringen, aber Schillers Argument ist viel interessanter. Denn nachdem im ersten Vers „Denken“ und „Sein“ à la Descartes auseinander abgeleitet wurden, wird im zweiten Vers dem einen (also dem Denken) „Wahrheit“ zugeschrieben; und wenn diese Aussage „ich denke“ wahr ist, dann ist das zweite daraus folgende „ich bin“ – „gewiß“, also jenseits des methodischen Zweifels. Allerdings überliest man leicht, dass Schiller diese Aussage in Form eines logischen „Wenn-dann“-Schlusses formuliert, der auf einer Voraussetzung beruht: „Ist das eine nur wahr“. Und wenn es nicht ist? Wenn der Betreffende gar nicht denkt? Dann fällt auch der Schluss selbst in sich zusammen. Wer nicht denkt, dessen Existenz ist – nun ja, ungewiss? Und was genau ist hier eigentlich mit „Denken“ gemeint, richtiges Denken, wahres Denken oder nur diffuses Hin- und Herschieben von Meinungskulissen in einem ansonsten mit sehr viel anderen Dingen gefüllten Kopfe?
An dieser Stelle gibt uns Schiller einen Hinweis, wir haben ihn anfangs überlesen: „Einer aus dem Haufen“, lautet die Überschrift der Xenie, und das ist nicht nett gemeint. Wir haben es also nicht mit dem anerkannten Meisterdenker Descartes zu tun, bei dem wir sicher davon ausgehen können, dass er wahrlich denken konnte. Nein, wir haben es mit „einem aus den Haufen“ zu tun, also: einem nicht besonders selbständigen, gern den mehrheitsfähigen Meinungen anderer Leute hinterhertrottenden Gelegenheitsdenker, dessen selbständiges Sein in diesem logischen Argument durch sein nicht-selbständiges Denken doch sehr bedroht erscheint. Mithin – fällt das Descartes’sche cogito? Nun, da wird wohl jede einmal selbst darüber nachdenken müssen. Selbst! (dass Schiller im Übrigen auch das erschlichene ‚mithin‘ beherrscht, zeigt eine Stelle aus seinen ästhetischen Schriften: „Will aber der Künstler die Freiheit retten, so kann er es nur dadurch bewerkstelligen, dass er auf Bestimmtheit, mithin auf wahre Schönheit Verzicht tut“ – und schon sind wir im schönsten Paradox: künstlerische Freiheit zeigt sich nur um den Preis von ästhetischer Unbestimmtheit; wahre Schönheit hingegen äußert sich in Bestimmtheit, aber dann ist wohl die Freiheit dahin! Wie man da herauskommt? Quantentheorie oder Selbstdenken!)
IV. Das ‚Mithin‘ als Vehikel des Erschleichens: eine schließende Abschweifung
An dieser Stelle fiel mir auf, dass das ‚mithin‘ in direkter Linie zu einer anderen unterschätzten Philosophie-Vokabel führt, dem oben schon verdeckt eingeführten ‚erschleichen‘ nämlich (zum ‚verhaftet‘, einem anderen Kumpel dieser etwas zweifelhaften Gesellschaft, dann demnächst, es ist schon lange in einem tieferen Stockwerk des Ideen-Parkhauses abgestellt). Dass etwas erschlichen wird, passiert im normalen Leben eigentlich nur bei Erbschaften, gelegentlich vielleicht auch beim durchaus wertvollen und seltenen Gut des Vertrauens. Philosophen jedoch, diejenigen der logischen Zunft im engeren Sinne vor allem, kennen kaum einen schlimmeren Vorwurf als den des ‚Erschleichens‘. „Vernünftelnde Begriffe“ nennt Kant, ebenfalls in der Kritik der reinen Vernunft, solche, die nur „durch einen Schein des Schließens erschlichen“ sind; im Gegensatz zu ordentlichen, sozusagen reinrassig vernünftigen objektiv gültigen Begriffen aus echten, kernhaften Schlüssen. Fichte hingegen argumentiert interessanterweise genau umgekehrt: „Ich weiß, dass jede vorgebliche Wahrheit, die durch das bloße Denken herausgebracht, nicht auf den Glauben gegründet sein soll, sicherlich falsch und erschlichen ist“. Mithin, mit anderen Worten, nein: auf den Punkt gebracht, meint Fichte: Wer nur logisch schließt, wer ausschließlich seinen Verstand übt, bringt es allenfalls zu einer „Fertigkeit, ins unbedingt Leere hinaus zu grübeln und zu klügeln“; Wahrheit jedoch finde man nur, wenn man von seinem „unverrückt und redlich auf das Gute gerichteten“ Willen ausgehe. Was Nietzsche dann darüber lästert, ist natürlich höhere Frechheit, aber dem dialektischen Charakter des Erschleichens durchaus gewachsen: „ich gedenke dabei des alten Kant, der, zur Strafe dafür, dass er ‚das Ding an sich‘ – auch eine sehr lächerliche Sache! – sich erschlichen hatte, vom ‚kategorischen Imperativ‘ beschlichen wurde und mit ihm im Herzen sich wieder zu ‚Gott‘, ‚Seele‘, ‚Freiheit‘ und ‚Unsterblichkeit‘ zurückverirrte, einem Fuchse gleich, der sich in seinen Käfig zurückverirrt“. Es gibt eine poetische Gerechtigkeit in der Philosophie, und begriffliche Er(b)schleicherei wird mit lebenslanger Verdammung zur Moralität (mithin: dem Primat der praktischen Philosophie) bestraft!
Ich hingegen fühlte mich persönlich von der Konstellation der HSP, und das mag meine obige HUI-Polemik auch erklären, geradezu magisch und vor allem: persönlich angezogen. Nun weiß ich als zertifizierte Hypochondrin, dass Exemplare dieses Typus sehr dazu neigen, jegliches geschildertes Syndrom sofort bei sich zu entdecken; zumal wenn es sich um ein so charmantes und irgendwie schmeichelhaftes wie das der HSP handelt! Denn die highly sensitive person, so ihre Erfinderin, die amerikanische Psychologin Elaine Aron, kodiert unter diesem Akronym vier Eigenschaften. D steht für „depth of processing“, also eine hohe Verarbeitungsintensität bei allen äußeren Eindrücken – ich bin von Natur aus eine relativ gute Beobachterin, ich nehme Dinge schnell wahr und sehe Zusammenhänge, wo andere Zufall oder Chaos sehen. Das ist eine gute Sache, wenn man zum Beispiel schreibt, oder Texte deutet, oder andere Dinge tut, die sich vage als ‚hermeneutisch‘, also als intensivierte Verstehensprozesse beschreiben lassen. Aber dazu kommt O für „easily overstimulated“ – und ja, dachte ich, in mir vibriert häufig alles, und die Wellen jeder beliebigen physischen (lange Autofahrten!) oder psychischen (lange Tagungen!) Aufregung hallen lange nach. Auch das ist, so kann ich bestätigen und so sieht es auch Elaine Aron, Segen und Fluch zugleich und wahrscheinlich verbunden mit manisch-depressiven Erlebnismustern. E für „empathy“ ist das Dritte: ein Mitfühlen, das ich immer als ein gar nicht gefühliges-Mitfühlen zu beschreiben versuche; Empathie ist, dass man einfach weiß, was in einem anderen Menschen gerade vorgeht, ohne es zu wollen oder es darauf angelegt zu haben; man weiß es einfach. Man sitzt in der Stuttgarter S-Bahn, sieht sich um und möchte die Augen sofort verschließen vor all dem gesammelten Elend, das man schnell gesehen, tief verarbeitet und empathisch verstanden hat (das gefühlige Substrat dieses Erlebens ist übrigens dann nicht so sehr Mitleid, das ja immer etwas von Selbstmitleid hat, sondern eher Trauer, Bedrücktheit).
S schließlich steht für „sensitive für subtleties“ – was sich ein wenig tautologisch aus dem Rest ergibt: Wer leicht beeindruckbar ist, viel sieht, schnell Zusammenhänge herstellt, sie tief lang nachschwingend verarbeitet, der registriert auch die sonst übersehenen Kleinigkeiten, ahnt die Details mehr, als er sie erkennen muss und sieht im Kleinen immer das Große mit (und umgekehrt natürlich auch). Mein Leben lang habe ich für die übersehenen Kleinigkeiten gekämpft, meine Minutiae. Ganze schreibende Feldzüge habe ich geführt für isolierte Kleingedanken, Hypothesen mit beschränktem Wirkungskreis; für kleine Augentröster, für das einzelne gute Wort, für den Gartenzwerg und den Aphorismus. Bisher dachte ich, das sei eben meine persönliche Kompensation dafür, dass ich mich – mehr oder weniger freiwillig, na gut: vielleicht doch weniger? – für das kleine Leben entschieden hatte, für das Meiden der großen Aufregungen, großer Projekte, großer Ansprüche; und diese Entscheidung dann schön akademisch zurechtgeredet habe durch die Plädoyers für die ‚goldene Mitte‘ und ihre heilsamen Lehren. Aber vielleicht war es ja doch nur – nein, nicht nur, aber auch – Physiologie und Genetik? Denn das alles, so schreibt Elaine Aron, sei nicht nur psychologischer Hokuspokus, geboren aus der Lust, ein Selbsthilfebuch zu schreiben und coachings zu vermarkten; nein, dieser Persönlichkeitstypus sei in vielen genetischen und neurologischen Studien inzwischen empirisch feststellbar – naja, bewiesen ist wieder ein zu großes Wort, aber sagen wir: erhärtet worden. Früher, so Aron, hätte man das halt Schüchternheit genannt oder introvertiertes Wesen, empfindlich ist das Kind halt!
Bin ich also eine hört sich nach äußerst peinlichem Selbstlob an, aber das ist es gar nicht, weil: Ich kann dieser Theorie zufolge gar nicht viel dafür. Es ist Natur, Charakter, Temperament, so wie es frühere Zeiten genannt hatten, die noch keine klinischen Akronyme hatten, aber eine geübte Menschenkenntnis und wenig Scheu vor Stereotypen, einfach, weil es sie gibt und weil sie die immer überwältigender werdende Komplexität der Welt aufs notwendigste reduzieren. Nennen wir es also eine Weile HSP, danach wird uns wieder etwas anderes einfallen, aber als Modell schien es mir spontan und scheint es mir immer noch relativ konsistent und vor allem produktiv. Wenn wir physische Korrelationen dazu finden in der Reaktion bestimmter Gehirnteile – meist in Form einer eher unerwarteten Zusammenarbeit verschiedener Bereiche, die eigentlich getrennt etwas anderes machen – oder in Experimentalsituationen nachweisbarer Verhaltensmuster, umso besser. Ich habe, im Gegensatz zu HUI-Philosophen gar kein Problem mit Beweisen, noch nicht einmal mit schwachen; ich finde es geradezu physisch befriedigend, einen schönen Beweis nachzuvollziehen, er schwingt dann eine Zeitlang in mir nach, so ist das halt mit leicht überstimulierten Persönlichkeiten. Und wenn ich dann erst sehe, wieviel Verwandte er mitgebracht hat, neue Querverbindungen, neue Schlussmöglichkeiten, neue Hypothesen – ach, es ist die reine Freude!
Besonders aber freue ich mich, mit meinem philosophischen Seelenteil (das ist so ein großes Wort, aber es meint einfach nur: empfundene Freude am Denken, nehmen wir es einmal so), wenn ich einen neuen Begriff gefunden habe, der eine andere Art des Denkens ermöglicht. Denn das Konzept der HSP, so dachte ich an dieser Stelle, ist eigentlich auch das, was die Medizin ein ‚Syndrom‘ nennen – also ein nachweisbares, häufiges Zusammentreffen von Einzelsymptomen, die als Gruppe auftreten, ohne dass man bisher verstanden hat, wie und ob sie eigentlich ursächlich zusammenhängen. Oder man könnte es noch allgemeiner verstehen als das, was erstaunlich viele Disziplinen einen ‚cluster‘ nennen: eine Zusammenballung von Phänomenen in Gruppen, Klumpen, Trauben, die äußerlich durch ihre Ähnlichkeit zusammenhängen, deren inneren Zusammenhang man aber leider noch nicht verstanden hat. Cluster, so dachte ich in einem mittelgroßen Sprung, sind eigentlich genau das, was man braucht in der neuen, Nicht-HUI-Philosophie, die nicht mehr glaubt an ewige Wahrheiten, an eindeutige Begriffe, an einsinnige und lineare kausale Zusammenhänge; die lieber operieren möchte mit mehrdeutigen (aber nicht unbestimmten!) Begriffen, multikausalen und gelegentlich chaotischen Funktionen (oder noch lieber: Wechselwirkungen, in beide Richtungen) und skeptischen (aber nicht beliebigen) Hypothesen. Eine Philosophie der mittleren Größenordnung, sozusagen; eine Philosophie, die tief beobachtet, viel wahrnimmt, auch die Kleinigkeiten, und sich dabei nicht abtrennt von den Phänomenen (weil sie ein Teil davon ist). Man könnte vielleicht auch sagen: einer HSP-Philosophie (für die Spezialisten: einer emotional angereicherten eklektizistischen Kreuzung aus Empirismus und Skeptizismus mit einer verdächtigen Nähe zur Literatur; oder so ähnlich)?
Cluster, um noch ein wenig bei diesem ‚weichen‘ Begriff zu bleiben, sind ein gutes Beispiel für eine solche Philosophie. In der Medizin meinen sie die Kombination einzelner Symptome zu Syndrom-Komplexen; in der Computertechnik Datengruppen mit ähnlichen Eigenschaften (und KIs sind ziemlich gut darin, die Gemeinsamkeit auch tatsächlich zu finden, im Gegensatz zu Menschen); im Städtebau die verdichtete Ansammlung bestimmter Bebauungstypen; in der Genetik Gruppen von benachbarten Genen mit ähnlicher Funktion. Es gibt noch weitere Beispiele, aber sie alle teilen wesentliche Eigenschaften: Es handelt sich um wahrnehmbare Phänomene; sie weisen eine räumliche und/oder zeitliche Nähe auf; sie sind aber auch qualitativ, in der Erscheinungsform, ähnlich. Und, ganz wichtig: Man kann (noch) nicht analytisch sagen, worauf diese Nähe eigentlich beruht, wie es kommt, dass sich diese Cluster bilden, was die Quelle, der Grund, die einfache Ursache der Kopplung ist. Aber es gibt eine Abgrenzung von Dingen im Cluster zu Dingen außerhalb des Clusters; gelegentlich sind sie auch hierarchisch aufgebaut. Der Begriff bewegt sich dabei auf einer mittleren Ebene zwischen einem abstrakten Allgemeinbegriff und realen beschreibbaren Phänomenen; und schon seine Allgegenwärtigkeit in den unterschiedlichsten Disziplinen macht ihn zu einem guten Kandidaten für einen unterschätzten Allgemeinbegriff menschlichen Denkens und Vorstellens.
Schließlich hat er sogar nicht nur eine deskriptive, sondern auch eine produktive Variante, nämlich das ‚clustering‘, einer der mind map und dem brainstorm verwandte Kreativitätstechnik: assoziative, intuitive Verfahren, die davon ausgehen, dass neue Erkenntnis am besten entsteht, wenn man seinen Gedanken freien Lauf lässt und sie nicht durch Begriffe, Kategorien, Logiken, Vorgaben stört. Beim ‚clustering‘ wird zunächst in der Mitte (ja, in der Mitte!) eines freien Blatt Papiers, ein Wort oder eine Aussage notiert; dann werden um dieses Zentrum Assoziationen gruppiert, die jeweils mit der vorangehenden Assoziation durch einen Strich verbunden werden. Beginnt eine neue Assoziationskette, geht man wieder vom Cluster-Kern aus. So entsteht allmählich ein Netzwerk – und ja, Netzwerk ist ganz sicher auch ein wichtiger Begriff in der HSP-Philosophie, wie ich sie vorläufig genannt habe (und Netzwerke sind natürlich das, was die Synapsen in unserem Gehirn bilden, auch wenn wir nicht einmal andeutungsweise verstanden haben, wie genau das funktioniert; auch hier gibt es also ein physisches Korrelat). Cluster, Netzwerke, Symptome, Assoziationen; Grade, Wahrscheinlichkeiten, Übergänge, Wechselwirkungen; das sind die tools im Werkzeugkasten der HSP-Philosophie. Die Definitionen können derweil spazieren gehen und sich mit dem Gesetz des Widerspruchs verbünden; der Syllogismus dreht die wunderbarsten Pirouetten, die vier Kausalitäten beißen sich selbst in den Schwanz und singen HUI dabei. Sie bilden auch keine Cluster, sondern ein System; was immer noch eine schöne Sache ist, aber: Man muss halt dran glauben (und über die Kleinigkeiten hinwegsehen).
SHIRI‘S SCISSOR ODER: AN DEN WURZELN DER MORAL ZU SÄGEN
Auch diese Geschichte hat einen Rahmen, der miterzählt werden muss. Sie passierte nicht mir, sondern meinem Ehemann, und zwar auf einem geschäftlichen Interkontinentalflug von San Francisco nach Stuttgart in der business class. Der Flug hatte damit begonnen, dass ein Kollege meines Mannes, während er sich noch wohnlich auf den bekanntermaßen üppigen Sitznischen der business class einrichtete, sein iPhone fallen ließ, und es verschwand – nun, eine oberflächliche Suche konnte nicht lösen, wohin es verschwand; es schien, als sei es in eine Art Bermuda-Dreieck gefallen, die sich unter den business classes dieser Welt auftut, wann immer eine der vielen electronical devices, die Geschäftsleute auf den Kontrollbändern der Flughäfen dieser Welt in kleine grauen Kisten legen, fällt. Verschwunden, einfach verschwunden. Die Suche zog Kreise, die Umsitzenden halfen natürlich sowie eine zunehmend besorgte, energische Stewardess, die unmissverständlich klarmachte, dass im Falle eines verschwundenen Smartphones kein Flugzeug dieser Welt jeweils abheben würde; wüsste man denn? – und der Satz musste nicht ausgesprochen werden, wussten wir doch alle. Hektisch und immer hektischer suchte man, bis sich schließlich das vermisste Teil tief in einem der Rückenpolster auffischen ließ, allgemeines Aufatmen und baldiges Abheben. Aber man war sich nähergekommen, irgendwie, menschlich. Und so fand sich mein Ehemann in einem längeren Gespräch mit seiner Sitznachbarin wieder, einer ziemlich jungen Frau aus der Elektronikbranche, die die interessantesten Geschichten aus eben dieser erzählte, irgendwie machte sie was mit Filmen und KI, genau kommt es nicht darauf an. Sie jedenfalls war es, die meinem Ehemann hoch ober dem Polarkreis von Shiri‘s scissor erzählte; einer Geschichte, die seit 2018 durch das große weite Internet geistert und die demonstriert, wie man eine bestimmte Art von statements erfindet – kontroverse Behauptungen nämlich, die die Menschheit nicht nur in genau zwei Hälfen spaltet, sondern in zwei Hälften, von denen jeweils die eine die andere Hälfte für total bekloppt, verbrecherisch uneinsichtig, nicht ganz zurechnungsfähig erklärt, und am Ende steht man sich mit Messern in den Händen und Hass im Gesicht gegenüber.
Nun ist viel geredet und geschrieben worden über sich die in unseren Wohlstandszonen zunehmend breit machende gesellschaftliche Spaltung, für die der Brexit, die Flüchtlingsfrage oder die Wahl von Donald Trump nur die bekanntesten Ursachen seien. Was mich aber eigentlich mehr interessiert, ist, dass diese Spaltung ja auch auf viel weniger wichtigen, eher banalen und alltäglichen Gebieten zu beobachten ist und insofern auch kein besonders neues Phänomen: Sobald die Menschheit die Wahl hat (was immer ein Luxusphänomen ist, in Notstandssituationen wird nicht diskutiert), zerfällt sie in zwei Hälften: Kaffee- und Teetrinker, Hunde- und Katzenliebhaber, Warmbader und Kaltduscher sind meine Lieblingsbeispiele dafür, seit einiger Zeit auch Apple- und Microsoft-User. Das ist natürlich alles ein wenig arg in Schwarz und Weiß getuscht, aber in großen Zahlen scheinen Leute so zu funktionieren, was beispielsweise auch die häufig ziemlich dicht um die 50 %-Marke schwankenden Wahlergebnisse in politischen Systemen mit Mehrheits- und nicht Verhältniswahlrecht zeigen. Sogar die Natur weiß, dass sie ungefähr zur Hälfte Frauen und Männer produzieren muss, aber seit LGTB sind wir zum Glück klüger. Nein, und was ein überzeugter Teetrinker ist, dem kann man noch so lange die Vorzüge von Kaffee preisen, er wird ihn immer noch für eine geschmackliche, und irgendwie subtil damit verbunden: auch für eine charakterliche Verirrung halten. Das war es, was mich auf Anhieb an Shiri‘s Scissor so faszinierte: die Einsicht, dass es gar nicht die großen Konflikte sein müssen, die die Menschheit in zwei Hälften teilen (wir hatten gerade auch mit Stuttgart21 ein ziemlich traumatisches Erlebnis mit Entscheidungen mittlerer Tragweite), sondern es mit kleinen Themen genauso funktioniert. Und dafür liefert Shiri‘s Scissor nun – nein, nicht die endgültige Erklärung, aber immerhin einige wichtige Einsichten.
Die von Scott Adams erfundene Geschichte geht nämlich so: Eine Tech-Firma aus dem Silicon Valley erhält die Aufgabe, einen Algorithmus zu entwickeln, der möglichst kontroverse Statements generiert, also Aussagen mit hohem, aber nicht auf den ersten Blick ersichtlichem Spaltungspotential und einer möglichst kurzen Halbwertszeit bis zur Zündung, die dann maximales Chaos anrichtet und zu dem oben geschilderten Hass-Szenario führt. Das Unternehmen kommt auf die ziemlich kluge Idee, als Datenbasis Reddit zu benutzen – eine international viel genutzte Benutzerplattform zu allen möglichen Themen und Interessengebieten, sogenannten subreddits; man kann die ganze Plattform außerdem nach möglichst kontroversen posts absuchen. Mehr brauchte man nicht. Der Algorithmus lernte von reddit, welche Postings viele Besucher anlocken und welche den maximalen Konflikt erzeugen; und dann lernte es von sich aus, eben solche Postings zu erzeugen: „Donald Trump ist nicht mehr Präsident, alle Transgender-Personen sind Präsident“. Oder die Geschichte von dem Bäcker in Denver, der keine Hochzeitstorte für ein homosexuelles Paar backen wollte, weil das seine religiösen Überzeugungen verletzte (ein realer Fall, den, so geht die Geschichte, Shiri‘s scissor aber schon vorher produzierte; die Spiegel-Online-Abstimmung, heutiges Datum, zeigt 45 % dafür, 46 % dagegen, oder anders herum, das ist egal). Je entlegener das Beispiel, desto besser!
Die Geschichte nimmt dann einen relativ lustigen twist, weil eine anderes Start-Up auf die verwegene Idee kommt, den scissor-Algorithmus am eigenen Unternehmen und ihrer internen Datenbank auszuprobieren. Beauftragt mit dem Projekt wird eine Dame namens Shiri, und es wird das Ende des Start-Up, sozusagen. Danach war man nicht mehr eine große Familie, sondern es gab nur noch Todfeinde. Denn Shiri‘s scissor schlug vor, die Produkte der Firma möglichst so zu designen, dass man die denkbar schlechteste Entscheidung traf, sie auf die falscheste Art der Welt codierte und dann mit einer hässlichen Beleidigung dem Kunden präsentierte. Die eine Hälfte der Mitarbeiter war fest davon überzeugt, dass sie genau das sowieso täten, es die Grundlage ihres Erfolgs sei und insofern vollständig rational und auch nicht korrigierbar; und die andere Hälfte wollte alles besser-perfekter-kundenfreundlicher machen und hielt es für die ultimative Katastrophe, das Gegenteil zu verfolgen. Natürlich neigt man von außen und spontan dazu, letztere Position für die wahre, rationale, sinnvolle, menschenfreundlich zu halten. Aber, wenn man sich ein wenig auskennt in der schönen neuen Welt der Start-Ups, der uns so unersetzlich gewordenen electronic devices (die gern in Flugzeugpolstern verloren gehen) und des sicherlich nicht zur Gänze als rational zu bezeichnenden massenhaften Käuferverhaltens – man könnte immerhin ein wenig ins Zweifeln kommen. Gab es da nicht so etwas wie geplante Obsoleszenz? War es nicht billiger, Diesel-Betrugseinrichtungen zu programmieren als eine funktionierende Abgasreinigung? Hat man nicht doch sichtbare, greifbare, zählbare Beweise dafür, dass im Wirtschaftsleben nicht die rationale Entscheidung das Geld und den Erfolg brachte, sondern gerade die – falsche, unverschämte, gefährliche, ‚disruptive‘?
Was jedoch, und das ist die eigentlich interessante Frage, macht eine Aussage geeignet für ein scissor statement, und was nicht? Denn das verrät der Algorithmus ja nicht, der seine deep-learning-Erkenntnisse schön für sich behält, wie das eine blackbox eben so tut, die keine Fenster hat. Offensichtlich führen die beiden Seiten der Schere zurück auf einen Wertekonflikt, der seine Wurzel ist: den Schnittpunkt, wo sich die beiden Scheren kreuzen, und der durch die oberflächliche Zufälligkeit des statements erst einmal verdeckt wird, das sich sozusagen weit entfernt an den oberen Klingenrändern abspielt. Nun gibt es viele schöne und sehr grundlegende Polaritäten, die würdige Kandidaten abgeben würden. Die in vielen Ländern nahezu konstante politische Spaltung wird gemeinsam als eine zwischen progressiven und konservativen Haltungen erklärt; die einen finden Fortschritt, die anderen finden Tradition gut; erstere glauben normalerweise daran, dass der Mensch im Grunde gut ist, letztere, dass an dieser Annahme historisch begründete Zweifel bestehen. Optimismus und Pessimismus scheinen mit hineinzuspielen, halb leere und halb volle Gläser; vielleicht auch Realismus und Idealismus, und das alles schillert ja auch irgendwie miteinander verwandt. Dass es jedoch Konflikte von moralischen Grundwerten seien müssen, daran scheint kein Zweifel möglich (außer, man fütterte Shiri‘s scissor gelegentlich damit?): Nur über unterschiedliche moralische Werte erregen sich Menschen bis aufs Blut, nicht über verschiedene Ideen oder Farben. Über ästhetische Urteile mag man sich streiten oder nicht, juristische Urteile kann man anfechten oder nicht, Theorien belegen oder nicht; aber da, wo es ums Glauben geht, um das, was vermeintlich unsere Person ausmacht, unsere Leitwerte, unsere tiefsten Überzeugungen, die so tief in uns wurzeln, dass wir es nicht überleben würden, wenn man sie ausgraben und freilegen würden – also um all das, was wir mit dem ebenso unscharfen wie massiv aufgeladenen Wort ‚Moral‘ bezeichnen: Da wird es gefährlich.
Damit wird jedoch ausgerechnet das Denksystem ‚Moral‘ – wenn wir es einmal möglichst neutralisierend als solches bezeichnen mögen –, das wir zum Kronzeugen unserer ‚Menschlichkeit‘ erklärt haben, zum gefährlichsten Kriegsgrund. Nicht nur Religionskriege entzweien die Menschen fundamental, so drängt sich auf einmal der Verdacht auf, sondern Werte-Kriege könnten die explosivsten Konflikte der Zukunft sein, Gut- und Wohldenkende der einen Richtung gegen Gut- und Wohldenkende der anderen, mit gezückten Messern, nicht nur likes oder dislikes. Was aber ist die Wurzel der Wurzeln, welcher Wert ist der fundamentalste, der, auf den alle Scheren zurückführen – gibt es ihn überhaupt, und wüsste man gern, welcher es ist? Ich bin mir nicht sicher, ob es ihn gibt, und vor allem bin ich mir nicht sicher, ob ich es gern wüsste, und das will schon etwas bedeuten. Aber ich weiß, ganz sicher und jenseits aller Scheren, dass Wissen seinen Preis hat, und großes Wissen hat große, schmerzhafte Preise (weshalb der Sündenfall eine der allerklügsten und interessantesten Geschichten der christlichen Bibel ist, die im Übrigen viele, viele scissor statements haben mag, wenn man genauer hinschaut). Aber wahrscheinlich hat der Algorithmus sowieso schon eine Idee dazu. Mittlerweile könnte es eine Zwischenlösung für uns skeptische Humanisten sein, Kaffee und Tee zu trinken, Katzen zu mögen und Hunde, sein iPhone neben den Microsoft-PC zu legen und diejenigen Partei zu wählen, die einem gerade am wenigstens absurd vorkommt (aber das wird schon ziemlich schwierig…). Die radikalere Lösung wäre es, über die Leistungsfähigkeit (und vor allem: die Grenzen!) eines Systems nachzudenken, das ausgerechnet moralische Werte, die kontroversesten und gleichzeitig substanzlosesten überhaupt, zur Leitwährung erklärt hat. Aber dieser Gedanke könnte schon das Zeug zu einem ziemlich starken scissor statement haben.
DIE WONNEN DES WARUM
Wäre es doch möglich, dass Ökonomen, oder, schlimmer gar: Management-Theoretiker die besseren Philosophen sind? Wenn sie es auch nicht geschafft haben, die Finanzkrise zu verhindern oder gar vorauszusagen; wenn sie auch immer noch mit einer geradezu rührenden Naivität an die unsichtbare Hand des Marktes glauben (und über die Puppenspieler, die an ihren Fäden ziehen, geflissentlich hinwegsehen) oder an die ökonomische Rationalität von Leuten an der Börse (die gelegentlich eher eine Art psychologischer Freilandversuch zur Entstehung von Hysterie und ihrer Fortpflanzung durch Ansteckung zu sein scheint) – all dies einmal außer Acht gelassen, das ist ja nur ihr Kerngeschäft, nein: Das, was Ökonomen und Management-Theoretiker wirklich gut können, ist, Dinge zu analysieren und zu organisieren. Sie erfinden dafür sogar neue Worte, und schon das hätte einen auf die Idee bringen können, dass es doch eine geheime Verwandtschaft zur Philosophie gibt.
Als ich das erste Mal einen Begriff aus diesem seltsamen, sich wahrscheinlich von MBA-Schulen virusartig um die Welt verbreitenden Management-Sprech hörte, war ich etwas verwirrt. Es ging nämlich um Sachverhalte, von denen ich bisher, naiv, wie ich war und trotz aller Ideen- und Systembankrotte an die unsichtbare Hand der Vernunft glaubend, meinte, sie würden irgendwie zur geistigen Welt gehören und nicht zum Feind (dem Kapitalismus, der Industrie, dem gedankenfernen Reich des Geldes und der Macht, all das, was man in seiner naiven Jugend halt für den Feind hielt, es war aber nur das Andere). Man sprach plötzlich also in Wirtschafts- und Firmenkreisen von ‚IP‘, kurz und englisch für ‚intellectual property‘, und die kleine schlafende Kommunistin in mir rief empört: Jetzt haben sie auch noch Gedanken zum Eigentum erklärt, das freieste überhaupt! Nun, ich war sehr naiv und auch ziemlich unwissend; mir war nicht klar, dass es natürlich schon lange einen Begriff geistigen Eigentums gibt, und aus guten Gründen gibt, denn die Gedanken mögen zwar frei sein, aber ihre Verwertung führt doch sehr schnell ins Reich der Unfreiheit, wo Anwälte um Patente feilschen und Verlage um copyrights und Firmen um Betriebsgeheimnisse und Marken um Markenzeichen.
Ich verarbeitete noch diese erschütternde Grenzübertretung, da hörte ich von der ‚ownership‘. Die sollte man nämlich auch noch haben über seine Ideen! (I’m the proud owner of a very strange pack of ideas, I’m not so very proud of, würde ich heute sagen können, im Stadium des sehr fortgeschrittenen Zynismus und der habituellen Persönlichkeitsspaltung). Nun, es stellte sich heraus, dass auch diese Idee gar nicht so falsch und sogar ziemlich nötig war; denn bekanntlich übernimmt der Mensch nur über das, was er besitzt, Verantwortung, und nicht etwas über das, was er denkt oder gar tut (wir reden hier nicht über die übliche unreflektierte und unbefugte Aneignung der Ideen fremder Leute, vor allem wenn sie gebrauchsfertig in hübsche Schlagworte verpackt sind und man nur noch damit um sich werfen muss). Nein, nur Ideen, die man nicht nur selbst geboren hat, sondern die man dann auch angenommen, aufgepäppelt und irgendwann in die Öffentlichkeit entlassen hat und zu denen man dann auch steht, sind geistiger Besitz, Übernahme von ownership. Man hat Betreuungspflichten, sozusagen, Verantwortung, um das moralinsaure deutsche Wort noch einmal zu sagen, ownership klingt aber so viel besser, weil jeder natürlich be-sitzen will, keiner aber ver-antworten (außer, es bringt Geld, und deshalb ist ownership in wirtschaftlichen Zusammenhängen so populär). Dass das wehtut, lernt jeder wirklich Denkende in den Zeiten der universalen Sprachpolizei schnell und schmerzhaft, sobald er einmal einen unbotmäßigen, aber sehr eigenen Gedanken in die freie Wildbahn entlassen will.
Das ist jetzt vielleicht noch nicht allzu philosophisch relevant, weil es eher um die Betriebsbedingungen des Philosophierens (wenn man das gezielte und beabsichtigte Denken mal hochtrabend so nennt, also nicht das unverbindliche Dahergedenke, was man den größten Teil des Tages so tut) geht als um seine Kernkompetenzen (auch so ein eingewanderter Begriff, über den man viel lachen kann, weil er so schrecklich falsch und übertrieben oft verwendet wird, er hat aber Substanz, schon weil er ein Bild dabei hat). Eine typische Kernkompetenz von Philosophie wäre zum Beispiel, da kann man sich wohl sogar in unterschiedlichen Philosophenschulen (was ein Oxymoron ist, wenn es je eines gab) einigen, die Erforschung von Ursachen (analytisch) und die Vorhersage von Konsequenzen (synthetisch); ersteres ist unbestritten, zweiteres – nun ja: problematisch. Aber bleiben wir einen Moment dabei, verdrängen wir auch die höchst scholastischen jahrhundertealten Debatten um verschiedene Arten von Kausalität (der owner ist, höchstwahrscheinlich, schon Aristoteles gewesen) oder zulässige Arten von logischen und anderen Schlussverfahren. Bleiben wir einfach kurz dabei, dass ein Denken, das das ‚Warum‘ und ‚Woher‘ der Dinge ebenso bedenkt wie das ‚Wozu‘ und ‚Wohin‘, durchaus sinnvoll ist; sonst könnte man schließlich gleich stehenbleiben und den ganzen Tag seinen Bauchnabel betrachten, und nie rührt sich etwas, kein Warum, kein Wozu, nur Bauchnabel und absolute Gegenwart. Weil es aber in der komischerweise immer frei genannten Wirtschaft (oh nein, kein Oxymoron; frei wäre sie, wenn es kein Geld gäbe, was überhaupt eine der wenigen halbwegs sinnvollen Definitionen von Freiheit sein könnte) ziemlich darauf ankommt, herauszubekommen, warum etwas so geworden ist, wie es ist, ein fehlerhaftes Produkt zum Beispiel, hat man das 5-W-Prinzip erfunden (die 5 ist relativ willkürlich, aber erfahrungsgemäß ein guter Durchschnittswert): eine Anleitung zum Weiter- und Tieferfragen, immer weiter, warum, warum, warum, warum, warum?, bis die tieferliegende, verdeckte, eigentliche Problemursache endlich gefunden ist (eigentlicher owner, natürlich: Sokrates, die Hebamme). Man kann dabei auch entdecken, dass ein Problem mehrere Ursachen hat. Oder dass man eigentlich überhaupt nicht verstanden hatte, was man sich da ausgedacht hat, da man schon angesichts des dritten Warums die weiße Fahne schwenken muss. Nehmen wir einen beliebigen Satz aus Hegels Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, nehmen wir einen dieser schwergewichtig programmatischen Sätze, über die ganze Bibliotheken an Deutungen publiziert worden sind: „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein“ – und werfe man sich in die Wonnen des Warum?, dem nicht fünf, nicht zehn weitere folgen werden, nein, eine beinahe unabsehbare Folge von WarumWarumWarumNur? (und nein, die Phänomenologie des Geistes ist nicht, wie Hegel wenig später behauptet, die etwas arg umfangreich geratene Antwort auf diese Frage; alle die entscheidenden Warums liegen der Phänomenologie als Annahmen bereits voraus).
Es wäre aber beinahe noch besser, wenn man die fünf W’s auch – und hier sprechen wir eher von der praktischen Philosophie, den Maximen des Handelns – in die Zukunft auswerfen könnte (auch so etwas gab es schon einmal in technischen Disziplinen, es nannte sich etwas mühsam ‚Technikfolgenabschätzung‘). Vielleicht könnte eine neue Partei, nennen wir sie: ‚Die Weiter-Denkenden‘, eine Art Gesetzentwurf einbringen, demzufolge bei jeder neuen Verwaltungsvorschrift mindestens fünf Schritte weiter zu bedenken ist, wohin sie führen mag? Am besten auch bei jedem Grundsatzurteil? Bei jeder politischen Forderung überhaupt? Die Erfindung des Begriffes und des Sachverhalts der Nachhaltigkeit war durchaus schon ein schöner Schritt in diese Richtung, aber bisher doch sehr beschränkt auf ökologische Sachverhalte, die schon komplex genug sind. Denn das ist das Tückische am Vorwärtsdenken: Es begibt sich, im Gegensatz zum Rückwärtsdenken, das nur versucht, einen beschrittenen Weg rückwärts zu rekonstruieren, auf ein völlig freies Feld, der Weg kann in jede Richtung gehen, jede Kreuzung ist eine Entscheidung und woher soll man wissen, auf welcher Wiese das Gras grüner blühen wird, außer, dass es immer auf der Nachbarwiese ist? Da hilft kein Navi („weisen Sie uns den Weg in Richtung beschleunigter technischer Fortschritt und individueller Glücksmaximierung bei minimalen ökologischen Folgelasten und minimalen ökonomischen Mitteleinsatz bei gleichzeitig gewährter sozialer Gerechtigkeit, weltweiter Gleichheit und Freiheit, und zwar den kürzesten Weg!“). Aber mangelnde Erfolgsaussichten haben noch keinem vom Denken abgehalten, sonst wäre es schon längst ausgestorben.
Denn das Gute an der Wirtschaft ist: Sie hat eine eingebaute Korrekturfunktion. Dinge funktionieren oder nicht, sie verkaufen sich oder nicht; Ideen können in Produkte umgesetzt werden oder nicht; und die Rahmenbedingungen sind immer mit zu bedenken. Organisation ist der Schlüssel zur modernen Welt nicht nur des Wirtschaftens, sondern auch des Denkens; und sie bewährt sich in der realen Welt, nicht im Ideenparadies. Es wird Zeit, dass die Philosophen rausgeworfen werden; sie haben lange genug an den Früchten der Erkenntnis genascht und sich nur den Magen verdorben (man darf das Bild weiterdenken, es wird aber sehr schnell unappetitlich).
ZIELKONFLIKTE
Bei einer der üblichen Diskussionen beim Abendessen, wir hatten uns gerade von den konfliktträchtigeren Corona-Themen wegbewegt, erklärte mir mein Sohn, was ein Regelkreis ist, also: was ein Regelkreis im technischeren Sinne ist, fernab von meinen wie üblich ziemlich vagen Vorstellungen dazu. Ich weiß wirklich nicht mehr, wie wir darauf kamen, aber ich weiß genau, wann ich aufhorchte: nämlich, als das Wort ‚Zielkonflikt‘ fiel. Es sei nämlich so, erklärte mir mein jugendlicher Haus-Physiker, dass Regelkreise Dinge entweder schnell oder genau regeln könnten (es ging um Heizungen, jetzt fällt es mir wieder ein, um was sonst!). Es ginge aber nicht beides gleichzeitig: Entweder würde es sehr schnell warm – aber dann auch eher unverhältnismäßig warm, sozusagen, worauf man dann wieder zurückregeln muss; oder es würde genau so warm, wie man es haben möchte an einem frischen Frühlingsabend mit sommerlichen Tagestemperaturen, aber das würde länger dauern. Das sei nämlich ein klassischer Zielkonflikt: schnell oder präzise! Ich sah geradezu, wie sich die Regelkreise in meinem Gehirn bei diesem Wort in Bewegung setzten: Wollte ich es jetzt genau wissen, also technisch begründet – aber das würde sicherlich eine längere Erklärung erfordern, unter Einsatz eines Blattes Papier und eines Bleistiftes, und derweil würden die Nudeln kalt werden, die man dann entweder schnell oder genau wieder erhitzen – nein, ich wollte es lieber schnell und vage haben, denn so arbeitet mein Gehirn bei normaler Betriebstemperatur eigentlich am besten: freundlich im Ungefähren, aber mit hohem Tempo. Um zu sehen, dass wir ständig von Zielkonflikten umgeben sind, dafür hätten wir Corona jetzt auch nicht unbedingt gebraucht; die Klimakatastrophe hätte es auch getan, ach, überhaupt jeder nur mittelmäßig ausgeprägte politische Konflikt! Aber der Begriff erleichtert das Nachdenken darüber ungeheuer. Die Geschichte des Menschen ist eine einzige große Anschauung zu diesem Gedanken (na gut, ich sag es doch: Man kann den Kuchen nicht haben und essen. Man bewege diese Satz in seinem Herzen. Ein klassischer Zielkonflikt und unendlicher Auslegung fähig).
„Das ist doch paradox!“ ist heute meist ein Ausruf der Empörung: Was paradox ist, kann nämlich nicht wahr sein. Oder vielleicht doch? Schon seit der Antike pflegt das Paradox ein komplizierteres Verhältnis zur Wahrheit. „Ein Kreter sagt: Alle Kreter lügen“, das sagt sich leicht daher, und heute würde man sowieso eher der politisch unkorrekten Verwendung von Nationalstereotypen angeklagt werden als der Verwendung eines uralten logischen Paradoxons. Sobald man aber anfängt über die lügenden Kreter nachzudenken, hat man das definitive Gefühl, das sich die Gehirnknoten in unserem Kopf schmerzhaft noch weiter verwirren: Aber der Kreter, der die Aussage gemacht hat, ist doch auch ein Lügner? Aber er sagt doch die Wahrheit, nämlich, dass alle Kreter – und mithin auch er selbst – Lügner sind? Was ist denn nun mit unserer schönen sauberen Wahrheit und ihrem Zauberkind, der unfehlbaren formalen Logik, Gesetz des Widerspruchs und so? Ein Satz kann doch nicht gleichzeitig wahr und falsch sein, oder? Oder vielleicht doch? Ach, ist das paradox!
Die Geschichte des Paradoxes ist, das ist zu erwarten, ein klein wenig paradox. Denn eigentlich war es ursprünglich, in der Antike, wo für eine bestimmte Spielart der westlichen Zivilisation alles begann, eine ziemlich gute Sache. Das Ausdenken von cleveren paradoxen Sätzen nach dem obigen Muster gehörte sozusagen zum philosophischen Alltagsgeschäft. Es demonstrierte, dass man sich mit der Logik gut genug auskannte, um mit ihr spielen zu können, und besonders die Mathematiker liebten es; bis heute ist eine große Zahl der bekanntesten Paradoxe mathematischer Natur. Zudem machte es, schon vom Wort her, klar, was Philosophie in ihrem Kerngeschäft eigentlich ist, nämlich: Abgrenzung der Spezialisten vom dummen Glauben und naiven Fürwahrhalten der Menge: para-doxa ist das, was der allgemeinen Meinung (doxa) entgegen (para) steht. Der philosophische Paradoxenmacher betritt sozusagen den Gemeinplatz der öffentlichen Meinung und fängt gezielt und mutwillig an, ihn zu verunreinigen; er ist ein Meinungsstürmer, ein Antithesenmann, ein mutwilliger Zerstörer geliebter Gewissheiten. Das Paradox ist, positiv gesehen, aber geradezu ein Akt der Aufklärung: Man nehme eine Meinung, möglichst eine mit vielen Anhängern; und dann behaupte man stracks das Gegenteil! In Gang gesetzt wird damit, im besten Fall, eine Überprüfung von bisher unbeschwert von jeglichem Beweis geglaubten Geltungsansprüchen, man kann auch sagen: Vorurteilskritik (aber mit offenem Ausgang! Vorurteile sind – Vorsicht, Paradox! – allzu häufig nämlich ziemlich wahr, und die pauschale Verurteilung des Vorurteils eher eine klassische doxa). Im schlechtesten Fall allerdings kann mit Paradoxen auch in Gang gesetzt werden: eine Schlägerei, die Verfolgung als Ketzer (kann man sich vorstellen, dass die Erde sich um die Sonne dreht, nicht umgekehrt? Das ist doch paradox!) oder deren modernes Äquivalent, der vernichtende shitstorm.
Es gab Philosophen, die galten als berüchtigte Paradoxenmacher. Jean-Jacques Rousseau gehört zu ihnen; ein Denker, der den ultimativen Erziehungsroman schrieb (Emile) und seine fünf Kinder in ein Waisenhaus steckte (er hielt es angesichts der schwierigen sozialen Situation in seinem Haushalt für die beste Lösung im Kindesinteresse); ein Denker, der in seiner skandalösen Autobiographie, den nicht umsonst so genannten Bekenntnissen, hemmungslos seine persönlichen Schwächen und Missetaten (Diebstahl! Hurerei! Betrug!) zugab, aber sich selbst zum Besten aller Menschen erklärte; ein Denker, der in seinem Sozialvertrag eine Grundschrift der Demokratie vorlegte, sich aber gern von adligen Frauen durchfüttern ließ – man könnte die Beispiele noch weiter fortsetzen. Ein schönes kleines Paradox Rousseauscher Prägung sagt beispielsweise über die Erziehung: „Soll ich es wagen, an diese Stelle die erste, wichtigste und nützlichste Regel aller Erziehung auseinanderzusetzen? Sie besteht nicht darin, Zeit zu gewinnen, sondern Zeit zu verlieren. Verzeiht mir, ihr oberflächlichen Leser, meine Paradoxien; unwillkürlich muß man bei reiflichem Überlegen welche machen, und was ihr auch dazu sagen mögt, ich will lieber für einen paradoxen Mann gelten, als ein Mann voller Vorurteile sein“. Ein Satz, den man allen Bildungsreformern und Bologna-Propagandisten ins Stammbuch schreiben möchte (sie haben aber schon lange kein Stammbuch mehr, sondern nur Powerpoint-Präsentationen, das geht einfach schneller)! Nein, Erziehung ist kein Wettrennen, da hat Rousseau völlig Recht; sie ist ein Prozess, der seine Zeit braucht, und diejenige, die man dabei anfangs verliert, wird im Erwachsenenleben mit Zinsen zurückgezahlt. Um das zu erkennen, so Rousseau mit mild verpackter Polemik, reicht es aber nicht, ein „oberflächlicher Leser“ zu sein, der auf Zeitgewinn liest und deshalb Texte schätzt, die seine Vorurteile kompakt bestätigen: Das geht dann runter wie Öl, man fühlt sich gleich unverbindlichst wertgeschätzt, während so ein Paradoxenmacher wie Rousseau – nun, Splittersteine auf die Pisten des Denkens streut, und schon muss man langsam gehen, lesen, denken (das ist ziemlich schwer, wenn man es als Kind nicht gelernt hat, weil man eher auf Geschwindigkeitsrekorde und bullet points gedrillt wurde).
Aber eigentlich waren alle gründlichen Denker Paradoxenmacher. Kant, man sollte es nicht glauben, schreibt in seiner berühmten „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“: „So zeigt sich hier ein befremdlicher nicht erwarteter Gang menschlicher Dinge; so wie auch sonst, wenn man ihn im Großen betrachtet, darin fast alles paradox ist. Ein größerer Grad bürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit des Geistes des Volks vorteilhaft, und setzt ihr doch unübersteigliche Schranken; ein Grad weniger von jener verschafft hingegen diesem Raum, sich nach allem seinen Vermögen auszubreiten“. Klingt ein wenig kompliziert, konnte der gute Mann nicht einfach schreiben, dass Aufklärung der permanente Krieg gegen die bösen Vorurteile ist und der direkte und einzige Weg zur Meinungsfreiheit und Demokratie, so wie wir es den Kindern in der Schule beibringen? Aber nein, Splittersteine des Denkens. Erst behauptet er, dass eigentlich fast alles, was den Menschen betrifft, „im Großen betrachtet“ (also: aus philosophischer Perspektive) paradox sei; und dann behauptet er, dass man die Freiheit des Volkes einschränken müsse, um eine größere bürgerliche Freiheit insgesamt zu erreichen! Schranken sollen bei der Ausbreitung der Freiheit helfen? Das ist doch paradox! Ist es aber gar nicht; denn eine schrankenlose Freiheit wäre – überhaupt keine Freiheit. Warum das so ist, darüber muss schon jede selbst nachdenken; das ist nämlich das wahre Wesen von Aufklärung (notfalls kann man es aber auch bei Kant nachlesen sowie bei jedem Philosophen, der ein wenig tiefer über das Wesen der Freiheit nachgedacht hat, nicht jedoch in politischen Sonntagsreden für die angeblich freiheits-, aber eigentlich eher wohlfahrts- und bequemlichkeitsliebende Menge). Schopenhauer schließlich brachte das vertrackte Erkenntnispotential des Paradoxes ein wenig melancholisch und im Blick auf sein eigenes, ziemlich verkanntes und nicht wenig paradoxes Werk auf den Punkt (der Wille steuert den Menschen, nicht die Vernunft, die nur ein ziemlich mangelhaftes Produkt des allgemeinen Willens zum Leben sei? Ist das nicht ziemlich paradox?): Jeder Wahrheit sei nur ein „kurzes Siegesfest beschieden zwischen den beiden langen Zeiträumen, wo sie als paradox verdammt und als trivial geringgeschätzt wird“. Natürlich dreht sich die Erde um die Sonne. Natürlich verhalten sich Menschen nicht in erster Linie vernünftig, wie man bei jeder Wahl sehen kann (mit dem Rousseauschen Erziehungsparadox sind wir aber noch nicht ganz so weit…).
Paradoxe sind damit, wie man heute so schön verkleisternd sagt, eine ‚Herausforderung‘ an die Wahrheitsansprüche von Sätzen. Das ist für die meisten Menschen nicht weiter beunruhigend, wenn es nur um logische oder mathematische Paradoxa geht. Hier dürfen sich die Experten streiten und letztlich tangiert es uns wenig, ob alle Kreter lügen, außer wir fahren bei ihnen im Taxi. Der Satz funktioniert aber nicht nur mit Kretern, man könnte leicht variieren: „Ein Mensch sagt: Alle Menschen lügen“, und schon wäre man – naja, der Gefahr politischer Unkorrektheit entronnen, aber wahrscheinlich als Menschenfeind und Paradoxenmacher ziemlich verdächtig. Was man daran sehen kann, ist, dass auch die Logik nicht nur in den sterilen Reinräumen der Abstraktion stattfindet. Tatsächlich ist es sogar für das Weltbild insgesamt ziemlich entscheidend, ob man nun glaubt, dass mathematische oder metaphysische Systeme völlig widerspruchsfrei sein können (oder gar müssen) oder eine gewisse Widerspruchstoleranz aufweisen. Dialetheia heisst das Fachwort dazu, von dia: dazwischen und aletheia: Wahrheit. Eine Zwischenwahrheit? Ist das nicht paradox? Ja, aber nur wenn man in widerspruchsfreien Systemen denkt. Gerade östliche Philosophien haben dagegen Modelle entwickelt, die die Möglichkeit des Widerspruchs in die Wahrheitsfindung einbeziehen. So predigt der indische Jainismus, eine sozusagen aufklärerische Variante des Buddhismus, die anekantavada. Das ist zusammengesetzt aus den Sanskrit-Wörtern anekanta: nicht einseitig, vielseitig, und vada: Lehre, Weg. Anekavanta ist eine Theorie der fundamentalen Nicht-Einsichtigkeit in Erkenntnisdingen: Die Welt ist einfach zu vielseitig – modern gesprochen: zu komplex –, als dass eine einzige Aussage ihre Wahrheit angemessen wiedergeben könnte. Es gibt nur, zumindest für den Menschen als Sprachwesen – unvollständige Wahrheiten, graduelle Wahrheiten, und es ist durchaus denkbar, dass sogar gegensätzliche Wahrheiten sich zu einer höheren, aber immer noch nicht absoluten Wahrheit ergänzen (Gandhi wurde schon als junger Mensch mit dieser Erkenntnistheorie vertraut, und auch heute wird vor allem ihre politische Dimension hervorgehoben, aber wir lernen noch nicht wirklich vom Osten, aus dem die Sonne kommt).
In unseren westlichen Kulturen hingegen feiert die massenhafte doxa ebenso Triumphe wie die zunehmende Einseitigkeit und Absolutheit moralischer Bewertungen, bei allen Lippenbekenntnissen zur oberflächlich schillernden Vielfalt. Wäre es nicht schön, würde man die Kinder in der Schule, sehr langsam und sehr bedacht, eher zur bedachten Widerspruchstoleranz als zu einer verabsolutierten Meinungsgläubigkeit (schrankenlose Freiheit ist aber gar keine) erziehen? Würden nicht die öffentlichen Diskussionen sehr gewinnen, wenn man gelegentlich ein verwegenes Paradoxon in den Raum stellen dürfte, ohne gleich mit der großen Korrektheitskeule erschlagen zu werden? Theodor Fontane, ein gelegentlich zu Paradoxen neigender, zutiefst humoristischer Autor, lässt eine seiner wenigen Figuren, die beinahe schon Ideale sind, den altersweisen Dusblav von Stechlin nämlich, sagen: „Er hörte gern eine freie Meinung, je drastischer und extremer, desto besser. Dass sich diese Meinung mit der seinigen deckte, lag ihm fern zu wünschen. Beinah das Gegenteil. Paradoxen waren seine Passion. ‚Ich bin nicht klug genug, selber welche zu machen, aber ich freue mich, wenn's andre tun; es ist doch immer was drin. Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, so sind sie langweilig‘“. Er hat ja so Recht.
ALS-OB, ODER: BILDERBLITZE
Schon als Kind hatte ich eine Vorliebe für Vergleiche. Ich kann mich nicht mehr genau an die Szene erinnern, ich weiß auch nicht, wie alt ich war, wahrscheinlich frühe Pubertät, jedenfalls war meine Mutter dabei, und mein jugendliches Ich sagte, irgendetwas sähe wirklich aus wie – Blumenkohl (ich bin mir fast sicher, dass es Blumenkohl war). Es war ein entlegener Vergleich, das ist das Einzige, was ich noch mit Sicherheit sagen kann; und dass mich meine Mutter sehr erstaunt ansah und sagte, sie hätte wirklich keine Ahnung, wie ich auf so etwas käme. Ich auch nicht. Es war mir einfach in den Kopf geschossen, und ich hatte es rausgeplappert. Wir haben das dann nicht weiter vertieft, warum auch, das Kind war sowieso seltsam genug. Aber vielleicht habe ich von da an darauf geachtet, was mir so an Vergleichen durch den Kopf schoss (eine ziemlich militärische Metapher, jetzt, wo ich darüber nachdenke; eigentlich möchte ich lieber sagen, dass es kleine Erleuchtungen sind, Bilderblitze – aber ein wenig Gewaltsamkeit ist durchaus dabei). Denn das war das Wichtige daran: Man konnte das nicht steuern. Sonst hätte ich mir auch soeben etwas ausgedacht, was ich mit Blumenkohl verglichen hatte, Wolken oder so; aber ich kann mir so etwas nicht ausdenken, alles was ich mir nur willentlich ausdenke, kommt mir dann irgendwie falsch vor, unpräzise, hinkend mindestens auf einem Vergleichsfuß. Es muss einem einfallen, spontan; erst dann passt es wie angegossen.
Natürlich liebe ich deshalb auch Sprachbilder, Metaphern, Vergleiche, Symbole, Allegorien, was auch immer die Literaturwissenschaft so unterscheidet und was man dann doch nicht wirklich unterscheiden kann – also alles, was dazu führt, dass ein Bild mit einem Wort zusammenstößt, und es entsteht eine Überlagerung, die zuerst ein wenig hin und her oszilliert, sich dann immer stärker verdichtet und auf ihrem Höhepunkt einen Eindruck hinterlässt, der viel stärker und tiefer ist, als wenn es nur ein Bild oder nur ein Wort gewesen wäre. Eine ordentliche Metapher vibriert vor Leben. Sie zieht Geschwister nach sich, neue Ähnlichkeiten werden entdeckt, verborgene Vererbungslinien ans Licht gezogen, und auf einmal sieht man, an wie vielen ungesehenen Punkten die Welt zusammenhängt, mit sich selbst und mit der Sprache und mit unserem Erleben. Deshalb erlebe ich auch schiefe Metaphern oder Metaphernsalat als eine Art körperliche Irritation: Es ist, als habe man in einem griechischen Bauernsalat unter der französischen Vinaigrette eine Avocado entdeckt, und alle Geschmackssprossen tanzen auf einmal Tango dazu, und im Hintergrund singt ein Kirchenchor ein Medley aus Hallelujah, We are the Champions und Satisfaction (ja, das sollte zu Unwohlsein und Schwindel fühlen, genau, dieser Satz; er ist ja auch nur ausgedacht). Springlebendige kleine Sprachbilder, das ist etwas, das Kafka gelegentlich und sensationell und beängstigend gelingt; etwas, das Robert Musil, Ingenieur und Dichter, zu einer atemberaubenden Präzision perfektioniert hat; etwas, das Rilkes allerbeste Gedichte zu einer Erkenntnis vorantreibt, der alle Philosophie nur lahmend hinterherhinken kann, am ewigen Krückstock des Begriffs.
Das wissenschaftliche Wort dafür ist Analogie, das habe ich später gelernt; ana-logos, ein ähnlicher, proportionaler, modern gesprochen: funktionsäquivalenter logos, ohne dass es irgendeine gemeinsame Wurzel, einen gemeinsamen Seinsgrund gibt (wenn es diesen gibt, spricht man von Homologie: der gleiche logos liegt einem ähnlichen äußerlichen Erscheinungsbild zugrunde). Viele Wissenschaften benutzen diesen Begriff, er bedeutet immer ein wenig etwas anderes, aber im Wesentlichen das Gleiche: Analogien beruhen nämlich darauf, dass man Ähnlichkeiten erkennt, aber gleichzeitig weiß, dass es auch Unterschiede gibt. Nicht alles, was ähnlich aussieht, ist das gleiche; aber die Ähnlichkeit hat vielleicht trotzdem einen Grund, dem man nachforschen kann. Analogien verabsolutieren nicht, sondern sie fordern die Urteilskraft heraus: Was ist gleich, was ist ähnlich, was ist unterschiedlich, in welchem Grade, und warum ist es das? Analogien beflügeln das Denken; es muss sich nicht mehr an die starren Gesetze einer zweiwertigen Logik halten, es überschreitet die Grenzen von Kategorien, Begriffen, Disziplinen, es kann abheben und gleichzeitig – verwurzelt bleiben, im Gefühl, im Bild, im Erleben. Zu sagen, etwas sei wie etwas anderes, jedoch nur in gewissen Beziehungen, aus gewissen Blickwinkeln, mit beschränkter Gültigkeit und Dauer – wie kann man besser denken lernen, differenzieren, unterscheiden, verallgemeinern; aber auch: sehen, beobachten, wahr-nehmen? Die Welt ist ein gigantischer Blumenkohl; sie hat Rosen und Blätter und Verzweigungen und Schädlinge und sie ist roh selten genießbar (einige Blumenkohlarten bilden sogar Fraktale aus!). Die Welt ist kein gigantischer Blumenkohl; sie ist eine fast gleichmäßige Kugel, blau schimmert sie aus dem All gesehen, und sie wächst seit Jahrmilliarden, ohne ins Kraut zu schießen. Was ist die Welt? Ein Kontinuum, und auch das lernt man aus der Analogie: In der Technik spricht man von analogen Signalen, wenn sich Größen kontinuierlich ändern, also nicht diskret (sprunghaft, digital, abzählbar). Natürlich gibt es in der Natur und im Geist beides, das Kontinuum und den Sprung. Aber deshalb muss man auch lernen, beides zu erfahren und zu denken.
Diese Art von Als-Ob sollte man aber nicht mit Literatur im Allgemeinen verwechseln; nur in den allerbesten Fällen sprechen literarische Texte auf diese Weise bildlich und begrifflich zugleich und demonstrieren damit, dass Menschen sehende, fühlende und denkende Wesen in Einem sind. Fiktion hat nichts damit zu tun; Fiktion ist eine Legitimationsstrategie von Literaturwissenschaftlern, um sich davon zu entlasten, auf die reale Welt schauen zu müssen, sich ihrer Blumenkohl-Artigkeit aussetzen zu müssen. Man redet stattdessen lieber von Phantasie-Gemüsen, die wetterunabhängig auf allen Böden gedeihen und die hübschesten Phantasieblumen treiben, satt wird man allerdings nicht davon, und all das Erfundene neigt im Übrigen zu einer erschreckenden Eintönigkeit, wenn man es mit der Vielfalt natürlicher Phänomene vergleicht. Nein, es ist ein durchaus philosophisches Als-Ob, und als solches ist es verwandt (analog? homolog? Wir werden sehen!) mit einer anderen philosophischen Denkstruktur. Auch das wurde mir in einem Bedeutungserlebnis klar, irgendwann während meines etwas zerstreuten Philosophie-Studiums. Man sprach also über Kant, der zwar wirklich kein besonders begabter Analogiker ist (auch wenn er gelegentlich nette Bilder verwendet, aber sie sind nur Beiwerk, höchstens Gerüst, dessen man sich entledigen kann, wenn man es einmal zu einem ordentlichen Begriff gebracht hat), aber gute Ideen hat und Konsequenz (zwei chronisch unterschätzte philosophische Tugenden). Kant also, nachdem er sich selbst gründlich in die Ecke manövriert hatte mit seiner Kritik der praktischen Vernunft und eigentlich gar keine Möglichkeit mehr sah, moralisches Handeln überhaupt allgemein zu begründen, machte eine Volte, die mir intuitiv den Atem raubte: Er erfand das ‚regulative Prinzip‘. Die Idee ist eigentlich ganz einfach: Wir können zwar nicht belegen, dass es ‚Gott‘, die ‚Freiheit‘, die ‚Vernunft‘, die ‚unsterbliche Seele‘, all diese Lieblingspuppen der traditionellen Metaphysik (und ja, an dieser Stelle kann man protestieren, das sind doch keine Puppen! oder man kann anfangen, über die Grenzen der Analogie nachzudenken) wirklich gibt, und damit beginnt die Basis aller traditionellen Morallehren doch erheblich zu bröckeln (konventionelle Metapher, ich weiß, funktioniert aber supergut, man meint das Bröseln zu spüren). Aber was man tun kann, ist: Man kann fordern (oder besser: zumuten?), dass ein vernünftiger Mensch, wenn er sich denn als solcher wirklich bestimmen wollte, gefälligst so zu tun habe, als ob es sie gebe! Regulative Prinzipien, das ist ein Zauberwort und eine Erlösung zugleich: Es ist eigentlich ziemlich egal, ob es Gott (die Freiheit, die Vernunft, die Menschenwürde, Blumenkohl in Reinform) nun gibt; aber wir können trotzdem beschließen (und uns damit als verantwortliche Wesen erfahren), unser Handeln an ihnen zu orientieren, regulativ, steuernd, orientierend, regel-analog. Damit würden wir zumindest daran arbeiten, die Basis der Morallehren zu reparieren, aufzufüllen, zu kitten, was auch immer. Menschliche Moral ist sowieso immer Flickwerk, bestenfalls. Erst wenn sie ein Palast für die Ewigkeit zu sein behauptet, sollte man misstrauisch werden.
Robert Musil nennt das, in beiden Varianten: Möglichkeitsdenken. Möglichkeit ist dabei nicht die irgendwie defiziente kleine Schwester von Wirklichkeit, aber auch nicht der große Bruder einer als unbegrenzt vorgestellten Freiheit. Möglichkeit ist – ein Spielraum. Aber es gibt keine Spiele ohne Grenzen.
GELEGENTLICH. WIRKLICH!
Ab und zu, ich könnte auch schreiben: ‚gelegentlich‘, wiederholt man sich. Man sagt nicht nur immer dasselbe (was sowieso jeder mehr oder weniger tut), sondern auch noch in den gleichen Worten. Aber manchmal bilden sich, heimlich, unabsichtlich, ich könnte auch: gelegentlich sagen, Lieblingswörter heraus, unscheinbare Favoriten, die wahrscheinlich zuerst die Gesprächspartner bemerken, indem sie anfangen, ihnen auf die Nerven zu gehen, gelegentlich erst, dann immer mehr und schließlich, wirklich, völlig unerträglich werden. Wahrscheinlich könnte man anhand dieser unscheinbaren Favoriten ganze Psychogramme erstellen: Denn nicht in den Haupt-, Kern- und Wurzelwörtern zeigt sich der Charakter der Sprechenden am deutlichsten, sondern in den kleinen Beiwörtern, diesen verschwiegenen Verrätern.
Seit einiger Zeit entdecke ich mich nun dabei, dass ich bei jeder passenden und gelegentlich auch bei unpassenden Gelegenheiten ‚gelegentlich‘ sagen will. Das ist eigentlich (eigentlich!, nein, wirklich nicht) ein recht hölzernes Wort, nur mit Mühe macht man sich klar, dass eine Gelegenheit ja auch ein glücklicher Moment sein kann, einer, in dem etwas recht gelegen ist und den man deshalb wirklich nicht verpassen darf! Gelegenheitsdichtung, so etwas gab es früher einmal, und es war eine recht würdige Art von Dichtung, weil sie sich auf die großen Gelegenheiten im menschlichen Leben richtete, Geburten, Taufen, Geburtstage, Auszeichnungen, Heiraten, Todesfälle; Goethe, der große Erkenner und Nutzer von Gelegenheiten, hat sogar das recht gern und gelegentlich falsch verstandene Wort gesprochen, alle seine Dichtung sei Gelegenheitsdichtung (das kam späteren Literaturwissenschaftlern eher ungelegen, die lieber wollten, dass Dichtung das Ungelegene, Unerlebte, Unwirkliche bedichten sollte).
ahrscheinlich habe ich das Wort deshalb so sehr ins Herz geschlossen, dass es mir ständig auf der Zunge liegt: Die wirklich wichtigen Dinge im Leben, sind sie nicht alle nur – gelegentlich? Das Glück lässt sich niemals verstetigen, sondern scheint nur gelegentlich auf; das Leben besteht aus genutzten oder verpassten Gelegenheiten, und selbst der richtige Gedanke wartet auf die passende Gelegenheit, dass er sich endlich befreien kann aus dem Gewirr der Synapsen. Gelegentlich, es ist eine Hoffnung und ein Versprechen: Sie wird kommen, die bessere Gelegenheit, nach all dem Ungelegenen, Ungewollten, Unformbaren! Man kann versuchen, ein bisschen auf sie zuzusteuern, sie sozusagen von der Seite her anzupeilen, aber man darf ihr nie ins Gesicht schauen, dann wendet sie sich ab und ist sofort wieder anderweitig beschäftigt. Gelegentlich: mehr wagt man irgendwann nicht mehr zu hoffen und nicht mehr zu behaupten (mein zweites Haupt- und Lebens-Wort ist übrigens: ‚wirklich‘; aber das ist eine andere Geschichte).
Nun ist es nicht so, dass ich eine der üblichen Sportverächterinnen wäre, wie man sie im intellektuellen Milieu so gern findet; mit diesem herablassenden Lächeln des Geistesarbeiters, das vielleicht noch zugibt, dass auch Sport irgendwie Müh und Arbeit sein mag, aber dann doch – ins Niedere übersetzt, in ein komisches Genre zusammen, wo sich Körper bewegen, einfach so, um der Bewegung willen. Natürlich ist es gesund, schon in kleinen Dosen – und nicht in großen! -, aber gesund, ach, das ist auch etwas, was der Geist schon lange als trivial, äußerlich, sehr relativ und irgendwie philosophisch unergiebig abgetan hat; schon der „gesunde Menschenverstand“ demonstriert schließlich, dass es mit der Gesundheit als Wert nicht weit her sein kann, und mens sana in corpore sano steht, in jeglicher grammatischer Verkehrung, über jedem besseren Wellness-Center! Aber natürlich fragt wieder einmal niemand den Philosophen. Man sieht auch selten seinen Körper abgebildet, sondern immer nur seinen Kopf; aber schon der ist meist etwas rheumatisch gebückt, mit verkürzten Halsmuskeln und einem eher verspannten Gesichtsausdruck. Nein, ich habe viel Sport getrieben in meiner Jugend, und später immerhin gelegentlich. Und es hat Spaß gemacht, wirklich. Es hat mir vielleicht sogar bitter benötigtes Selbstbewusstsein gegeben, wer weiß. Aber war ich jemals dankbar dafür?
Nun muss man ja nicht gleich Leistungssport betreiben. Das aber, was einem nun im gesetzten Alter und nach diversen Rehas und Physiotherapien eher auffällt, ist: der allgemeine Verlust an Körperbildung und Bewegungskultur. Denn Körperbildung und Bewegungskultur, das gab es einmal. Es gab es in der Antike, wo die gehobene Jugend im gymnasion trainierte; daher stammt auch noch unser heutiges Gymnasium, und die wenigsten denken dabei wohl daran, dass der Wortstamm gymnos nackt bedeutet; ein Ort, wo die männliche Jugend nackt sportliche Übungen betrieb, aber auch solche zur Geistes- und Charakterbildung. Natürlich war das wichtig für den Krieg, und insofern auch nicht direkt ein reiner Bildungsgedanke voller Menschenfreundlichkeit. Aber immerhin, die (männlich) Jugend durfte ihre Körper ausbilden, und die griechischen Idealstatuen zeigen sehr, sehr wohlgebildete Exemplare (keine Bodybuilder). Männer, von denen man sich vorstellen kann, dass sie neben Laufen, Springen, Diskuswerfen und Ringen auch Tanzen können; dass sie sich leichtfüßig bewegen, freudig, kraftvoll und erwartungsvoll. Und solcherart gebildete Körper, solcherart bewegte Organe, solch ein kräftig und freudig gestimmter Geist – sollten nicht anders denken, und anders denken können?
Großer Sprung, und wir landen, wieder einmal, bei Goethe. Denn das hat mir schon immer persönlich außerordentlich gut gefallen bei meinem später Heros: dass er durchaus ein körperbewusster und körperfreundlicher Typ war, ganz untypisch für einen Dichter (Goethe sportlich??? Nee, nicht auch noch das!) Er hat zum Beispiel wirklich gern Schlittschuh gelaufen, seit seiner Jugend; und es gibt die unvergessliche Liebesszene in den Wanderjahren, die auf dem Eis spielt und mit Bewegung zu tun hat, mit Zeitabläufen und mit Mustern. Er muss sehr viel geritten sein, das war normal damals, wenn man als junger Mensch irgendwo hinkommen wollte; aber bei ihm kann man sich vorstellen, wie er, verliebt in Lotte oder wen auch immer, sich noch spätabends auf irgendein Pferd stürzte, es schnell sattelte und Hals über Kopf losritt, wie später der Bodensee-Reiter. In seiner Schweizer Reise läuft er, gegen das Anraten der örtlichen Führer, über schneebedeckte Pässe und ist so hingerissen, wie man dabei sein muss, nein, hingerissener! Natürlich hat er fechten gelernt, natürlich hat er tanzen gelernt, und wenn man liest, dass er mit Lotte die ganze Nacht durchgetanzt hat, und wenn man nur eine ganz, ganz kleine eigene Vorstellung vom Tanzen hat, vom wirklichen Tanzen, von diesem Zustand, der leicht über der Realität schwebt und den ganzen Menschen in eine harmonische Bewegung setzt (trockene Worte! Ach, wie kann man Tanzen beschreiben!) – ach, dann weiß man, wie man sich dabei binden kann. Und wer all das gelernt hat, wer tanzen kann, reiten kann, fechten kann – der wird sich anders bewegen, sein Leben lang, oder zumindest: solange sein Körper eine vage Erinnerung an diese Art von Körperspannung, von Ablauf, von Koordination festhalten kann. Er wird sich schöner bewegen, er wird graziösere Komplimente machen (heute können wir nur noch bear hug oder verlegenes Händeschütteln; gelegentlich wird auch plump auf die Schulter geklopft, so als würde man einen Teppich abklopfen ungefähr). Dass Goethe außerdem noch Freude an Sex hatte, an handfestem Sex hatte – nun, das spricht auch nicht direkt gegen ihn.
Dass daraus nun auch folgt, dass man anders denkt – und wenn man anders denkt, denkt man auch Anderes; nun ja, das mag nicht jedem gleich einleuchten. Aber niemand denkt ohne seinen Körper; eine Erkenntnis, die langsam heranreift, seitdem wir gelernt haben, das Gehirn als Organ zu verstehen. Es war ein mühsamer Prozess, und man hofft, spätere Generationen werden nicht allzu sehr lachen über diese seltsame philosophische Verklemmung, die immer noch hoffte, irgendwo einen kleinen Geist in der Maschine zu finden, unabhängig, beseelt von einem freien Willen und einer unbestechlichen Erkenntniskraft, ein kleiner, reiner Mini-Philosoph, gefangen in einem plumpen, großen, hirnlosen Gefäß genannt: Körper. Dabei ist es doch der so viel schönere Gedanke, sich vorzustellen, wie alles in diesem großen Organismus miteinander verbunden ist, genau und innig; wie die entferntesten Wirkungen ebenso vorstellbar sind die nahesten; wie Kommunikation stattfindet, wie Informationen transformiert werden im Blut und in all den anderen Körpersäften; wie sich Muskeln bilden und Synapsen und Erinnerungen, wie sich Sehnen dehnen und Gedanken ausbreiten und Gefühle dahinströmen und übersetzt werden, aus der Chemie, aus der Physik, aus der Biologie in unsere schwache Sprache.
Um anders zu denken, braucht man keinen anderen Körper. Es würde schon reichen, den eigenen, den man hat, besser ausbilden; ihn besser anzuleiten, vor allem: ihm besser zuzuhören. Nicht nur um der Gesundheit willen (das auch); sondern um der Schönheit, der Beweglichkeit und der kraftvollen Freudigkeit der Gedanken willen.
VON STEINMANDERLN, AFFEN, LEBENSKATASTROPHEN UND METAPHIEREN
Die Stimmung war gedrückt in der morgendlichen Gruppentherapie. Nein, einige waren zappelig, hatten einen schlechten Tag, andere waren erst angekommen und noch in der Anspannungsphase; niemand wollte so recht heraus mit einem Thema. Dann polterten, eher zufällig und schwach getriggert, die Katastrophen aus einigen heraus; niemals direkt genannt, „die Krankheit“ sagt man, und alle wissen, dass ein ganzer Berg an Nöten, Schmerzen und Verzweiflung daran hängt; aber es ist nicht nur die eigene Krankheit, nein, sie alle hier haben an Krebs erkrankte Verwandte, Kinder im schlimmsten Falle, Eltern; der eigene Krebs ist wiedergekommen, oder ein anderer, oder irgendetwas ganz, ganz Schlimmes ist passiert, und das immer wieder. Die Verzweiflung hängt tief über der Runde, Tina (die nicht so hieß, wie alle anderen auch), die fröhliche Tina, weint still, andere könnten die Hände nicht ruhig halten. Ich mache meinen Job und fasse zusammen, dass wir alle wohl gelernt hätten, mit uns selbst umzugehen, sorgsam, fürsorglich, achtsam, wie es alles heißt; aber immer, wenn wir meinen, unsere Lektion brav gelernt zu haben (von der „Schule“ spricht Johannes, der im Yoga-Sitz dasitzt und bedacht spricht), dann kommt das Leben wieder dazwischen, von außen, einbeeinflussbar, und das ist das eigentlich Tückische, das Unkontrollierbare, das objektiv zur Verzweiflung treibende. Die Psychologin fragt etwas unbedarft, ob man dann auch irgendwie Glücksmomente finden könnte, und ich sage ziemlich direkt, das sei leider völlig unmöglich, ein schwerer Lebensunfall kann nur langsam und mit Mühe integriert werden, und es ist nicht der Zeit und der Ort eine Kerze anzuzünden, sondern es geht um Überlebensstrategien, und die anderen nicken, sie wissen, wovon ich spreche, sehr deutlich spreche. Aber Ehrlichkeit wirkt wieder, und nachdem wir alle tief in unseren persönlichen, wiederholten Katastrophen versunken sind, erzählt Patricia auf einmal, dass sie sich gestern „zum Affen gemacht“ habe: Sie sei nämlich zum Auerbach gegangen, habe sich einen Stein gesucht und ihm ihre Sorgen erzählt; und dann habe sie ihn in den Bach geworfen, damit er ihre Sorgen wegspült, und zu ihrer großen Überraschung: habe es funktioniert! Sie sei erleichtert gewesen, irgendwie; auch wenn es ihr irgendwie noch peinlich war und sie sich lächerlich fühlte. Ich war spontan hingerissen und fragte, wie sie eigentlich auf die Idee gekommen sei? Es war aber gar kein Therapie-Trick, sondern einfach eine spontane Idee, stellte sich heraus; vage inspiriert von dem, was einmal der Pfarrer in der Kirche gesagt habe, man sollte seine Sorgen nämlich auf einen Zettel schreiben und ihn dann verbrennen, und sie habe noch gedacht: Ja, ist Recht. Aber mit dem Stein, doch, irgendwie, das sei gut und erleichternd gewesen, und das würde sie jetzt vielleicht häufiger versuchen. Beifälliges Nicken in der Runde, und dann rückte Alexandra damit heraus, dass sie sich gestern auch zum Affen gemacht habe, im Gym nämlich, wo sie ihre neuen AirPods ausprobiert habe und irgendeine Fitness-Musik von Spotify auf dem Ergometer runtergeladen, und die Musik sei so mitreißend gewesen, dass sie mit dem Oberkörper zu tanzen begonnen habe, auf dem Ergometer, eine ganze halbe Stunde lang, und am Ende sei sie völlig ausgepowert und völlig glücklich gewesen, aber die anderen, die brav ihren Ergometer traten, hätten sicherlich gedacht: Was hat die denn genommen? Aber nein, das wäre unerwartet und total befriedigend gewesen, auch wenn sie heute völlig k.o. sein. Wieder freuten wir uns alle, wirklich. Worauf Tina sagt, na gut, sie auch. Sie habe nämlich, am Auerbach – und in dem Moment erkannte ich schon, dass ich dabei gewesen war bei ihrem Affen-Moment – im Bach zwei Steinmanderl gebaut; einfach, weil sie nach einer Woche die vorher ersehnte Ruhe und das Alleinsein etwas über hatte und sich deshalb Gesellschaft gemacht habe, und was mögen wohl die Spaziergänger am Ufer gedacht haben – sie haben gedacht, sagte ich, was das für eine wunderschöne Idee war, und beim Zurückkommen habe ich sogar ein Foto davon gemacht! Tina war total überrascht und total glücklich. Wir alle freuten uns jetzt so, wir lachten und überlegten, was für Affen wir noch aus uns machen konnten, und wo die Steine wohl seien inzwischen, und wie wir eine ganze Familie bauen würden! Denn Tina, so subsumierte der bedächtige Johannes, habe hier wohl einen Stein ins Rollen gebracht, in dieser Runde, und als die Therapeutin eine schönere Formulierung von uns wollte für „den Affen machen“, versuchte ich eine Ehrenrettung des Affen, der doch eigentlich ein interessantes und verspieltes und kluges Tier ist; ach, wenn wir doch alle nur mehr den Affen machen würden, wenigstens ab und zu! Im Abschluss-Review waren alle gerade entzückt darüber, wie wir von den tiefsten Lebensunfällen zu fröhlichen Steinmanderln und Zumba-Einlagen auf dem Ergometer gekommen waren, tatsächlich als Gruppe.
Wie sehr seelische Vorgänge über Metaphern kanalisiert werden, im Leben! und nicht in der Kunst, das hat man nicht gewusst. Am Ende waren mehrere Sprach-Bilder an der inneren Tafel, und Therapie-Metaphern funktionieren, sogar wenn es der Pfarrer sagt! („Therapie“ ist fast ein Anagramm für „Metapher“, vielleicht machen wir ein „Metaphier“ daraus?). Meine nette Co-Therapeutin fragt nach den Therapiezielen, und ich fange an von „Baustellen“ zu reden. Natürlich ist eine vor dem Balkon, priming erste Klasse, aber die Metapher ist nun auch schon lange nicht mehr originell, sondern schon fast ein eingewohnter Wolkenkratzer, und ich mag sie trotzdem noch einigermaßen. Metaphern sind vielleicht, ich erwäge es noch, die bessere Alternative zum thing, dem Ding, das sich breitgemacht hat in der Sprache, weil zu viel Wörter fehlen: Wörter nicht für abstrakte Sachverhalte, keine vereinfachenden Begriffe, sondern Wörter für komplexe Sachverhalte, für cluster (genau, auch ein dankbares Metaphier), für Konstellationen, für den Zusammenhang nicht aller, aber vieler Dinge, und zwar auf verschiedenen Ebenen: ein thing hat oft nicht nur eine sachliche Bedeutung, sondern auch eine Wertung: is it even a thing? Also: ist es wirklich erlebbar, darstellbar, sagbar als eigener Komplex, oder hat es sich noch nicht genug ausgeformt, ist sozusagen in einem embryonalen oder vorembryonalen Zustand, der zwar entwicklungsfähig ist, aber noch nicht: diskursreif.
Aber all diese things, die es geschafft haben, in den Diskurs zu finden ohne ihre Komplexität an einen Begriff zu verlieren, sind die wichtigen. Früher war nicht alles besser, aber ziemlich sicher vieles einfacher. Unvernetzter, wenig modularer, mit weniger Knoten und weniger Interfaces und weniger Schleifen, und es ist kein Zufall, dass es die Sprache des Netzes und der Algorithmen und der Programmierer ist, die hier bildspendend war: Denn sie hat diese, wie immer höchstens halbschöne, neue Welt wesentlich mit erschaffen, und wo früher Kausalität war, allerhöchstens Wechselwirkung, ist heute Multikausalität und Uneindeutigkeit und bestenfalls: Wahrscheinlichkeit, bezifferbare. Wenn man Corona für irgendetwas dankbar sein kann (das Ergebnis steht immer noch aus), dann für die vielen nützlichen und aufklärenden Worte (na gut, auf Immunität hätte man schon früher kommen, und die diversen Einimpfungen hat schon Goethe auf ihr Bildpotential abgeklopft) und den Grundkurs in Wahrscheinlichkeitstheorie und graphischen Darstellungsformen. Auf die Kriegs-Metaphern, die gerade im Schwange sind, hätte man natürlich auch gern verzichten können, aber der Krieg ist definitiv ein thing, das man nur vergessen hatte und dessen Komplexität sich auch nicht im Grundvokabular von Krieg und Frieden erschöpft.
Und so sitzen wir in der Gruppentherapie und in der Einzeltherapie, gehen unsere Wege über Steine oder in die Schule, arbeiten an unseren Baustellen oder machen uns zum Affen, suchen die Sahnehäubchen im Alltag oder fallen in tiefe Löcher. Whatever. Mit Bildern kann man arbeiten, mit Begriffen nur definieren.
Es war eines dieser Seminare, wo der Vortrag des Seminarleiters leise plätschernd in eine Vorlesung übergeht (nicht unbedingt die alleinige Schuld des Seminarleiters). Es plätschert vorbei und vorbei, und keiner sagt was, und keiner denkt sich was, und auf einmal hört man einen Satz vorbeiplätschern, der einen kleinen Haken auswirft und man beißt an; schließlich ist man auch nur ein kleiner Fisch, und der Geist will Nahrung, auch wenn es wieder nur magere oder falsche Fliegen sind. Am Köder aber hing, ich kann den Kontext beim besten Willen nicht miterinnern, er war auch egal, die ‚normative Kraft des Faktischen‘. Und während der Stift versonnen die lustige Formulierung am Rande notiert, dort, wo Randnotizen eben hingehören (erfahrungsgemäß das einzige, was einen später an Vorlesungsnotaten noch interessieren könnte); während dort also in mäßiger Schönschrift ‚die normative Kraft des Faktischen‘ auftaucht, ordentlich in Anführungszeichen gesetzt, beginnt das Gehirn die mühsame Arbeit des Nachkonstruierens: Warum eigentlich musste nun gerade diese, doch eher schwerverständliche, bei genauerem Betrachten sogar widersinnige Formulierung notiert werden, am Rande, aber eigentlich: mitten im Kopfe, dort, wo er ins Herz übergeht? Was bitte hat einem gerade diesen kleinen elektrischen Schlag versetzt, diese Gehirnzuckung, so, als würde auf einmal ein Nerv ausschlagen im kleinen Zeh links ganz vorn, wo man niemals eine Nervenleitung vermutet hätte, aber der Ausschlag (es ist kein Schmerz, es ist ein Zucken, und es hört auf, wie alles Zucken schnell wieder aufhört, während der Schmerz zu oft ein anhaltender ist), aber es ist deutlich spürbar und versetzt dem Denken einen kleinen, heilsamen, anregenden, aufrührenden Schock? Die ‚normative Kraft des Faktischen‘ – und auf einmal tun sich ganz neue Denkmöglichkeiten auf und irgendetwas nickt, ganz tief innen: Ja, genau das ist es. So ist es. Unlogisch, natürlich, philosophisch geradezu peinlich dumm, ein Kategorienverstoß, entweder ist etwas normativ – also hat Gesetzkraft, per Konvention, per Verordnung, was auch immer, aber es wird gesetzt, mit Notwendigkeit und Begründung –, oder es ist faktisch – also dumm, zufällig, kontingent, wie alles Faktische eben, das jeden Tag so vor sich hin passiert, ‚sachgrundlos‘ (mein neues Lieblingswort: wie vieles ist nicht sachgrundlos, und eine unabsehbare Tiefe tut sich auf!), jenseits von Logik, Rationalität, Normativität. Aber eigentlich weiß die Erfahrung, ganz tief innen und sogar damals schon, im vernebelten Zustand des erst langsam, unter Widerstand abziehenden jugendlichen Idealismus wusste sie es schon, dass das die tiefere Wahrheit ist: Dinge, die passieren, setzen die stärkeren Normen als solche, die man nur setzt. Niemand argumentiert mit Realität. Geschehen ist, seien wir ehrlich, besser als begründet. Was geschehen ist, hat einen Grund gehabt, sonst wäre es ja nicht geschehen. Wirklichkeit setzt Normen, mit einer argumentativen Kraft, von der Argumente nur träumen können. An dieser Stelle hätte man natürlich das Heft beiseitelegen können und den nun schon wieder sanft und gedankenarm dahinplätschernden Vortragsfluss verlassen können; man hätte die normative Kraft des Faktischen da suchen können, wo sie passierte, draußen nämlich, jenseits des Universitätscampus, der ganz sicher ein sehr graues, zubetoniertes statement zur normativen Kraft des Faktischen war. Aber damals habe ich eben noch nicht über Randbemerkungen hinausgedacht. Den Köder jedoch, immerhin, den habe ich nicht ganz heruntergeschluckt, er hing mir im Hals, und ab und zu schwamm ein ähnlicher vorbei, gerade neulich noch, bei Goethe natürlich, der den Satz von der normativen Kraft des Faktischen natürlich viel schöner gesagt hätte; er hieß: ‚die exakte sinnliche Phantasie‘, und schon zuckte es wieder, und der kleine Zeh stellte die Verbindung her, und inzwischen bin ich immerhin erwachsen genug, um kategorische Widersprüche nicht nur in mäßiger Schönschrift am Rande zu notieren, sondern sie ins Zentrum eines immerhin kleinen Gedankensprungs zu stellen. Eigentlich aber gehören sie in die Mitte des Denkens.
Eigentlich gehe ich abends viel zu früh zum Griechen, um meine Ruhe zu haben und mein Buch zu lesen und schnell bedient zu werden und am Ende mittels eines geschenkten Ouzos (es ist wichtig, dass er geschenkt ist) in einen verfrühten Feierabend nach einem Berufstätigenalltag zu gleiten. Aber Pech, manchmal sitzt auch in Corona-Zeiten jemand am Nebentisch. Normalerweise starrt man die Leute ja auch nicht an, bevor man sich setzt und seinen Kindle schützend vor sich ausbreitet, aber während die Konversation hinüberdringt, macht man sich natürlich ein Bild. Man kann ja nichts anders. Goethe, gerade hatte ich es gelesen, sagte zu Eckermann, seinem idealen Zuhörer: Jedem, dem er eine halbe Stunde zugehört habe (es könnte auch kürzer gewesen sei), könne er auch zwei Stunden reden lassen. Ich bin nicht Goethe, aber doch. Als erstes also der Alt-DDR-Zungenschlag, dieses etwas Verquälte, Verbitterte im Timbre, dieses Passiv-Aggressive (dem Himmel sei Dank für dieses hässliche Kompositum, ich weiß nicht, wie die literarische Charakteristik jemals ohne es auskommen konnte!), dieses: Ich kenne meine Rechte, oh ja, ich habe ein Urteil, eine Meinung, nennt es wie ihr wollt; ich weiß, wovon ich rede, und ich sag es, ganz einfach so, weil jeder einfach so sagen sollte, was er denkt, nicht nur sogenannte Autoritäten, Experten, Besserwessis! Ich bin Volkes Stimme, und Volkes Stimme ist tendenziell immer beleidigt und gleichzeitig ein Kritiker (das gibt es übrigens im Westen genauso, definitiv, aber diverse ostdeutsche Dialekte verstärken es in der Wirkung; dazu trägt auch das Fehlen jeglicher Ironie und auch nur eines Funkens von Humor stark bei). Papa meinte also, er wiederholte es mehrmals, man habe ihm das Fleisch unterschlagen. Wozu gehe man schließlich zu diesem Griechen, wenn man nicht die Fleischberge bekomme, die einem zustehen? Wahrscheinlich habe der Koch sie selbst gegessen. Etwas verdruckst und hörbar peinlich berührt wirft die bessere Hälfte irgendwann ein, die Leute wollten ja auch nicht mehr so viel Fleisch heutzutage. Kaum eine Minute später lässt Papa (ja, er war schon älter. Ja, er war nicht ganz konsistent in seinen Äußerungen, so wie es alte Leute halt sind, denen keiner mehr zuhört, wo sie doch früher zu sagen hatten; ja, es tut mir leid, er tut mir leid) verlauten, er habe seit zwei Wochen schon kein so opulentes Mahl mehr bekommen. Im Hintergrund meines Kopfes geht ein mageres Pflegestations-Szenario auf, pürierte Suppen, püriertes Fleisch, püriertes Gemüse, danach Apfelpüree, kaum farblich zu unterscheiden; es verstärkt das Mitleid, aber immerhin: Man merkt, wie Papa das Wort „opulent“ auf der Zunge zergeht. Er wollte einfach, länger schon als zwei Wochen, einmal auch einen Satz sagen, in dem das Wort „opulent“ vorkommt. Es ist ja auch ein schönes Wort. Und es müssen ja keine Fleischberge sein, um „opulent“ zu sein. Seine bessere Hälfte (ja, ich muss diese Formulierung verwenden, sie ist im Geiste der Szene, im exakt sinnlich-phantastischen Geiste der Szene) lässt derweil ihre Zucchini-Küchlein liegen, sie seien zwar recht gut gewesen, aber genug. Papa isst natürlich auch die Zucchini-Küchlein, er hatte ja nicht genug Fleisch, er lobt sie sogar (nein, nicht opulent). Derweil wird über die restlichen Oliven verhandelt, zwei Stück, offensichtlich zu exotisch für alle (na gut, ich lasse die Peperoni ja auch liegen, wenn auch aus Gründen). Na gut, eine Olive. Die Konversation stockt weiter über diverse Peinlichkeiten hinweg, und ich versuche, schnell zu zahlen, um gehen zu können. Obwohl es interessant gewesen wäre zu sehen und zu hören, was mit dem geschenkten Ouzo passiert wäre. Goethe hätte es sicherlich gewusst. Aber ich bin leider doch kein Goethe.
VON HINTEN GESEHEN
Gesichter verraten zu viel. Wir können uns einem Gesicht nicht entziehen, das hat die Evolution so für uns festgelegt, und wer weiß, was sie sich dabei gedacht hat (meistens hat sie ja Recht, deshalb ist sie so ärgerlich). Das Erkennen und das Lesen von Gesichtern sind tief im Gehirn verankert, viele seiner Teile arbeiten daran mit, kreuz und quer. Und wir lesen, wir deuten, wir imitieren Gesichter schon lange, bevor wir auch nur mit zwei oder drei Wörtern sagen können: Mama. Papa. Mann. Frau. Lächeln, Zurücklächeln. Die Augenbrauen hochziehen, staunen. Die Mundwinkel herabziehen, weinen. Sympathisch oder unsympathisch, Freund oder Feind, potentieller Sexualpartner oder sexuelles Neutrum, gesund oder krank, all dies wird registriert, bevor wir, unser klitzekleiner bewusster Teil, überhaupt registriert haben, dass es etwas zu registrieren gibt. Niemand kann sich einem Gesicht entziehen. Gesichterlesen ist eine uralte Humantechnik.
Deshalb können Rückansichten so entlastend sein. Pferdeschwänze wippen, streicheln über ein Schultertattoo, es ist schwach farbig und auch in den Konturen schon etwas verschwommen. Daneben Glatzen, kahle Stellen, ein wenig glänzt die Haut hindurch, gebräunt, weniger gebräunt. Locken, Haarwirbel, sie scheinen ein Eigenleben zu führen: Wirbelt es in den Köpfen weiter? Stehen die Bürstenschnitte innerlich stramm? Lässiges Lümmeln wechselt mit gebückten Denkerschultern; Finger tippen, die Füße dazu sieht man nicht, Arme kreuzen sich. Nackenfalten machen sich breit, gelegentlich, Haaransätze zeigen pfeilförmig nach unten, ins Verborgene. Von hinten kann man nur Spuren lesen. Eine Geschichte erfinden. Oder es auch lassen? Sich kein Bild machen. Das Gesicht bleibt im Dunkel seines Geheimnisses. Wir müssen nicht Stellung nehmen, wiedererkennen, einordnen, widerspiegeln. Der Haaransatz schweigt, die Locken wirbeln ins Leere. Pfeif auf die Technik, es lebe die Phantasie!
Plötzlich eine leichte Wendung, ein Profil! Es gehört zu dem Bürstenschnitt zwei Reihen weiter vorn, leicht rötlich, mit der Nackenfalte; breite Schultern, schwarzes T-Shirt, Lederarmband. Und man muss zur Kenntnis nehmen, dass man sich längst das Bild gemacht hatte; zu stark waren die Zeichen, zu stimmig das Ensemble, allein die (häufig zum Trinken angesetzte) Thermoskanne davor war etwas verwirrend. Und es stellt sich heraus, mit einer leichten Wendung, dem Profil, dass die Thermoskanne recht hatte, nicht der Bürstenschnitt: Es ist ein Kindergesicht, etwas breit, sicherlich, aber noch weich, vertrauensheischend und durchaus neugierig. Man kann sich vorstellen, wie es sorgsam einen Tee aufgießt und die Thermoskanne einpackt, obwohl es ein heißer Tag ist; man meint sogar eine Mutter im Hintergrund zu sehen, sehr unscharf, besorgt, mit einer Art innerlicher Schürze. Und man ist gleichzeitig erleichtert und enttäuscht. Auch von hinten hatte man sich schon längst ein Bild gemacht. Aber wenigstens war es das falsche.
Als ich während des Philosophie-Studiums im Rahmen meiner kursorischen Kant-Studien den Begriff das erste Mal hörte, dachte ich: typisch Kant! Ein Wort, das so ungeschickt ist, dass man geradezu darüber stolpert, wenn man es in einem Satz sieht! Was ist bloß los mit dem Mann? Ja, was nur. Er hat, so weiß ich nun viel später, einfach mal wieder gut nachgedacht, und dann noch ein wenig weitergedacht, und irgendwann ist ihm aufgefallen, dass man ein Wort braucht, das es noch nicht gibt: Fürwahrhalten. Er unterscheidet dann drei Formen des Fürwahrhaltens, nämlich: Meinen, Glauben, Wissen, und das ist schon einmal ein Anfang und weiter gedacht, als die meisten kommen, die zu wissen glauben, dass eine Meinung das höchste der Gefühle sei. Und ja, dieser Satz ist verwirrend, deshalb habe ich ihn geschrieben und bin stolz auf ihn. Was er nämlich auf seine verschlungene und gar nicht kantische Art zum Ausdruck bringen soll, ist: Es herrscht eine unendliche Verwirrung auf dem Gebiet des Fürwahrhaltens, und zwar nicht nur im normalen Schlendrian des allgemeinen Sprachmissbrauchs, sondern mit einer gewissen Denknotwendigkeit: Denn nur, wenn man glaubt, dass es Wissen überhaupt gibt (was man aber nicht wissen kann, und das wusste sogar Kant in gewissem Sinne), kann man es vom Glauben (der für viele jedoch eine größeren Gewissheit hat als jegliche Form des Wissens) abgrenzen; Meinungen hingegen werden häufig mit einem heiligen Ernst und dramatischen Folgen geglaubt, und es wird viel Wert darauf gelegt, sie nicht etwa durch ein besseres Wissen zu korrigieren.
Denn das, um jetzt ein wenig weniger paradox zu werden, war mein Punkt, als ich neulich – es war beim abendlichen Zähneputzen, wo ich seltsamerweise die interessantesten Gedanken habe, niemals jedoch beim morgendlichen Zähneputzen, und darüber sollte man auch einmal philosophieren – bemerkte, dass ich eigentlich gern noch ein paar mehr Wörter für Formen und vor allem: Grade des Fürwahrhaltens hätte. Das hat damit zu tun, dass sich meine Neigung zur Skepsis, je älter ich werde, geradezu epidemisch ausbreitet und nach und nach auch Gebiete infiziert, die ich früher für immun dagegen gehalten hätte: Wissenschaft zum Beispiel. Ach, Wissenschaft; was wissen die Wissenschaften schon, vor allem diejenigen, die wir etwas schonend die ‚weichen‘ nennen, so als würden sie mit sanft vage gehaltenen Methoden flauschige Erkenntnisse produzieren, die man sich dann schützend und wärmend umlegen kann, bevor man sich mal wieder den ‚harten‘ Wissenschaften oder gar den Gefahren der nackten, von der Mathematik versklavten Wirklichkeit aussetzt! Nein, Wissenschaften produzieren, da bin ich mir fast sicher, bestenfalls: Wahrscheinlichkeiten. Wahr-schein-lichkeiten, aber ich bin lange schon darüber hinweg, mich über einen ordentlichen Schein von Wahrheit zu erheben, es kann sein, dass er das beste und das Einzige ist, was wir jemals davon haben werden.
Aber dieser Schein von Wahrheit, diese Wahrscheinlichkeit, ist, wie jedes Konzept, das man auch mathematisch formulieren kann, ein Schein in sehr unterschiedlichen Graden, von der Blendung (das wussten die Alten besser, die die Wahrheit immer sicherheitshalber bedeckt zeigten) bis hin zu einem schwachen, flackernden Leuchten in dunkler Nacht. Und genau dafür hätte ich nun gern – einen ganzen Schatz an Wörtern des Fürwahrhaltens, so wie die Eskimos mit ihren Wörtern für Schnee; auch die Engländer haben mit ihrem ‚educated guess‘ schon einen guten Schritt in die richtige Richtung gemacht! Inzwischen wissen wir aber leider (ziemlich sicher; na gut: wir vermuten!), dass das mit dem Schnee nur ein Missverständnis eines übereifrigen Anthropologen war; die Eskimos haben nur mehr zusammengesetzte Wörter, also welche für fallender Schnee, tauender Schnee, überfrierender Schnee, was weiß ich. Aber vielleicht könnte man ja ein ähnliches Modell für die Formen des Fürwahrhaltens entwickeln? Also zusammengesetzte Wörter, die die die unterschiedlichen Grade von Sicherheit, Leuchten, Überzeugungskraft, Beweisbarkeit, Notwendigkeit ausdrücken, vielleicht sogar samt ihres damit notwendig verbundenen emotionalen Verbindlichkeitspotentials?
Denn, um noch einmal ein wenig ins Paradoxe zurückzufallen: Wenn wir aus der Geschichte etwas wissen können, dann das, dass Menschen den Glauben und seine Schein-Sicherheit brauchen; vielleicht brauchen wir sogar die in der Philosophie und auch die bei mir persönlich übel beleumdete kleine Schwester, die Meinung, die sich aber wenigstens nicht ewig naseweis aufführen und vordrängeln sollte, wenn sie einer fundierten Wahrscheinlichkeit begegnet und auf einmal in deren Schatten steht. Jeder, der den Glauben abschaffen will, kämpft mit einer Hydra, und die nachwachsenden Köpfe sind oft schlimmer als die abgeschlagenen, die vielleicht schon ein wenig altersweise geworden waren; die neuen aber kommen mit einer erworbenen Belehrungsimmunität auf die Welt. Und meine Zahnputz-Vision einer Sprache, die davon weiß, dass Fürwahrhalten in mindestens so vielen Varianten auftritt, wie eine Zahncreme in einem deutschen Supermarktregal oder wenigstens: wie die Eskimos zusammengesetzte Worte für Schnee haben – wird wohl eben das bleiben: eine Vision (eine schwach begründbare Ahnung mit eher wenig Trostpotential?).
DER SPRUNG INS URTEIL
In meiner insgesamt nicht besonders glücklichen und nicht besonders unglücklichen Jugend litt ich an einer speziellen geistigen Verirrung: Ich war total (um nicht zu sagen: anal) theoriefixiert. Die Gründe dafür sind laienpsychologisch schnell ausgemacht, die Realität war halt mehr oder weniger enttäuschend, die sozialen Beziehungen schwierig, und das führt bei einer gewissen Begabung fürs Abstrakte dafür, dass man sich relativ schnell ins Reich der Ideen absetzt: Dort gibt es verlässliche Prinzipien wie Wahrheit und Falschheit, dort ist man seine eigene Herrin und die Gedanken sind frei, dort interessieren lächerliche Fakten, die einfach so da sind und die man nicht ändern kann, kein bisschen. Ideen sind viel spannender, Theorien viel befriedigender, ein Gedanke trägt einen auch dann, wenn sonst keiner da ist. Man kann durchaus leben so. Allerdings sind irgendwann gewisse Erschütterungen unvermeidlich, vor allem, wenn sie einen aus dem Hinterhalt erwischen. So kam es, dass ich im Rahmen meines Journalistik-Studiums an der Universität Dortmund pflichtmäßig ein Seminar über Presserecht besuchen musste. Das schien mir theoretisch nicht uninteressant, das Recht ist schließlich auch nur eine Sammlung von in Begriffe und Paragraphen gefassten Ideen, eine Mischung aus angenehmer Realitätsferne und zuverlässiger Präzision. Dachte ich jedenfalls. Es ging auch alles noch ganz gut während des Seminars, auch wenn es sich sprachlich etwas mürber gestaltete, als ich gedacht hätte, und zudem die rechtlichen Fragen von einer beklagenswerten Banalität erschienen (Recht am eigenen Bild, mein Gott, wozu das Theater? – und ja, das ist gute dreißig Jahre her, und niemand ahnte etwas vom großen weltweiten Facebook). Die Katastrophe kam erst in der Klausur. Keine Ahnung, wie ich mich vorbereitet hatte, in diesem Studium gab es eigentlich kaum Klausuren, schließlich war man nicht in der Medizin, und wahrscheinlich hatte ich halbherzig ein paar Paragraphen auswendig gelernt und hätte sie auch mehr oder weniger abspulen können. Was ich nicht erwartet hatte war, dass meine Urteilskraft – und jetzt erst erkannte ich, was das Wort eigentlich bedeutet! – getestet wurde. Denn wir bekamen ein oder zwei Fälle, Berichte über reale Streitigkeiten, den ganzen Kuddelmuddel von "ich habe gesehen" und "er hat aber gesagt" und "ich habe etwas ganz anderes gesehen oder gesagt“! Und wir sollten eine rechtliche Einordnung und Beurteilung abgeben. Die Fälle jedoch wollten sich so gar nicht in das ordentliche Paragraphen-Muster fügen, das ich im Kopf hatte; es war noch nicht mal so recht klar, ob es nun Beleidigung war oder doch nur üble Nachrede, und auf was sollte man sich eigentlich stützen bei dieser Einordnung, wo man doch nur ein Kuddelmuddel von schlecht beobachteten und verdreht wiedergegebenen Fakten hatte?
Fälle kommen nämlich nicht, so zeigte sich, mit aufgedruckten Paragraphenzahlen. Fälle stecken mitten im Kuddelmuddel der Welt, man beginnt damit, einige wenige Fakten mühsam daraus zu extrahieren, aber es ist wie eine Pizza mit zu viel Käse: Man zieht am einen Ende, und dann hat man den ganzen Belag an der Gabel, eines hängt am anderen, und derweil wird die Pizza kalt und die Fliegen tummeln sich auf der Oberfläche und man verträgt eigentlich gar nicht so viel Käse und möchte sich doch nur zum knusprigen Rand retten. An dieser Stelle hilft nur eines: der Sprung ins eigene Urteil (oder, um im Bild zu bleiben: ein entschiedener Schnitt mit dem Messer). Zwischen der Welt der Fakten und der Welt des Rechts gähnt ein tiefer Abgrund, unten ist ein Sumpf, und man wird ihn nie durchqueren, wenn man mühsam hinabsteigt, man wird nur im Schlamm versinken. Es gibt nicht nur den berühmten Sprung in den Glauben, auch ins Urteil kommt man nur mit genug Mut und – nun, sagen wir: Weltvertrauen. Seitdem habe ich großen Respekt vor Richtern (wenn auch nicht allzu viel vor Anwälten, die ja entschieden einseitig bleiben dürfen und eigentlich immer nur fragen, ob es genug Käse für sie persönlich gibt). Und ich weiß, dass zwischen der Welt der Ideen und der des Erlebens ein Abgrund gähnt, den es ideenreich und realistisch zu überwinden gilt, aber auf jeden Fall: mit einem Sprung. Das, und nichts anderes, ist (so meine ich heute) Philosophie: angewandte Urteilskraft ohne doppelten Boden.
BLINDHEITEN
Menschen können auf ziemlich verschiedene Arten blind sein. Natürlich ist das mehr oder weniger metaphorisch zu verstehen: Echte, richtige Blindheit ist ein schlimmes Leiden, eine echte Behinderung, und das soll man nicht leichtfertig herabwürdigen. Schon ein engerer Verwandter wie Farbenblindheit ist deutlich weniger dramatisch, aber immer noch ein entschiedener Verlust an Sehqualität und damit -Lebensqualität (wahrscheinlich, man kann das nur imaginieren und nie vergleichen). Gesichterblindheit, die pathologische Unfähigkeit Gesichter wiederzuerkennen: Das Sehen ist so eng mit dem Gehirn verbunden, dass jeder Schaden beides trifft (Goethe lässt eine seiner Figuren sagen, ich glaube in den Wahlverwandtschaften: „Vielleicht träumen wir nur, damit wir nicht zu sehen aufhören“ – oder so ähnlich). Von den Augen breitet sich die Metapher über die Sinne aus, das ist naheliegend; schon vor Corona konnten Menschen geruchsblind sein, auch das eine Einschränkung, die weiterreichende Konsequenzen hat – z.B. ebenfalls nahe-liegend, für den Geschmack, und wenn das Essen nicht mehr schmeckt, also: nach nichts mehr schmeckt, dann ist das Leben auch schon ein großes Stück farbärmer geworden. Für Ohren hat die Sprache immerhin ein eigenes Wort erfunden, man ist nicht ton- oder hörblind, sondern taub. Taub ist interessanterweise auch das Wort, das dann dem verletzten Tastsinn zugeordnet wurde, wir sind nicht fühl-blind, sondern die Hand fühlt sich taub an vor Kälte. Doch von der Taubheit führt kein rechter Weg zum Denken, obwohl man sich auch ganz hübsch vorstellen könnte, dass es eine konstitutive Taubheit gegenüber Argumenten – oder der Vernunft gar? – geben könnte, einiges spricht dafür.
Hingegen gibt es, die Wissenschaft hat festgestellt, so etwas wie Zahlenblindheit: die Unfähigkeit, Häufigkeits- oder Wahrscheinlichkeitseinschätzungen angemessen vorzunehmen (nicht zu verwechseln mit der Rechenschwäche!). Das ist recht schön gedacht, weil es unterstellt, dass solche Einschätzungsfragen in gewisser Weise analog zum Sehen funktionieren: eine Wahrscheinlichkeit ist auch nur ein quantitativer Eindruck im inneren Auge, der sich notfalls über eine Tabelle veräußerlichen ließe. Ebenso gibt es Schrift-, Lese- und Wortblindheit, angeboren und erworben, und die Kulturpessimisten unter uns könnten auf die Idee kommen, dass diese Krankheit sowieso schon quasi-pandemisch um sich gegriffen hat und dem Schriftkörper schwere Verletzungen zugefügt hat.
Aber darüber wollte ich gar nicht schreiben. Worüber ich schreiben wollte, ist, dass ich an mir selbst zwei verschiedene Arten von (sehr metaphorisch zu verstehender) Blindheit entdeckt habe, beide nicht sehr schwerwiegend, aber irgendwie – konstitutionell, angeboren und persistent über die Zeit. Die eine hängt enger an der Zahlenblindheit, tritt aber spezifisch auf als Datumsblindheit: Mir ist es, lange leidvolle Erfahrung bestätigt es, völlig unmöglich, den relativ einfachen Dreiklang von Jahr/Monat/Tag/ggf. Stunde korrekt von der Zahl in Schriftsprache zu übertragen oder gar mit dem richtigen Tag im Kalender zu verbinden. Irgendetwas entwischt mir dabei immer, auf einmal ist das genannte Datum, sagen wir: der 13.1., gar nicht ein Freitag, was er eigentlich sein sollte; bei genauerem Nachschauen zeigt sich, dass es ja auch der 13.2. war. Einen Physio-Termin für 10.10 Uhr trage ich auch gern unter 11.10 ein. Und so weiter. Vielleicht ist das auch nur die Konzentrationsschwäche der Demnächst-Dementen, aber ich habe das Gefühl, irgendetwas stellt sich in mir quer bei diesem doch recht simplen Übertragungsprozess. Am schlimmsten wird es, wenn ich solche Eintragungen sicherheitshalber überprüfe, weil ich ja um die Datumsblindheit weiß. Dabei trage ich regelmäßig neue Fehler hinein. Warum das so ist? – ach, man kann ja gern ins Psychologische schweifen: eine innere Verweigerung gegen den kalendarischen Stumpfsinn der Zeit? Ein Unwille gegen äußere Festlegungen? Ich könnte mir gut einen Traum vorstellen, der sich daraus entwickelt, einen meiner typischen Endlos-Versagens-Träume: Ich trage ein Datum im Kalender ein, falsch natürlich, und als ich es ändern will, ist es auf einmal ein anderer Kalender, und dort steht schon ein Datum, und inzwischen habe ich vergessen, worum es eigentlich ging bei dem Datum, und so weiter und so weiter.
Das ist die Datumsblindheit. Das zweite ist die Regelblindheit. Natürlich kann ich Regeln befolgen, die mir einleuchten und die alternativlos sind: Rechenregeln, Logikregeln, Verhaltensregeln sogar. Was ich nicht kann, ist arbiträre Regeln folgen: Regeln, die so sind, weil jemand das so festgelegt hat; es wäre aber auch anders möglich gewesen, und mit einem ungefähr gleich guten Argument. Natürlich sind solche Regeln in vielen Bereichen nötig, sagen wir: Straßenverkehr zum Beispiel; und es läge mir fern, ihren Nutzen zu bestreiten oder ein anarchistisches „Regeln-sind-Unterdrückung-Argument“ zu machen. Nein, Regeln sind eine gute Erfindung, und die Welt wäre ein besserer Ort, wenn sich mehr Menschen an sinnvolle Regeln hielten (nicht nur im Straßenverkehr). Aber wenn es einen guten Grund dafür gibt, an einer Stelle ein Komma zu setzen oder einen genauso guten kein Komma zu setzen – setzte ich abwechselnd mal ein Komma, mal kein Komma. Wenn man „Hrsg.“ oder „Hg.“ abkürzen kann, kürze ich abwechselnd mal so, mal so ab. Wenn es ein ganzes Buch voller Regeln gibt, die arbiträr sind und jeden winzigen Sonderfall abdecken, zum Ruhme der Heiligen Einheitlichkeit (die gern mit der Heiligen Wahrheit verwechselt wird, aber das ist nur eine sehr entfernte Verwandtschaft), dann bekomme ich eine Gänsehaut. Denn ich weiß schon: Ich kann das Regelbuch mit all seinen Paragraphen von vorn bis hinten lesen und versuchen, mir jede kleine Regel einzuprägen: Aber mein Gehirn wehrt sich dagegen. Die eine Hälfte sagt immerzu, dass man es doch genauso gut anders machen könne, und ich gerate in einen seltsamen Quantenzustand, wo sich Regelbefolgung und Regelverstoß überlagern. Er wäre damit zu beenden, dass man wieder einmal ins Regelbuch schaut. Oder dass man es einfach irgendwie macht, vorzugsweise so, wie man es das letzte Mal nicht gemacht hat. Meine Regelblindheit ist nämlich, genauer betrachtet: Gerechtigkeitssinn. Komplementaritätsbewusstsein. Vereinheitlichungswiderstand. Vive la différence!
Irgendwann haben wir dann mal wieder eine Druckversion einer Tageszeitung gekündigt, aus eher inhaltlichen Gründen (wir leben in Zeiten der fortgeschrittenen öffentlichen Kriegstreiberei, und das ist unappetitlich auf die Dauer). Und es ist ja nicht so, dass ich keine Zeitungen mehr lese, ich lese halt verschiedene, meist internationale, online, und dazu unseren guten alten Teckboten, der sich für eine Lokaltzeitung wacker schlägt. Aber ziemlich schnell entdeckte ich ein Problem, das nicht erwartet hatte: Was mir nämlich fehlte, wenn ich so dasaß bei einer meiner einsamen Tagesmahlzeiten, und nicht mit einem altmodischen Druckerzeugnis, sondern einem mäßig handlichen IPad daneben, war die schöne sanfte Reihenfolge der Seiten, die man mehr oder weniger brav von vorn nach hinten (oder umgekehrt, das geht auch) durchliest, und man blättert ohne nachzudenken, so wie man ein Buch liest, Seite für Seite nacheinander. Man trifft zwar kleine Entscheidungen zwischendurch – was liest man auf einer Seite, was nicht? was liest man gründlich, worüber rauscht man im geistigen Tiefflug hinweg? –, aber ansonsten denkt man nicht, sondern blättert. Am Ende hat man eine Zeitung von vorn bis hinten (oder umgekehrt) durchgelesen, das ist ein befriedigender Akt von closure, und man kann sie guten Gewissens ins Altpapier tun. Auf dem IPad hingegen – nun ja, das Nacheinander macht keinen rechten Sinn im digitalen Medium. Natürlich kann man zuerst die aktuellen Geschichten ganz oben anschauen und dann weiter nach unten scrollen; oder man kann sich nach Ressorts oder Themen orientieren, auch das ist ja durchaus ins Digitale übertragen worden; aber am Ende bleibt man doch meist an einer Geschichte hängen und beginnt mit dem Lesen.
Und damit beginnt das Problem. Denn, wenn es ein guter digitaler Artikel ist, hat er Links – auf andere Artikel zu dem Thema, zur Vertiefung; oder auch auf andere Artikel vom gleichen Autor, wenn man beschlossen hat, dass man entweder die Schreibweise oder die Sichtweise interessant genug findet, um ihm zu „folgen“ – und in diesem „folgen“ steckt der kleine digitale Teufel. Denn wenn man den Links folgt – gerät man natürlich immer tiefer in das gewählte Thema, aber man kommt auch ab vom geraden Weg der Tages-Lektüre und verliert sich auf einen Seitenweg. Das Wort, das mich dafür sogleich anflog, war „laterale Lektüre“ , was nicht nur den Vorzug der lieblichen Alliteration hat, sondern anmutiger Anschaulichkeit: Denn sogleich sieht man die vermisste Tageszeitungslektüre, einen sanft dahinfließenden horizontalen Fluss, kaum ein ablenkendes Plätschern oder höchstens ein paar Stromschnellen hier und da (und niemals im Feuilleton, ganz sicher); und dagegen die digitale Lektüre, sie hüpft von Stein zu Stein, sie verlässt den Fluss und findet einen Nebenfluss, ach, es ist der Reiz des Abenteuers, man beginnt sich auf Neuland, aber wo wird man landen, und vor allem: Wann hört man auf? Denn das laterale Lesen, es findet kein natürliches Ende; es endet immer in einem Entschluss, und damit: einem hohen Aufwand geistiger Energie.
Nun wurde uns ja schon gelegentlich und in letzter Zeit sogar immer häufiger der Wert des „lateralen Denkens“ angepriesen: Es sei nämlich einer der Königswege zur Heiligen Kreativität (ja, Bedeutungsgroßschreibung), weil es die Schublade mit einem energischen Sprung verlasse (sind Schubladen lateral? Nein, die Metapher ist mixed, und so lassen wir sie auch) und deshalb zu neuen Einsichten führe. Wenn Dinge verbunden sind in der zuverlässigen, aber auch etwas reizlos geschmiedeten Kette der linearen Kausalität, läuft das Denken geradlinig mit; zwar hat auch das seine Herausforderungen, aber die klassische Kausalität ist eine strenge Herrscherin, sie duldet keine Abweichung, sondern schreitet gemessen von einem „wenn“ zum nächsten „dann“ (ja, das ist vereinfacht, aber Denken ist mühsam, und viele scheitern schon am Einfachen. Ich weiß noch, kurze laterale Digression, wie ich meiner etwas begriffsscheuen Schulfreundin Monika versuchte, irgendwelche naturwissenschaftlichen Sachverhalte zu erklären, immer schön am Leitfaden des „wenn“-„dann“; und wie unendlich mein Unverständnis darüber war, dass sie es nicht verstand. Wie kommt man Kausalität, logische oder begründete Abfolge (es gab beide Varianten) nicht verstehen??? Was war los mit diesem Gehirn??? Nun gut, Monika war, wie man heute sagen würde, eben anders begabt. Ende der lateralen Digression). Wenn man hingegen einen oder mehrere Schritte zur Seite tut, kommt man, siehe oben, in immer unerforschtere Gebiete; und niemand kann garantieren, dass man die Zusammenhänge, die man nun entdeckt, vielleicht doch nur Kontiguität sind (was immerhin eine Form des Zusammenhangs ist) oder gar – reiner Zufall, wilde Spekulation? Na gut, das meint man ja auch gelegentlich mit dem sehr dehnbaren Begriff „Kreativität“, aber das ist eine andere Schublade mit sehr bunten Socken, die öffnen wir jetzt nicht.
Vielmehr kehren wir zurück zum „Lateralen“, was ja, und das habe ich zu meinem großen Erstaunen gerade selbst erst gelernt, als ich versuchte, ein passendes Bild des lateralen Lesens zu finden, gar nicht das Gegenteil von „horizontal“ ist (das ist natürlich „vertikal“). Nein, das Laterale ist das „Seitliche“; und sein Gegenteil ist das „Mediale“, nämlich: das zur Mitte hin orientierte. Es sind Richtungsbegriffe. Mit lateralen Schritten bewegt man sich zur Seite weg, mit medialen zur Mitte hin. Lateral sind in der Anatomie die äußeren Körperteile, medial die zur Körpermitte hin orientierten. Der Begriff ist damit immanent räumlich; während meine Zeitungslektüre, Seite für Seite von Anfang bis Ende, ja nicht zu irgendeiner Mitte hin orientiert ist, sondern chronologisch in der Zeit. Aber irgendwie, irgendwie hängt es doch zusammen, vielleicht auf einer höheren/tieferen/anderen Ebene? Wir arbeiten dran. Für heute jedoch halten wir fest: Laterales Lesen ist, auf jeden Fall, anstrengender. Es führt auch zu einer anderen Art von Kenntnissen, und vielleicht vermuten wir, unserer bewährten Weltformel folgend: komplementären? Aber, wagen wir noch eine Vermutung, die auch zusammenhängt mit der neuerlichen Hochschätzung lateralen Denkens: Die Menschheit denkt lieber chronologisch-linear-horizontal. Das haben wir trainiert, die letzten zweitausend Jahre lang ungefähr, und es hat zu ungeahnten Triumphen der Erkenntnis geführt (in den realen Wissenschaften, nicht den imaginären; das Begriffspaar habe ich gerade durch laterales Denken gefunden, und es gefällt mir. Laterales Denken findet übrigens häufig in Klammern statt, das fällt mir auch gerade auf). Aber es hat seinen Preis gehabt, und das ist ein Verlust von – Komplexität vielleicht? Räumliches Denken, das wird mangelhaft trainiert, ich selbst bin das beste Beispiel. Ich kann gut zur Seite springen, das laterale Lesen kommt meiner Denkweise sogar entgegen; aber wer weiß, wie oft ich dabei ins Leere springe? Brücken konstruiere, wo eigentlich mit gutem Recht ein Abgrund sein sollte? Und am Ende – aber es gibt ja gar kein Ende. In einem Netzwerk gibt es nur Knoten. Und die Mitte ist überall.
ÜBER GESCHMACK MUSS MAN STREITEN!
Wenn sich alle Welt über etwas einig ist, sollte man misstrauisch werden; und noch mehr, wenn gar lateinische Zitate in den allgemeinen Schatz endgültiger Lebensweisheiten aufgenommen werden. „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir!“, das hat noch jeder Drittklässler gesagt, wenn er wieder mal mit einem miesen Zeugnis heimkam, und alle nicken heftig und mitfühlend, jaja, haben schon die Alten gewusst. Nur leider war es im Original umgekehrt: Natürlich lernt man in der Schule für die Schule, was denn sonst, das wussten schon die alten Römer, mit einer anderen Haltung wäre man auch nie ein Weltreich geworden!
Vielleicht war es ja mit dem Geschmack ganz genauso? Irgendein alter Römer oder Grieche mag gesagt haben: „Über den Geschmack ist zu streiten“, täglich, immer wieder, auf dem Forum und im Dampfbad, wo auch immer – aber mal wieder hat niemand richtig zugehört, der Schreiber kannte die Geschichte auch nur aus fünfter Hand und nun tönt es aus jedem auch nur halbambitionierten Radio-Kulturprogramm: „Über Geschmack kann man nicht streiten!“ – und schon darf jeder schmecken, finden, meinen, was er will (die drei Hauptformen des beliebigen Urteils). Begründung ist nicht nötig. Es leben die Individualität und die Freiheit! Meine Pommes sind deine Nouvelle Cuisine, meine zerrissene Jeans dein Business-Kostüm, meine Soap Opera dein Hamlet. Über Geschmack streitet man eben nicht!
Interessanterweise ist das Experiment ja schon lange durchgeführt worden, und dass man über Zahlen nicht streiten kann, wird zwar weniger gern herausposaunt, stimmt aber leider (außer man ist Mathematiker und sehr, sehr klug). So weiß man beispielsweise ziemlich gut, was den Leuten so schmeckt, jeder, der sich in eine Großküche – Mensa – Autobahnraststätte traut, kann es sehen, mit eigenen Augen, und riechen vor allem: Pommes und Schnitzel. Selbst wenn der Preis eine Rolle spielen sollte, was immerhin möglich wäre, die wenigsten Dinge haben nur eine Ursache auf dieser Welt – so groß kann sie dann doch nicht sein. Nein, offenbar schmeckt den meisten Menschen dieses fettige salzige Zeug, mit dem Großkonzerne reich werden, und die müsliknabbernden Veganer sind nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Wir könnten auch über Einschaltquoten reden. Oder Modeverkaufszahlen. Kurz und schlecht: Die Menge ist sich ziemlich einig über ihren Geschmack, sie stimmt ab mit den Füßen und den Mägen und der Fernbedienung, man kann es an Verkaufszahlen ablesen, und all diejenigen, die auf der Straße direkt vor McDonalds brav ins Mikrophon sagen: „Über Geschmack kann man doch nicht streiten!“, tragen, mehr oder weniger, die gleiche Jeans dabei. Was soll man sagen: Geschmacksverstärker funktionieren, ebenso wie Fett als Geschmacksträger, das ist unsere Biologie; und wenn wir nicht ein klein wenig erzieherisch auf sie einwirken, wird sie uns zu Schnitzel-Pommes treiben, immer und immer wieder und vor allem, wenn wir von Kind an darauf konditioniert wurden. Zucker belohnt, ist im Gehirn festverdrahtet so und hat seinen guten evolutionären Sinn. Oder: Wir finden primitive Dinge lustig. Wir können uns totlachen, wenn immer der gleiche alte Oberkellner über das immergleiche Tigerfell stolpert, und das ist schon die Variante für Fortgeschrittene. Wir gehören gern dazu, ob beim gemeinsamen Lachen über die Verlierer und Pannen dieser Welt oder beim gemeinsamen Einkauf in den angesagten hyperstores rund um den Globus. Wir essen, sehen, tragen, was gerade angesagt ist. Widerstand ist anstrengend. Aber über Geschmack, natürlich, wie könnte man streiten?
Besteht Einigkeit also vielleicht nur über schlechten Geschmack, und das nur bei Snobs und elitären Schnöseln, die sich handgefertigte Schuhe, Gourmetrestaurants und ein Opernabo an der Scala leisten könnten? Oder sind wir, vielleicht, mal wieder, doch gar nicht so frei in der Wahl dessen, was uns schmeckt, unserem Gaumen, unseren Augen, unserem Kopf? Ach, die Freiheit. Wie immer, wenn man sie besonders heftig verteidigt, ist sie gar nicht bedroht. Jeder darf ja so viel Pommes essen, wie er will, bevor der Diabetes ihn ereilt, der plötzliche Herztod oder ein anderes dieser geschmacksresistenten Zivilisationsmonster. Was bedroht ist, ist, wie immer, die Urteilskraft. Denn das, was man eigentlich sagen sollte auf die Frage nach dem Geschmack, das, ist: Ich weiß, was mir schmeckt. Und warum! Ich bin aber offen für Neues, und jeder darf mich überzeugen, dass etwas anderes besser schmeckt. Man kann mich überzeugen, wirklich! Denn über Geschmack lässt sich streiten. Mit Gründen, guten, schlechten, egal, Hauptsache: Argumente! Ob wir dann am Ende Noten verteilen wollen, ist eigentlich auch ziemlich egal, Geschmackssache, sozusagen. Es würde schon reichen, wenn wir uns ein wenig darüber unterhalten haben, worauf wir Wert legen und worauf nicht, was uns gefällt und was weniger, was uns guttut und was uns schadet. Mit Gründen, Argumenten, im freundschaftlichen Streit vielleicht gar. Denn über Geschmack lässt sich, mit etwas mehr Mühe, sogar schön streiten! Und das Beste dabei ist: Es muss gar keine Gewinner oder Verlierer dabei geben, und auch kein handfestes Endergebnis. Aber zwischen der Tyrannei der individuellen Geschmacksdiktatur und dem Diktat der kollektiven Geschmacksvermarktung gibt es ein schönes graues Feld, die Schönheit wohnt dort in ihren kleineren Anbauformen, es gibt Geschmackskulturen und Testflächen für Geschmacksexperimente, und Besucher sind gern gesehen (sie müssen nicht einmal Evaluationsbögen ausfülle, das hält man für schlechten Stil).
Und so sehen wir vielleicht auch, wenn wir genau hinschauen, in der Ferne zwei Männer in seltsamen Gewändern auf einem antiken Marktplatz stehen. Es ist das große Forum in Athen, die Menschen gehen ihren Geschäften nach, kaufen ein paar frisch eingetroffene Sklaven, verwalten die polis oder opfern den Göttern, aber diese zwei Männer (es sind ganz sicher Männer, weil Frauen nichts zu suchen haben auf dem Forum, sollen sie sich doch zuhause mit den Kindern oder den Sklaven herumstreiten) streiten; sie zausen sich den Bart, raufen sich die wenigen Haare und erheben anklagend die Hände. Und während der eine noch ruft: „Natürlich kann man über Geschmack streiten, du hirnloser Hornochse, im Namen des allmächtigen Zeus“, keift der andere zurück: „Wie kommst du nur darauf, du lallender Lackaffe, niemals kann man sich über Geschmack streiten, was für eine absurde Idee, im Namen des friedliebenden Merkur!“ Und beinahe wären sie übereinander hergefallen, aber da kommt eben Sokrates um die Ecke, man erkennt ihn an seinem Silenengesicht, der verwegenen Nase, dem immer etwas ironischen Ausdruck um die alten Augen, und er neckt die beiden: „Seht doch, ist es nicht seltsam, da streitet ihr euch darum, ob man sich streiten kann; ihr tut es aber doch die ganze Zeit, ist das nicht wirklich erstaunlich und nachdenkenswert, im Namen der alleswissenden Athene! Vielleicht sollten wir darüber gelegentlich ein kleines Symposion abhalten, ich habe da schon eine Idee, wenn wir noch einladen könnten; und ihr sorgt für die Getränke, ihr beiden Streithähne, denn mit durstiger Kehle werden die Argumente leicht trocken, beim allüberfließenden Dionysos!“ Und man hört noch eine Zeitlang, wie sich die beiden beim Weggehen über die Qualität der verschiedenen Weinsorten streiten. Sokrates aber ist stehengeblieben und lächelt milde; und vielleicht murmelt er noch in seinen Bart: „Ich weiß wenigstens, dass ich nichts weiß, aber das weiß ich wirklich gründlich und könnte es euch auf Nachfrage sogar gern erklären! Aber das ist ganz bestimmt nicht nach eurem Geschmack!“
MENSCHLICHE NATURGEWALTEN
Es kommt nicht oft vor, aber dann und wann trifft man einen Menschen, der eine Naturgewalt ist. Oft erkennt man es an seinem Lächeln: Es kommt aus einem Selbst, das weder einen äußerlichen Grund braucht, um nach außen zu erstrahlen, noch eine Spiegelfläche, um sich selbst zu spreizen oder sich zu vergleichen. Naturgewalten können aber auch tiefernst sein, denn die Welt und das Menschenleben darin sind ernsthafte Angelegenheiten, wenn man einmal ernsthaft darüber nachdenkt und sich nicht von all den Ablenkungsmaschinen und der Alles-wird-Gut-Propaganda einfangen lässt. Das hat alles gar nichts mit Lustigkeit oder Traurigkeit oder gar mit Sentimentalität zu tun, den groben Masken, die normale Menschen tragen, um nicht gar zu eng mit der Wirklichkeit und den wirklichen Menschen in Berührung zu kommen. Naturgewalten scheuen diese Berührung nicht; sie suchen sie, und sie finden sie überall, so wie ein großer Sturm über Land und Meer zieht, über Städte und Hügel, und ihm nichts zu klein oder zu groß oder wichtig oder unwichtig ist. Sie betreiben weder small talk, noch spielen sie mit im allgemeinen bullshit-bingo, sondern sie betreiben Kommunikation als das, was das Wort meint: Mit-Teilung eigener Erfahrung, so redlich und unverfälscht wie möglich, von Naturmensch zu Naturmensch, und nicht als Schlagabtausch von zwei aufgeblasenen Selbstwert-Puppen, die gelernte und größtenteils unverstandene Phrasen wiederkäuen und dann ausscheiden. Naturgewalten sind anstrengend, naturgemäß; oft wissen sie nicht, wohin mit ihrer Energie, ihrem unendlich sprudelnden Ideenquell, ihrem Gefühl für die ganze Welt. Sie könnten die Welt retten, und meistens wollen sie es sogar – aber man lässt sie nicht. Denn eine der traurigsten Geschichten der ganzen Welt ist, wie menschliche Naturgewalten gezähmt werden. Es ist eigentlich nichts Schlimmes daran, ein wildes Tier zu zähmen; es ist ein Prozess, in dem Wildheit zu etwas Besserem, Höherem sublimiert werden kann. Aber man darf das wilde Tier nicht brechen; und der Dompteur, der den stolzen Löwen durch den brennenden Reifen springen lässt und den mächtigen Elefanten in einen Handstand zwingt, demonstriert nur seine menschliche Tücke und ästhetische Ideenlosigkeit. Menschliche Naturgewalten jedoch zähmt man, indem man sie ins Leere laufen lässt. Sie suchen große Aufgaben; und sie geben alles bei der Arbeit daran, das ist so ihre Art. Dabei machen sie gelegentlich Fehler, vielleicht sogar große – wer selbst denkt, macht Fehler, das liegt in der Natur der Sache, die eben niemals eindeutig wahr oder falsch, sondern komplex und kompliziert ist, und aus großen Fehlern kann man viel lernen. Keine Fehler macht man nur, wenn man immer korrekt und regelgetreu ist. Korrektheit aber ist der Mehltau des Denkens; sie legt sich lähmend über alle fröhlich sprießenden neuen Triebe und macht sie matt und leblos. Derweil triumphieren die Einfallslosigkeit und die Mittelmäßigkeit, ja gelegentlich sogar die platte Dummheit. Sie sind nicht bedrohlich, sie sind nicht gefährlich, sie sind flexibel und anpassungsfähig; sie bauen sich ihre Dämme, ihre Deiche, ihre Warnsysteme, ihre Bunker für den allerschlimmsten Notfall. Und die Stürme erschöpfen sich über dem weiten flachen Land, die Wellen brechen sich an den Dämmen, wieder und wieder, bis sie ihre Gewalt verloren haben und nur noch dahinplätschern, in kleinen Kreisen; das Feuer verzehrt sich voller Verzweiflung selbst. Geistige Energie ist eine der wertvollsten Ressourcen der Menschheit; und sie geht verantwortungsloser damit um als mit fossilen Brennstoffen.
FÜR WELCHEN SATZ MÖCHTEST DU ERINNERT WERDEN?
Tatsächlich bin ich mit den Jahren dazu gekommen, den Nachruhm nicht mehr zu verachten, wie man das als Jugendliche gern tut. Natürlich ist er insubstantiell und ungerecht, und wahrscheinlich sollte man lieber daran arbeiten, zivilisiert vergessen zu wer-den zu können (und sowieso daran, nicht für als schlechtes Bei-spiel fortzuleben), und doch, und doch. Nun hat man als Wissenschaftlerin immerhin schon eine bessere Chance als der Normalbürger; schließlich „veröffentlicht“ man sein Gedenke. Am einfachsten ist es als Naturwissenschaftler. Die Krönung ist natürlich eine Naturkonstante mit dem eigenen Namen (Euler); bewährt haben sich auch Formeln (Pythagoras, Einstein) oder Theoreme (Gödel); manch einer schafft es sogar mit einer Katze (Schrödinger). Am allereinfachsten ist es in denjenigen Fächern, die gerade-zu ständig neue Namen vergeben müssen, weil das Auffinden und Kategorisieren neues Species zu ihrem methodischen Kernbestand gehört: Biologen (vor allem Botaniker), Geologen oder Astrologen (ein Komet, das ist auch ganz schön, wenn im Schweif dann der eigene Name mitschwingt für alle Zeiten; Halley). Doch selbst eine ganze Reihe von geisteswissenschaftlichen Autoren hat es in unseren urheberrechtssensibleren Zeiten es geschafft, ihren Namen mit einem kleinen ©-Anhängsel zu verewigen: Reinhart Koselleck erfand die „Sattelzeit“ (gar nicht so leicht, mit Metaphern berühmt zu werden!); Hartmut Rosa die „Beschleunigung“ (noch schwerer ist es mit alltagssprachlichen Begriffen; um ehrlich zu sein, war auch die dazugehörige Erkenntnis auch eher trivial); Pierre Bourdieu das „symbolische Kapital“ (extrem hilfreich und wahrhaft verdienstvoll); die Liste wächst mit jedem Jahrzehnt.
Aber das wahre Kunststück ist es, einen einzigen Begriff so mit Beschlag zu nehmen und durch und durch mit dem Eigenen zu imprägnieren, dass jeder in aller Zukunft ihn so denken muss, wie der große Autor ihn gedacht hat. Ich sage mal: Platon – Idee; Hegel -Weltgeist; Marx – Kapital (welch schöne Trilogie!). Geht ersatzweise auch für Schulen: Stoa – Ataraxie. Man sieht gleich, wie der Trick funktioniert. Man darf nämlich nicht nur den einen zentralen, alles zusammenhaltenden Begriff okkupieren, nein, man muss ihn mit einem System befestigen! Wer kein System hat, kann ein großer Autor sein so lange er will; aber er lässt sich nicht mit einem Wort zusammenfassen. Und ein System meint dabei nicht einfach nur, dass man viel geschrieben hat, oh nein! Aristoteles hat viel geschrieben, sehr, sehr viel; er hat dabei einige wirklich gute Worte sogar mehr oder weniger erfunden (organon; telos; entelechie, zoon politikon; und das sind nur meine ziemlich begrenzten Aristoteles-Kenntnisse), aber er kann eben nicht auf eines von ihnen reduziert werden. Oder, modernes Beispiel: Ein geradezu verboser moderner Autor, der nicht nur viel, sondern auch immens wortreich schreibt, ist bekanntlich Peter Sloterdijk. Und er hat einige nützliche Begriffe wiederbelebt, zweifellos (sagen wir mal: Übung) und einige Metaphern recht nützlich erweitert (Immunisierung); aber wenn man ihn jetzt auf die „Blasen“ oder „Schäume“ reduzieren würde, wäre das zwar einigen seiner Kritiker recht Recht, aber doch ziemlich unfair. Oder, letztes Beispiel und nicht Philosoph, aber ziemlich großer Denker: Goethe. Gott, was hat der Mann mit Wörtern machen können! Und komischerweise sind die, die die Autorin für seine besten, tiefsten, weitreichendsten hält (sagen wir mal: Entsagung. Wechselwirkung. Inkommensurabilität. Organismus natürlich auch) – gar nicht diejenigen, die er am meisten verwendet. Der Mann geht nämlich auch noch sorgsam mit seinen Worten um! (Schiller dagegen ist schon ziemlich dicht am System, und die „ästhetische Erziehung“ hat ja auch ihren Markenzeichen-Wert zu Recht).
Ein Sonderfall zwischen beiden sind übrigens Sätze als Markenzeichen; also, nicht Sätze als Formeln, sondern als semantische Sinneinheiten. Ich bin mir noch nicht sicher, was das für die Autoren und ihren Nachruhm bedeutet, wenn sie mit einem Satz über-leben, nicht mit einem Wort, nicht mit mehreren, nicht mit einem System, nein: einer etwas größeren semantischen Sinneinheit. Bei-spiele? Kant, Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit; gutes Beispiel, weil: Definition. Das geht natürlich gut satzförmig. Wie Spinoza: deus sive natura. Heraklit: Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen. Adorno: Es gibt kein wahres Leben im falschen. Nietzsche: Gott ist tot. Na gut, die Auswahl mag hier schon sehr subjektiv gefärbt sein (aber ich wollte immer schon mal Heraklit, Spinoza und Adorno in einem Absatz unterbringen; Kant kann man sowieso in jedem Absatz unterbringen, insofern ist er eher der Joker; und Nietzsche hat wirklich wichtigere und klügere Sätze gesagt als ausgerechnet den, mit dem er in die Nachwelt eingegangen ist). Oder Sokrates: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Oder, aber hier kommen wir langsam in das Gedränge mit der Autorschaft: Alles mit Maß! – was seit der Antike so ziemlich jeder halbwegs bedeutende Denker gesagt hat, einfach, weil es vollständig wahr ist, immer gilt und nicht oft genug gesagt werden kann. Oder, für die Ethik insbesondere; die goldene Regel: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu! Man kann auch die etwas kompliziertere Kantische Variante nehmen oder irgendeine beliebige aus eine der vielen Religionen und Volksmünder, die sie überliefert haben: Stimmt immer und ist immer anwendbar (aber nicht immer leicht. Und schon gar nicht leicht zu befolgen!)
Woraus man am Ende auch sieht: Ewige Wahrheit gibt es nur für strukturelle Wahrheiten (man kann sie auch formale nennen, oder abstrakte). Inhalte werden überschätzt, sie haben alle ein Verfallsdatum (auch und vor allem die sogenannten „universalen Werte“ oder „unveräußerlichen Grundrechte“). Aber es gibt ein paar Ideen, Erkenntnisse, Formeln, Regeln – und sie können, wie man an Sokrates ebenso sieht wie an der Maß-Regel (muss man sie selbst mit Maß anwenden oder nicht?) – sogar paradox sein, die ihren Ewigkeitswert verdient haben. Zumindest in dieser menschlichen Welt, die nicht die beste aller möglichen ist (Leibniz), sondern einfach: die möglichste (anthropisches Prinzip; Evolution, ein ziemlicher Meisterdenker).
Mit welchem Wort, mit welchem Satz, mit welchem System möchtest du überleben? Das könnte sogar eine Art Schlüsselfrage für das eigene Denken sein. Darüber muss man wohl länger nach-denken. Ich habe ein paar Tage nachgedacht, wie üblich: zwischendurch, beim Zähneputzen, beim morgendlichen Wachliegen im Bett, beim Rühren des Risotto. Bekanntlich – also: für mich bekanntlich – bin ich keine Anhängerin großer Worte und großer Ideen; sie zerfasern mir schon immer wie Pilze im Mund (Hugo von Hofmannsthal). Aber kleine Worte und kleine Ideen haben nun leider wirklich wenig Ewigkeitswert; jeder kann sie finden, so demütig bin ich inzwischen auch, wenn sie sie nur sucht, zwischendurch, beim Zähneputzen – und halt: Da kam mir die Erleuchtung! War es nicht vielleicht genau dieses zwischen, das mich begleitet, behaglich-unbehaglich, denn: Zwischen den Stühlen (unbekannt) sitzt es sich schlecht, aber es gibt nun mal einen Raum zwischen den Stühlen, zwischen den Gegensätzen, den Parteien, all den besetzten Räumen, in denen man kaum noch atmen kann vor Geplapper. Dazwischen, im Zwischenraum, kann es still sein. Aber auch einsam. Gelegentlich trifft man einen anderen Denker und kann ein kleines Geistergespräch führen. Der Heinz’sche Zwischenraum: Wir werden das weiterverfolgen!
DIE ENTSTAUBUNG VON IDEALEN
Nun leide ich ja nicht nur an einer extremen Form von Alters-Konservatismus, der beinahe schon ans Reaktionäre grenzt; nein, dazu kommen einige ähnlich rabenschwarze Begleitsymptome wie völlige Illusionslosigkeit, ein rabiater Anti-Idealismus, eine Neigung zu blankestem Pragmatismus und eine immer noch zunehmende Allergie gegen Allerwelts-Moralisierer. Als jedoch zur allgemeinen Überraschung ein Krieg in der Ukraine ausbrach – ich tat mich schwer, ihn als Zeitenwende zu sehen, hatte denn wirklich irgendjemand ernsthaft geglaubt, die Menschheit werde nicht mehr weiter Kriege vom Zaun brechen, solange es noch Zäune gab? -, entdeckte ich ein altes Ideal ganz weit hinten im Ideale-Regal (das schreibe ich nur hin, weil es so schön nach IKEA-Regal klingt). Es hieß Pazifismus, in meiner Jugend gehörte es irgendwie zum linken Standardrepertoire, ohne dass man eine genauere Vorstellung damit verbunden hätte; Krieg war halt schlecht, und meistens gab es nicht einmal Zwecke, die die Mittel heiligten. Zudem war man als Frau von dieser spezielleren Gewissenprüfung befreit, wie schön! Und so stand er da, der liebe alte treuherzige Pazifismus; und um ihn herum fielen die Gewissheiten, die positiven wie die negativen, wurden die Ideale entrümpelt und heiligen Kühe des Begriffs geschlachtet. Und lange hatte man schon nicht mehr hineingeschaut in diese Rumpelkammer des Geistes, sie hieß „jugendliche Verirrungen“ und hatte ein Sicherheitsschloss, das war aus lauter Peinlichkeit geschmiedet; und nur gelegentlich holte man irgendeinen Fetzen hervor, um man ihn zu zeigen und mit Spott zu überschütten: Seht nur, so etwas haben wir geglaubt in einer Zeit, da gab es noch kein Handy und kein Internet und die Gedanken waren frei, aber sehr, sehr seltsam! Doch dann kam dieser Krieg, und ich musste gar nicht nachdenken oder analysieren oder hin- und herwägen; nein, irgendetwas in mir ging geradezu automatisch auf die Kammer zu, löste das Schloss mit einem Zauberschwert und holte den Pazifismus hervor; warum hatte man noch nie zuvor gesehen, wie heimlich er glänzte? Er war ganz und er war rein, und es gibt nur ganz wenig Dinge, die man rein und ganz halten kann und soll; viele andere kann man einschmelzen und zu recht ordentlichen Kompromissen verarbeiten. Nicht jedoch den Pazifismus. Denn wenn man ihn zerlegt, tötet er Menschen.
WARUM ICH EINE ANARCHISTIN BIN
Wann habe ich angefangen, mich gegen die Regeln aufzulehnen? Natürlich war es anfangs nur ein Spaß; ein wenig gegen die Verkehrsregeln zu verstoßen, zu schnell zu fahren, wo es reizte und gefahrlos möglich war; sich nicht ganz an das seltsame Corona-Regime zu halten, das auf einmal alle Welt unterjocht hatte; und überhaupt bei jeder Gelegenheit zu betonen, dass Regeln – nun ja, etwas für Leute seien, die sie brauchten. Das klingt überheblich und unmoralisch, aber das war es gar nicht (zumindest: nicht nur). Nein, es war: eine Abstoßungsreaktion. Ein Immunausgleich. Ein innerer und dann irgendwann auch notwendig nach außen quellender Widerstand gegen das übermächtige Mikromanagement der Verhältnisse, die Eindämmung aller, auch der winzigsten Lebensrisiken, verkörpert im niemals auch nur im geringsten be- (oder gar: hinter-!)fragten Glauben an die allmächtige Regel! Die fortschreitende Zähmung der Welt, wenn man will; das Ersticken von Zivilisation in Regulierungswut, Absicherungshysterie, Angleichung von Allem und Jedem im Namen einer grundlegend missverstandenen Gleichheit als Basis einer ebenso wenig verstandenen Gerechtigkeit.
Nun sind Regeln nicht grundsätzlich falsch; es ist sogar ganz gut, dass es sie gibt, auch im menschlichen Zusammenleben, und man sollte sich generell daran halten; as a rule sozusagen. Und wie jede Regel hat auch diese Ausnahmen; und wie alles Gute schlägt auch dieses irgendwann in sein Gegenteil um, wenn man es maßlos übertreibt (ein bisschen übertreiben ist in Ordnung). Denn wenn Regeln keine Ausnahmen hätten: Wären sie eine Diktatur, ein totalitärer Staat des Vorgeschriebenen und zu Befolgenden. Regeln gelten im Allgemeinen; das Leben spielt aber, zu gar nicht so kleinen Teilen, im Besonderen. Wie jedoch erkennt man, dass man sich in einer Ausnahmesituation befindet, in der die Regeln nicht mehr – oder nur noch: in Grenzen, als Richtwert – gilt? Nun, indem man seinen Verstand einsetzt, genauer: seine Urteilskraft. Genau die aber geht verloren, wie alles, was man nicht übt, wenn sie ständig außer Kraft gesetzt wird: durch Regeln nämlich. Wer Regeln befolgt, einfach nur, weil sie Regeln sind, verlernt das Denken, und das ist nicht übertrieben. Kollektiver Verlust der Urteilskraft: Das konnte man bei Corona beobachten (aber auch in unserem kleinen Beispiel, dem Straßenverkehr). Natürlich wurde gelegentlich beklagt, dass sich die Regeln in unregelmäßigen Abständen bizarr änderten, was gestern noch unbefragt galt, war heute dann falsch, überflüssig; aber dafür galt das Neue, seltsamerweise, dann genauso unbefragt als ewige Wahrheit. Man konnte sehen und staunend lernen, wie sich gerade diejenigen Geister, die sich immer als progressiv, kritisch und aufgeklärt ausgegeben hatten (die Jungen vor allem! Es war schier zum Verzweifeln mit ihnen, mit ihrer klaräugigen und radikalen Regelgläubigkeit!), dem subtilen Reiz der Folgsamkeit erlagen; ach, es war so schön, wenn man klare Regeln befolgen konnte und sich dabei so sehr im Recht, im Recht, im Recht fühlen können, weil: Man tat the right thing! Regelbefolgung konstituiert aber kein moralisches Heldentum, nein; mit Nietzsche gesagt: Es befördert Schafsdummheit. Natürlich muss man deshalb nicht alle Corona-Regeln über den Haufen schmeißen und mit fliegenden Fahnen ins Lager der radikalen Impfgegner wechseln; das wäre ja auch nur das andere Extrem und keine besonders schwere Übung für die Urteilskraft. Nein, man muss ganz allein nachdenken und dann entscheiden: Wann befolge ich eine Regel, und wann befolge ich seit vielleicht – aus Gründen, mit Bewusstsein, unter Übernahme der damit verbundenen Verantwortung und ggf. Schuld – auch einmal nicht? Wenn hingegen der allerkleinste Atemzug, jeder Handschlag, jegliche Bewegungsfreiheit – reglementiert ist (alle zehn Meter steht ein neues Schild, das die Geschwindigkeit festsetzt; ich könnte ja zwischendurch vergessen haben, dass man in Ortschaften nun 30 oder 50 km/h fährt, und, wie furchtbar, dort kommt eine Kurve, zum Glück sagt mir das Schild, dass ich besser bremsen sollte, was der Vordermann auch hyperfolgsam tut, kein sanftes Ausrollenlassen, nein, Schild, Reflex, Bremsen!), kann man das Gehirn ja beruhigt abschalten und auf Auto-Pilot gehen. Mikro-Management ist ein anderer Name dafür; im Geschäftsleben hat das mit Grund einen eher schlechten Ruf; es erstickt nämlich jegliche Initiative, es entlastet alle solange, bis die Last selbst mysteriöserweise verschwindet, weil sie in so kleine Bröckchen zerteilt wurde (Quanten von Verantwortung?), dass sie nicht mehr wahrnehmbar ist. Das ist aber nur eine optische Täuschung, und es führt zu Kurzsichtigkeit, Bequemlichkeit, Dummheit, Faulheit im Denken. Ein Anarchist zu sein, dann und wann – ist eine Entscheidung zur Selbstverantwortung. Und das macht gar nicht so viel Spaß, wie man denken sollte; nein, es ist anstrengend, eine Anarchistin zu sein. Aber eine muss die Welt ab und zu im Gleichgewicht halten!
Wenn man es so darstellt, ist die Verwandtschaft zwischen persönlichen Wahnsystemen (Psychosen) und kollektiven Wahnsystemen (Verschwörungstheorien) mehr als offensichtlich. Man muss aber durchaus genau nachdenken, worin diese Verwandtschaft besteht, um nicht selbst einer Verschwörungstheorie anheimzufallen, in genau dieser charakteristischen Mischung aus einer quasi Super-Rationalität mit dem Ausschalten aller Korrekturfunktionen des Empirischen, weil es nur zufällig, immer kontingent und natürlich: allen Arten von Fälschungen und Verdrehungen ausgesetzt ist, die die Wahrheit unterdrücken wollen! Nein, in der Psychose und in der Verschwörungstheorie (deshalb heißt sie im übrigen „Theorie“) triumphiert der reine Geist! Wir haben, endlich, die Welt verstanden, und sie hat uns all ihre Geheimnisse offenbart; nicht in mystischer Schau, nicht in spiritueller Einsicht, nein: in mühevoller rationaler Kleinarbeit, Puzzlestück für Puzzlestück. Wir haben Beweise, keine Behauptungen! Und ihr, ihr könnt uns nicht widerlegen; denn all eure Beweise sind gefälscht, weil ihr euch der Wahrheit in den Weg stellen wollt, dumm, kurzsichtig, egoistisch, schafsgläubig, wie ihr seid!
Was einmal mehr beweist, dass alles schlecht wird, wenn man es übertreibt, und das gilt eben auch: für alles im Prinzip Gute. Gefährlich sind nicht nur Leute, die ein Glaubenssystem (sei es eine Religion oder eine wissenschaftliche Theorie oder eine politische Position) unbefragt für eine ewige Wahrheit halten und propagieren und jeden dafür missionieren wollen. Nein, all die, die meinen, sie seien mit makelloser Logik und unwiderlegbaren Beweisen zu ihrem Wissen (nicht: Glauben!) gekommen, sind vielleicht sogar: gefährlicher. Denn sie halten sich für intellektuell überlegen, für klüger als alle anderen zusammen, für der Weisheit einziger und letzter Schluss. Zweifel daran, ob es ewige Wahrheiten überhaupt geben könnte; Zweifel daran, ob, falls dem tatsächlich so sein sollte, diese für Menschen erkennbar sein können oder müssen; Zweifel daran, ob es überhaupt sinnvoll und nützlich sein könnte, von allen zu verlangen, sich ewigen Wahrheiten zu unterwerfen, egal, ob sie zu dieser Stufe von Einsicht fähig oder willig sind – alles ungültig, die übliche Bedenkenkrämerei von unheilbaren Skeptikern, die einfach nicht von der Rationalität des Rationalen zu überzeugen sind und es vorziehen, im Milieu des Unsicheren, Risikobehafteten, Begrenzt-Zuverlässigen, im Modus des good enough! zu existieren. Wer will das schon, wenn er doch – sicher sein könnte, sicher – und damit getrost – für immer und ewig?
Denn das ist die große Versuchung des Wahns, der Psychose und der Verschwörungstheorie, auch des (geschlossenen) Systems: Man ist endlich auf der sicheren Seite! Zumindest im Kopf, und es ist nur eine Frage der Zeit, wann auch in der Welt. Alle erlittenen Demütigungen, sie hatten einen Sinn, denn sie haben einen zum Licht der Wahrheit geführt! Niemals mehr muss man sich fürchten, niemals mehr unsicher sein, niemals mehr sich verraten fühlen; die Wahrheit ist da, man ist nicht auf einem Schleichweg zu ihr gekommen, sondern auf der geraden Straße der Vernunft, und alles hat auf einmal einen Sinn. Sinn, endlich ist überall Sinn!
Es war an diesem, hier absichtlich polemisch vorgetragenen Punkt, wo mich eine Einsicht überfiel, die noch unangenehmer war als das Bisherige (was ja schon eine fundamentale Rationalitätskritik ist, und als solche ein heikles Unterfangen): Denn Sinn machen, verborgenen Sinn enthüllen, Sinn zu finden – war das nicht bisher, nun ja: mein Beruf und meine Berufung gewesen? Die heilige Hermeneutik, das verehrte Verständnis und Verstehenwollen: Ist das nicht doch, im Grund genommen, genau die gleiche Bewegung, die gleiche Suche nach dem immerwährenden, aber eben: vorhandenen und (halbwegs) rational erschließbaren und (in Grenzen) beweisbaren Sinn? Ach, mein Leben lang, es klingt pathetisch und ist auch so gemeint: Mein Leben lang habe ich Sinn gemacht, ich kann das inzwischen sehr, sehr gut; ich kann Sinn machen aus Allem und Jedem und aus Stroh das reine Gold des vollen Sinnes spinnen, mit Worten und Argumenten. Und alle Demütigungen, alle Unsicherheiten, alle Zweifel im Leben, meinem eigenen – habe ich so lange überspielt und überspült mit Sinn, bis sie: naja, nicht weg, aber teil-erklärt waren. Aber wo ist dann der Unterschied zum Wahnsystem? Stop Making Sense, ist das nicht eigentlich der Satz, den man folgen müsste, die eigentliche Herausforderung, um mit einem Leben und einer Welt angemessen umzugehen, die: ihrem Wesen nach ziemlich sich nicht-sinnvoll ist, sondern allenfalls: evolutionär zweckgerichtet auf Überleben (plus Fortpflanzung?) Vergewaltigen wir nicht fortwährend die Empirie, um unseren verzweifelten Verstand nicht zu der Einsicht kommen zu lassen, dass alles, was er sich so einfallen lässt, um Sinn zu finden, wo keiner ist – eine hochentwickelte Täuschungsmaschinerie ist? Man nehme den Menschen den Sinn, jeglichen Lebenssinn, sei es Briefmarkensammeln oder das Weltretten, Gott oder das Erfinden von philosophischen Systemen – und er wird sich wahrscheinlich, früher oder später, umbringen. Manchmal habe ich sogar den Verdacht, dass wir die ersten Schritte dieses Weges bereits gegangen sind, mit freundlicher Unterstützung der Evolution.
Stop making sense: Früher gab es gelegentlich eine ziemlich pedantische, sich aber geradezu hochintellektuell gebende Kritik an der wörtlichen Übersetzung dieses Anglizismus ins Deutsche. Aber die Briten, vielleicht ist das sogar in ihrer Mentalität verankert, haben einfach besser erkannt, dass Sinn immer gemacht wird. Von Menschen, nicht von Gott oder so. Und vielleicht ist es sogar überlebensnotwendig, eine Art Kantisches Postulat, dass der Mensch Sinn macht. Aber dann sollte man ihn auch als ein Mach- und im besten Fall ein Kunstwerk betrachten. Und man sollte das Sinnmachen nicht den Spezialisten überlassen, nichts ist Gefährlicher als das! Aufklärung ist: Habe Mut, dich deiner eigenen Fähigkeit Sinn zu machen zu bedienen! Aber glaube niemals, dass du dabei den Stein der Weisen finden kannst; es ist ein Prozess, zur Stabilisierung des Ich in einer genuin sinnlosen, völlig unübersichtlichen und den Menschen in jeder Hinsicht überfordernden Welt. Sicherheit aber ist niemals.
Wahrscheinlich muss man sich dann persönlich darauf beschränken, nur einen kleinen Sinn zu machen, für den Hausgebrauch. Oder viele kleine Sinne, durchaus auch im etymologischen Sinn. Vielleicht kann man gelegentlich so einen kleinen Sinn teilen, oder: mit-teilen; mit Geistesverwandten, mit Sinnesverwandten (und haben wir da nicht ein schönes Wort gefunden?). Vielleicht kann man einen Sinn auch reformieren, je nach den Umständen; er sollte sowieso immer nur einen begrenzten Geltungsbereich haben, und es wäre sehr schön, wenn man eine kleine Spielwiese für den Un-Sinn reservieren könnte (den es natürlich nicht gibt, im universalen Reich der Dialektik: Beweis aus dem Geist des Dadaismus). Come to think of it: Sind Menschen Wesen, die zum Unsinn nicht fähig sind? Das ist die Aufgabe für die heutige Bügel-Session!
SCHLUSSWORT
Wie kommt die Welt in den Kopf hinein? Und wie kommt der Inhalt des Kopfes wieder hinaus in die Welt? Eigentlich könnte man das als Grundfrage der Philosophie überhaupt bezeichnen: Denn ohne Kopf gibt es ebenso wenig eine Erkenntnis der Welt, wie es ohne Welt eine Einsicht des Kopfes geben kann. Wenn es überhaupt eine General-Unterscheidung gibt, die den Grund legt für unser Denken und Erkennen, dann ist das nicht Gut und Böse (eine nachgeordnete Subtilität); nicht Richtig und Falsch (immer abhängig vom Bezugssystem): Es ist Innen und Außen. Innen, das ist da, wo wir zuhause sind, es ist das, was wir meinen zu kennen (können wir es wirklich kennen? Sind wir ihm nicht viel zu nahe?); Außen, das ist das Fremde, das uns Gegenüberstehende, das, was bewältigt und angeeignet werden will. Dann aber kann es, ja: muss es auch wieder nach außen treten – sonst wäre Philosophie ein nimmer endendes Selbstgespräch des Kopfes mit seinen eigenen Verrücktheiten und nicht eine Äußerung, vielleicht sogar: eine Ent-Äußerung, die auf eine Ver-Innerlichung folgt. Innen und Außen: Ohne diese Trennung gäbe es keine Leben auf dieser Welt der Polaritäten (wohl aber ohne Gut und Böse, ohne Richtig und Falsch). Innen und Außen, das ist wie Ein- und Ausatmen, lebendige Kommunikation im Wechsel, und schon die alten Griechen hatten das gleiche Wort für Atem und Geist, Lufthauch und Seele: pneuma. Leben besteht daraus, dass ein Organismus eine Grenze zur Außenwelt aufbaut, eine schützende Hülle, in der sich das Leben entwickeln kann; bekanntlich ein temporärer Zustand, davor und danach gibt es keine Hülle, sondern nur ein großes Fließen. Das Leben hat einen Kern und eine Schale, und eines ist nicht besser oder wichtiger als das andere; beides zusammen erst, im ständigen gleichmäßigen Wechsel, macht das Ganze.
Damit aber ist Leben, und mit ihm: Philosophie als reflektiertes Leben, ein Kommunikationsproblem. Denn wenn es Innen und Außen gibt, wenn es den notwendigen Zusammenhang beider gibt, dann müssen sie sich verständigen können. Irgendwie. Wunderbarerweise ist das schon in der Urszene der Philosophie, dem Platonischen Höhlengleichnis, vollständig erkannt und anschaulich präsentiert: In einer Höhle sitzen wir, einem geschützten, vom bedrohlichen Außen abgeschnittenen Innenraum von geradezu vorgeburtlicher Geborgenheit. Draußen laufen die Gegenständer Welt in einer permanenten Prozession vorbei, in all ihrer lockenden Buntheit und Gefährlichkeit. Aber wir sind gefesselt und sehen nur ihre Schatten, gespiegelt an der Höhlenwand; wir sehen also nicht das wahre Sein. Hier verlassen wir Platon nun, der in einer atemberaubenden philosophischen Volte deshalb gerade das Nicht-Materiell-Seiende, die Ideen, zum einzig Wahren und Wichtigen erklärt; wir bleiben vielmehr bei der Höhle und ihrer prekären Stellung zwischen Innen und Außen und der Frage, wie das Außen, die Dinge, in das Innen, die Köpfe in der Höhle, kommen könnte. Das, was man also bräuchte, wären vielleicht - Fenster, durch die etwas hineinströmt, Materie, noch unbearbeitet, Ein-drücke, wie man schon früh in einer Metapher gesagt hat (wenn man genau hinschaut, beginnen die meisten neuen Erkenntnisse mit einer Metapher). Man glaubte sogar einige Zeit, dass das Gehirn eine eigene Art Höhlenwand sei, auf der sich die Eindrücke mechanisch abdrücken, lauter kleine Realitätsstempel, einer über und unter dem anderen. Wie wir aber die Höhle verlassen könnten, um ins klare, freie Licht der Erkenntnis zu gelangen, zu den Dingen selbst – ach, wir wollen es ja gar nicht. Es reicht uns, durch ein Fenster hinauszuschauen, ein kleiner Ausschnitt, wohlgerahmt, gesichert, am besten mit einer Scheibe verschlossen. Aber sie ist durchsichtig, und je mehr man sie putzt und je feiner man sie fertigt, desto besser wird man durch sie sehen können. Im Alltagsleben aber dominieren die Schlieren; niemals wird ein Fenster ordentlich sauber, das weiß jede Hausfrau. Gelegentlich blendet die Sonne, gelegentlich verdunkelt sich der Himmel; und immer ist irgendwo ein Fliegendreck.
Philosophie könnte solch ein Fenster zur Welt sein. Einige meinen natürlich, sie sei eher eine Tür: Man öffnet sie und geht hinaus und ist dann draußen, bei den Dingen selbst. Es kann aber sein, dass die Tür verschlossen ist und man nicht den richtigen Schlüssel findet; es kann auch sein, dass die Tür sich hinter einem schließt, und niemals wird man zurückfinden. Nein, Türen sind keine Lösung: Türen schließen ein und schließen aus, sie verbarrikadieren ein Inneres, und seit neuestem ist sogar häufig eine Alarmanlage installiert, die bei unkorrektem Denken anschlägt. Fenster hingegen – sind Öffnungen, die verwundbar machen, aber auch schützen. Natürlich kann man auch Fenster öffnen und schließen, man kann sich auch hinauslehnen und wieder zurückziehen, aber man bleibt auf der Schwelle zwischen Innen und Außen, ein wenig geschützt, ein wenig exponiert. Und draußen zieht die Welt vorbei, ein großes Theater der Dinge und Lebewesen, und wir schauen ihr eine Weile zu, wie von einem Logenplatz im Theater aus; es ist eine Aufführung, die sich von Minute zu Minute ändert, und wir kommen kaum hinterher mit dem Schauen und Staunen und Analysieren. Die Begriffe und Kategorien haben wir im Schrank hinter uns verstaut, hinter verschlossenen Türen; es sind nützliche Werkzeuge, aber sie stören beim Schauen, sogar wenn es Fernrohre oder Mikroskope sind: Sehen wir die Welt erst einmal, wie sie ist, bevor wir ihr mit menschlichem Werkzeug zu Leibe rücken!
Philosophie kann ein Fenster zur Welt sein. Natürlich, einige der berühmtesten Philosophen waren bekanntlich anderer Meinung, mit Platon und seiner Ideenwelt angefangen. Der Berühmteste unter ihnen war Leibniz, zweifellos ein Denker und Gelehrter und Universalist, wie es wenige gegeben hat; er hatte jede Menge Spezialwerkzeuge zur Bewältigung der Welt, er hat sogar einige ganz neue Werkzeuge selbst erfunden. Leibniz hatte also einen ganzen Palast voller Fenster, großer und kleiner, geometrischer und weniger geometrischer, alles stand ihm zur Verfügung. Aber im Herzen des Palastes wohnt, ganz für sich und verschlossener als das Paradies, die Monade. Die Monade hat, und es ist nicht nur erstaunlich, sondern sehr bedenkenswert, dass dieses philosophische Zitat wohl das am meisten zitierte Leibniz-Wort ist – die Monade hat, sagt Leibniz, keine Fenster. Sie ist nicht materiell, sie ist deshalb auch nicht teilbar, sondern ein Atom; sie hat keinen Anfang und kein Ende, sondern sie existiert in aller Ewigkeit, ist unsterblich und wird nicht geboren. Sie ist, so könnte man aus ein wenig Distanz sagen und wenn man dabei durch ein etwas skeptisch eingefärbtes Fenster schaut, eine Art Mini-Gott; eine Essenz Gottes, in die Menschen versetzt als Gott-Atom, als unzerstörbarer Kern, geschützt von einer hermetisch abschließenden Schale, der Materie. Die Monade ist, wir blicken weiter durch das skeptische Fenster, das philosophische Wunschdenken in Reinform, die Selbstermächtigung des Menschen über alle Grenzen von Natur und Materie hinaus, das reine Sein (und ist es nicht bedenklich, wie sich das reimt? – aber der Schein, er folgt dem Reim schon auf dem Fuße ...). Sie ist eine weiße black box, die schönste und reinste, die man sich nur vorstellen kann; und wehe, wehe, man versucht sie zu öffnen (undenkbar!).
Nun ergibt sich dadurch natürlich das oben bereits erwähnte Kommunikationsproblem; denn wie kommt die Welt in die Monade und die Monade wieder in die Welt, wenn nicht durch – Fenster? Denn interagieren muss man nun einmal, der Mensch lebt, Monade oder nicht im Kern, in einer Welt der Dinge und Materien, die sein Handeln beeinflussen, die er durch sein Handeln beeinflusst; er lebt zudem als Sinnenwesen, nicht nur als Geist- und Verstandeswesen, und wie kommunizieren seine eigenen Sinne also mit dem eigenen Geist, der Monade, wie steuert einer den anderen? Dafür erfand Leibniz einen Zaubertrick, und die Absurdität der Idee zeigt, wie groß das Problem ist: Er heißt „prästabilierte Harmonie“ und geht einfach davon aus, dass beide, Monade und Sinnenwesen, einem vorgegebenen Mechanismus folgen, einer inneren Uhr, einem vorprogrammierten Ablaufplan, wie immer man es nennen mag: Vom Moment der Schöpfung an läuft das große Programm ab, und der größte aller Schöpfer hat dafür gesorgt, dass es vollkommen synchronisiert abläuft, ohne Wechselwirkungen, gegenseitige Beeinflussungen, Unabsehbarkeiten, Systemfehler. Leibniz war der Urvater aller Programmierer, und es ist nur verständlich, dass er von einer Universalsprache träumte, die eindeutig und vollständig das Universum beschreiben würde und endlich, endlich, die Menschheit von der Misslichkeit der Kommunikation befreien würde. Leibniz hätte den Computer geliebt, das steht außer Frage: Eine blinkende blackbox, gefüttert mit Programm, Hardware und Software, und beides im schönsten Einklang. Die platonische Höhle, endlich vollkommen abgesichert von der Außenwelt. Keine Fenster, nur eine Schnittstelle!
John Locke, sein großer Zeitgenosse und Gegner, sah das naturgemäß anders als überzeugter Empirist: Zwar war auch für ihn der Geist eine ziemlich abgeschottete black box, aber sie hatte immerhin kleine, kleine Öffnungen nach außen, Fenster, so sagt auch Locke wörtlich, nämlich: die Sinne. Sinne-Fenster, das ist eine ziemlich naheliegende Analogie, auf die deshalb auch schon massenhaft Leute vorher gekommen sind, allen voran die christliche Theologie, die beispielsweise die menschlichen Augen als „Fenster zur Seele“ auffasste: Wir können niemanden in den Kopf kriechen, aber ein Abglanz der unsterblichen Seele fällt durch die Augen nach außen (und das war die Richtung, die die Religion von jeher mehr interessierte: Wesentlich war das Innen, und nicht das weltlich-kontingente Außen!); und wenn wir jemand ganz tief in die Augen sehen, können wir deshalb bis auf seine Seele blicken, wir sehen ihre Flecken und ihren Glanz. Aber bleiben wir einen Moment bei allen Sinnen, nicht nur bei den Augen. Ist nicht die ganze Schale des Menschen ein großer Sinnesapparat, der ständig Welt prozessiert und nach innen weiterleitet, damit der Verstand seine Arbeit beginnen kann in seiner Dunkelkammer? Haben wir nicht eigentlich sogar viel mehr als nur fünf sparsam unterschiedene Sinne: ein Zeitgefühl, ein Raumgefühl, ein, wie soll man sagen: Verdauungssensorium (der Darm ist bekanntlich ein Teil des Gehirns), sogar, vielleicht, einen natürlichen Sinn für Schönheit, Richtigkeit, Wahrheit, oder, evolutionär kodiert: Gesundheit und Nützlichkeit? Ach, es gibt so viele Fenster am menschlichen Körper, und viele von ihnen könnten besser geputzt, gewartet, benutzt werden! Wäre das nicht eine große Aufgabe für die Philosophie, die immer verzweifelter nach einer neuen Aufgabe sucht, nachdem ihr die Welt so weit abhanden gekommen ist, dass eine Kommunikation kaum noch möglich scheint?
Denn die Philosophie hat sich lange Zeit darauf konzentriert, die Fenster zu verschließen, zu vermauern, für blind zu erklären: Unzuverlässig seien sie, all diese Sinne, Blendwerk, gefärbte Scheiben, optische Verzerrung, Reizüberflutung. Selten wurde bemerkt, dass der Geist, der Verstand, die Vernunft, die Monade oder wie all die Kandidaten für die große schwarze box im Kopf heißen, offensichtlich auch nicht die zuverlässigsten Auskünfte über die Welt liefern: Wie könnte es sonst sein, dass nach gut zweitausend Jahren Philosophiegeschichte eigentlich in keiner wesentlichen Menschheitsfrage eine Einigung erreicht wurde, obwohl die besten und größten Köpfe (Aristoteles! Leibniz! Kant! Wittgenstein!) daran abgearbeitet haben? Aber nein, jeder hat die Box ein wenig anders konstruiert; am Ende war sie schön blankpoliert und systematisch abgedichtet, aber nicht direkt kommunizierbar. Derweilen traten die Sinne ersatzweise ihren Siegeszug in den Naturwissenschaften an, und es öffneten sich jeden Tag mehr Fenster in eine Welt, die Gesetzen durchaus zugetan war und eine schöne Ordnung liebte. Der Geist hingegen blieb allein zuhause. Eingesperrt, ausgesperrt. Sichtschutz, wohin man schaut. In der Höhle, spielend mit Schatten, immer mehr Schatten.
Doch wenigstens, so sagten die Philosophen, könne der Geist sich selbst erkennen, und gebe es eigentlich Bedeutenderes in der Welt als die Krone der Schöpfung: das menschliche Selbstbewusstsein? Nun wurde im schmerzhaften Verlauf der realen Geschichte (nicht der des Geistes!) durchaus eine gewisse Empfindlichkeit gegenüber dem Prozess der Selbstkrönung entwickelt. Nicht unbedingt gilt es mehr als Erweis besonderer Führungsstärke, wenn man sich selbst zum Herrn des Universums erklärt und alle anderen zur Unterwerfung verpflichtet. Doch was anderes ist diese philosophische Obsession auf Selbstermächtigung des Subjekts, im Namen des Ideals, des Geistes, des Unreduzierbaren und Schlechthin-Komplexen, als eine kontinuierliche und nur in immer neuen Farben und flavours inszenierte Selbstkrönung? Warum soll man der Objektivität eines Wesens trauen, das sich selbst über alle andere Wesen erhebt? Warum sollte man jemand glauben, der die eigene Kernkompetenz ohne jegliche Begründung zur Königsgattung alles menschlichen Tuns erklärt; die Begründung ist, in einen sauberen Syllogismus verpackt: Der Mensch ist das einzige Wesen, das denken kann; Denken ist höchste aller Fähigkeiten; der Mensch ist das Höchste Wesen (ja, intendierte Bedeutungsgroßschreibung!) Wie immer steht und fällt der Syllogismus, eine sehr unzuverlässige logische Krücke, mit den Vordersätzen: Wir haben Denken sehr sorgfältig so konstruiert, dass es nur auf das zutrifft, was Menschen mit ihrem Gehirn tun; es ist sehr wohl möglich, dass andere Wesen weit besser denken mit ihren, zugegebenermaßen: kleineren Gehirnen, aber wir werden es nie erfahren können. Also denken sie nicht, logisch. Jede Biene, die die Produktion von Honig zur höchsten aller Fähigkeiten erklären würden, würden wir unter die ideologiekritische Lupe nehmen und, sieh da! Die Biene hat ein Interesse daran, dass Honigmachen die höchste Kompetenz schlechthin ist. Menschen aber … Wäre es nicht wirklich Zeit, sich perspektivisch einmal aus dem Zentrum des Universums hinauszunehmen und zu gestehen, dass man auch auf sich selbst, das heilige Individuum und sein allerheiligstes Innerstes, nur – durch ein Fenster blicken kann, in Ausschnitten, aus der Distanz? Dass die Sinne uns nicht nur die Welt zeigen, sondern auch der einzige Weg in die Höhle sind? Dass wir sind, was wir wahrnehmen, fühlen, erleben, tun, und dass unser Denken nur der Schleier ist, den die barmherzige Evolution um die Wahrheit gelegt habt, damit wir ihr nicht ausgeliefert sind in ihrer Nacktheit weit jenseits von moralischen Mäntelchen?
Denn Philosophie ist nicht nur ein Fenster zur Welt, sie ist auch ein Fenster in unser Inneres. Sie ist die Reflexionsinstanz, die hinter dem Fenster steht und die Daten verarbeitet, die uns ein bestimmter, begrenzter Weltausschnitt bei diesem Licht und in dieser konkreten räumlichen und zeitlichen Situation geliefert hat, mit allen Sinnen unseres ganzen Körpers. Aber natürlich muss die Welt auch wieder aus dem Kopf herauskommen, muss die Monade, die wir nun mit den Fenstern der Sinne ausgestattet haben, Leibniz möge uns verzeihen, mitteilen, kommunizieren, letztlich und leider: sprechen. Denn wäre es nicht schöner, sauberer, nützlicher, wenn wir direkt wieder ein anschauliches sinnliches Gebilde nach außen spiegeln könnten, eindeutig, vollständig, vielfältig, und unser Gegenüber würde es direkt wieder so erfassen durch die Fenster seiner vielfältigen Sinne? Aber Menschen müssen reden. Sprache ist alles, was wir haben, und wir tun uns viel darauf zu gut, fast so viel wie auf den Geist, aber sie ist ein sehr ungehobeltes Werkzeug. Jeder geht mit ihr um, wie er will. Schonen sollte man die Worte, achten auf ihre spezifische Bedeutung, hören auf ihren besonderen Klang. Aber wir gehen mit ihnen um, als seien sie bessere Putzschwämme: Wird schon noch eine Bedeutung mehr hineinpassen, auch wenn sie mit der ursprünglichen immer weniger und am Ende gar nichts mehr zu tun hat; und wenn man das Wort einmal versehentlich auspresst, kommt all der unverdaute gedankliche Müll wieder zum Vorschein. Eigentlich sollte man alle Wörter einmal pro Jahrhundert, mindestens, umtauschen, recyceln, wenigstens generalsanieren; was im Übrigen nichts und gar nichts mit politischer Korrektheit zu tun hat, die eher das Gegenteil einer reflektierten und verantwortete Sprachgestaltung ist, nämlich eine Sprachstanzmaschine, aus der nur noch bedeutungslose Schablonen fallen, konturlos, formlos, reduziert auf: moralische Richtigkeit (Wörter sind nicht moralisch, das liegt nicht in ihrer Natur; sie sind Bezeichnungen, die sich auf eine Sache, nicht auf einen Wert beziehen). Und je abstrakter und weniger gegenständlich ein Wort wird, desto saugfähiger wird es. Ein „Fenster“ ist, auch wenn es durchaus verschiedenen geformt und von verschiedener Größe, Machart, Durchsichtigkeit sein kann, ein Fenster. Was ist der menschliche „Geist“? Schon beim Sprechen beginnt der Mund zu schäumen. 150 Seiten braucht der Artikel im Wörterbuch der Deutschen Sprache der Brüder Grimm, und hinterher ist man definitiv noch viel verwirrter als vorher. Geben wir das Wort auf. Es bedeutet – alles und nichts. Wahrscheinlich kann man es noch nicht einmal nutzbringend recyclen, es würden nur lauter kleine Ungeister herausfleuchen.
Leibniz hatte von einer universalen, widerspruchsfreien Sprache geträumt, obwohl seine Monaden das doch eigentlich gar nicht nötig hatten. Die menschliche, sprachlich vermittelte Erkenntnis hingegen sei, so kategorisierte Leibniz schön in seiner universalwissenschaftlichen Art, entweder klar oder dunkel, entweder verworren oder deutlich – und das sind wohlunterschiedene Begriffe! Eine Einsicht, die uns klar vermittelt wird, erkennen wir wieder; einer dunklen sind wir ausgeliefert, wir werden sie niemals wiedererkennen, und wenn sie uns bis in unsere Träume verfolgt. Noch besser jedoch ist es, wenn eine Erkenntnis deutlich vermittelt wird: Dann können wir ihre einzelnen Teile unterscheiden und ihre Merkmale aufzählen. Nicht jedoch bei der verworrenen Erkenntnis, wo alles durcheinander purzelt; zwar hat sie durchaus ihre einzelnen Teile und Merkmale, aber die werden eben nicht – deutlich. Nun gibt es Dinge, die werden, zumindest in der menschlichen Sprache, niemals deutlich erkannt werden können, sondern nur klar, in einem einzigen, ganzheitlichen Erkenntnisakt – sagen wir: die Monade? eine Persönlichkeit? ein sinnlicher Gesamteindruck? ein Kunstwerk? Andere hingegen sind durchaus der Deutlichkeit fähig, und man verschenkt eine wichtige Erkenntnismöglichkeit, indem man alle begriffliche Deutlichkeit schlechthin und jeden Versuch einer genaueren Definition dessen, was ein bestimmtes Wort meint, dieses spezifische, eine Wort – zur unnötigen Wortklauberei erklärt, ich wisst doch schon, was ich gemeint habe, gell? Mit jeder Unterscheidung öffnet sich ein neues Fenster; es ist nicht immer ein Panoramafenster, sondern manchmal nur ein Mansardenfenster, aber man fühlt sich gerade in Mansardenfenstern ganz heimelig. Der Ausschnitt ist klein, aber präzise begrenzt. Man sieht nur ein kleines Stück Welt, aber das sieht man genau, wenn man richtig hinschaut jedenfalls und nicht in die Luft guckt und nach Luftschlössern Ausschau hält.
Ein wenig bekannter Philosoph des 19. Jahrhunderts, Friedrich Albert Lange hieß er und er wurde berühmt geworden durch seine Geschichte des Materialismus, hat in einer schönen Passage eben derselben eine Art Variante des platonischen Höhlengleichnis gegeben: „Denken wir uns […] einen Menschen, der ein Kaleidoskop für ein Fernrohr hält. Er glaubt höchst merkwürdige Gegenstände außerhalb wahrzunehmen und widmet ihrer Betrachtung allen Fleiß. Er soll nun in einen engen Raum eingeschlossen sein. Nach der einen Seite hat er ein Fensterchen, welches ihm einen beschränkten und getrübten Blick nach außen eröffnet; nach einer andern Seite ist das Rohr, mit welchem er in die Ferne zu sehen glaubt, fest in die Wand eingeschlossen. Diesen Ausblick liebt er ganz besonders. Er reizt ihn mehr als das Fensterchen; unablässig sucht er auf diesem Wege seine Erkenntnis von einer wunderbaren Ferne zu vervollkommnen. Das ist der Metaphysiker, der das enge Fenster der Erfahrung verschmäht und sich von dem Kaleidoskop seiner Ideenwelt täuschen läßt“. Niemand würde ein Kaleidoskop benutzen, um sich in der Welt zu orientieren, aber natürlich schauen wir alle lieber durch bunte Kaleidoskope als durch enge, getrübte Fenster. Philosophie aber, und damit variieren wir unsere Metapher ein wenig, sollte daran arbeiten, die Fenster zu putzen. Denn in der Höhle sind wirkliche Menschen, draußen werden wirkliche Gegenstände vorbeigetragen und wirkliche Konflikte verhandelt, und wenn wir uns verständigen, sollten wir das mit wirklichen Worten tun, nicht mit ausgelutschten Bedeutungsschwämmen. Philosophie ist die Putzfirma, die dafür sorgt, dass die Scheiben streifenfrei sind; sie ist der Architekt, der sich darum kümmert, dass genug Licht ins Gebäude fallen kann; sie ist der Hausmeister, der dafür sorgt, dass sich das Fenster gut öffnen und schließen lässt und nicht aus dem Rahmen fällt. Sie stellt auch Fenster zur Verfügung, historische, aktuelle, unterschiedlich geschnittene, die man ausleihen kann, nein: die jede und jeder ausleihen kann. Denn das Gute an Fenstern ist, dass jede und jeder ein natürliches Gefühl dafür hat, wie man mit Fenstern umgeht. Man braucht keinen Schlüssel für ein Fenster, keine Bedienungsanleitung, keine Sicherheitsbelehrung. Man muss nur hinaussehen wollen und dann möglichst unbefangen davon berichten, was man gesehen hat. Dann darf man auch wieder in die Höhle zurück.
Alle anderen Bäume waren schon lange gefallen. Sie stellten eine zu große Gefährdung dar für die Menschen, hieß es. Immer wieder fielen einmal Äste herab, das führte zu Verletzungen und Klagen und Schadenersatzforderungen, die die Gemeinden irgendwann nicht mehr bezahlen konnten. Und wer wusste schon, was da alles kreuchte und fleuchte im Unterholz, Zecken, Fuchsbandwürmer, Eichenprozessionsspinner zwischen potentiell giftigen Pilzen und Schlangen? Und war vor fünfzig Jahren nicht noch ein Tollwutbiss tödlich geendet? Nein, die Bäume waren gefallen, einer nach dem anderen, die vier Flüsse waren voll von toten Ästen, die überreifen Früchte am Boden verströmten einen modernden Geruch, und Tiere hatte schon lange keiner mehr gesehen; bis auf die Schlange natürlich, aber war sie nicht doch nur ein Mythos? Allein ein einziger Baum stand noch, ganz in der Mitte: Knorrig streckte er seine Äste bis weit in den Himmel hinein, beinahe konnte man die Spitzen nicht mehr sehen!
Die Fälltruppen befiel, als sie sich mit ihren schweren Werkzeugen dem Monster näherten, ein seltsames Gefühl, sie erkannten es kaum, war es – Zweifel? Aber sie waren doch nur Befehlsempfänger, niemals hatten sie daran gezweifelt, dass sie auf der Seite der Guten waren; es war doch nur gut gemeint, dass die Menschen geschützt werden mussten vor diesen bösen Baummonstern, mit ihren unberechenbaren Verzweigungen und Verästelungen, die immer nur wuchsen, einfach wuchsen, in den Himmel wuchsen. Doch da war dieses seltsame Gefühl, und als sie anfingen, den Baum genauer zu betrachten, die großen Motorsägen schon vor Erwartung zitternd in den Händen, erkannten sie, dass er zwei Hälften hatte. Ein sehr kräftiger Blitz musste ihn irgendwann einmal gespalten habe, der Riss ginge mitten durch die Mitte, man sah noch die schon seit langem verkrustete Wunde. Und über dem Riss hatten sich zwei Hälften gebildet, die unabhängig voneinander weitergewachsen waren. Die eine war ganz überwuchert von Schmarotzern, die ihn von allen Seiten umrankten und umschlungen hatten; abgestorbene Äste hingegen seltsam verdreht hinab, andere schossen bizarr ins Nichts, und es herrschte eine unheimliche Ruhe in den Verzweigungen und leeren Höhlen. Die andere Hälfte war kleiner und schwächer geblieben, fast kümmerlich sah sie aus. Aber einige Vögel schienen dort noch bis vor kurzer Zeit ihre Nester gebaut zu haben, und hingen ganz weit oben nicht noch einige Früchte?
Während die Arbeiter noch schauten und die Motorsägen schon vibrierten und heulten, entspann sich auf einmal ein Streit unter ihnen. Es sei doch klar, dass man zuerst den schwachen Teil entfernen würde; das sei eine leichte Aufgabe, es sei wenig Widerstand zu erwarten, und schon bald würde man die erste Pause machen können, so sagten die einen. Die anderen spürten ein seltsames Ziehen am Herz, als sie die kümmerliche Hälfte betrachteten; aber um das unangenehme Gefühl zu verdrängen, schrien sie umso lauter: Nein, zuerst den Monsterteil natürlich, jetzt seien sie noch kräftig und ausgeruht, und vielleicht würde man dann ja den kleinen – aber da wurden sie schon von der ersten Gruppe über-stimmt: Wie man denn nur auf so eine böse – seltsamerweise sagten sie "böse", sie wussten selbst nicht recht warum – auf eine so böse Idee kommen könnte? Es sei doch offensichtlich eine gute Idee, zuerst den schwachen – aber da konnte man schon kaum noch ein Wort verstehen, so laut heulten die Sägen auf, als sich die beiden Gruppen drohend aufeinander zu bewegten. Durch den Baum ging ein warnendes Rauschen, die wenigen Vögel flogen kreischend auf, und schlüpfte da nicht eine Schlange, beinahe wirkte es so, als habe sie Beine bekommen –
Ganz am Ende sahen zwei einzelne Arbeiter auf das Schlachtfeld zu Füßen des immer noch verzweifelt rauschenden Baumes nieder. Sie hatten sich, als das Gemetzel losging, schnell aus dem Staub gemacht; nicht, weil sie Feiglinge waren, aber aus irgendeinem Grund wehrte sich etwas in ihnen gegen diesen sinnlosen Streit, war es denn nicht egal, musste man sich denn immer auf eine Seite schlagen, sahen die anderen denn nicht, dass es nur ein Baum war, ein einziger alter Baum mit einer tiefen Wurzel; die Wurzel, das ahnten sie schon, wäre das eigentliche Problem gewesen, nicht die Äste oder der verknorrte Stamm? Hatten sie denn gar nichts verstanden von den Bäumen?
Aus einem Impuls heraus warfen sie ihre Schutzkleidung von sich, sie rissen sich die Helme von den Köpfen, ja, sie begannen sogar, die Sägen zu demontieren. Der Baum beruhigte sich langsam dabei, einzelne Vögel kamen langsam zurück, zuerst ein Rabe. Und als sie die Metallskelette sorgfältig vergraben hatten und hochschauten, hatten sie das seltsame Gefühl, dass der Baum begonnen hatte, wieder zusammenzuwachsen. Er wuchs von unten her zusammen, die Wunde hatte schon begonnen sich zu schließen, und die Äste beider Seiten wiegten sich beinahe harmonisch im sanften Wind.
Man erzählt von den beiden, dass sie die Urahnen eines neuen Geschlechts waren. Es bebaute unter Schweiß den Boden und pflanzte neue Bäume. Und als ihre Nachkommen die ersten Früchte ihrer Arbeit ernten konnten, sahen sie: dass es gut war. Aber es interessierte sie nicht besonders.