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Denkgeschichten




ICH BIN, ALSO DENKE ICH!
Denkgeschichten
mit Gedankensprüngen, Denkbildern,
moralisch-polemischen Essays
und Argumenten-Evaluationen,
einigen Geistergesprächen und Parabeln

von Serena Heiter


Inhalt

STATT EINER EINLEITUNG
Ausgedacht. Archetypen des Denkers

A. HISTORISCHER TEIL

I. Leuchttürme
Sokrates und der Todesbeweis * Rousseau, der Paradoxenmacher * Kant, oder: Kopernikus in Königsberg * Friedrich Nietzsche und der ewige Mittag

II. Geister-Gespräche
Marx, Heidegger und Rilke treffen sich mit Hartmut Rosa im Weltinnenraum und schwingen sich ein wenig ein, oder: ein Resonanzbericht * Philosophieflüstereien, oder: Sanfte Disruptionen * Athene yawned. Philosophen-Quartett, weiblich * Walter Benjamins ‚Kritik der Gewalt‘, oder: Wie Wesentliches über Gewalt nicht gesagt wird * Singzikaden, oder: Mein day of the locust

III. Mission Minutiae, oder: Denkanstösse

B. POETISCHER TEIL: DENKBILDER

Ins Unreine gesprochen + Sprechklausel * Rede-Wendungen * Mit anderen Worten * Alles oder Nichts? * Gender-Wordstreaming * Ironie-Signale * Vorsicht Wortspiel! * Ideen-Sex * Denkversuche * Sym-Biose * Der Körper denkt * Exzellenzinitiative. Vom Abstieg einer Floskel * Train of thought * Tabula rasa * Kleider machen Leute * Teatro mundi * Hermeneutik als gutwillige  Wissenschaft betrachtet * Will man mich verstehen * ICH

C. ANALYTISCHER TEIL. Gedankensprünge, oder: Erlebtes Denken

Vom Wert des kleinen Gedankens * Eingeborene * Die Ordnung mentaler Kleiderschränke * Das Gehirn braucht Bewegung * Gehirnoszillationen * Die Falten des Gehirns * What’s in a shoe * Handtaschen * Pubertätsverweigerung * Wahre Geschichten * Ein Lob auf Wikipedia, oder: Wie man findet, was man  nie gesucht hat * Im Bergwerk des Geistes (Vorsicht, ausgebaute Metapher!) * Beschreibungssprachen * Das kleine Wörtchen „Mithin“, oder: philosophy in a nutshell * Highly Sensitive Persons, Clusters  und der Unterschied zwischen einer HSP- und einer HUI-Philosophie * Shiri‘s scissor oder: An den Wurzeln  der Moral zu sägen * Die Wonnen des Warum * Zielkonflikte * Paradoxenmacher, oder: Das Verschwinden der Widerspruchstoleranz * Als-ob, oder: Bilderblitze * Die normative Kraft des Faktischen * Die Freuden des Urteils * Von hinten gesehen * Fürwahrhalten * Der Sprung ins Urteil * Über Geschmack muss man streiten! * Menschliche Naturgewalten

D. POLEMISCHER TEIL

I. Argumenten-Evaluationen
Wert-Schätzungen. Gehässige Meditationen über missbrauchte Wörter * Kaufprämien * Opfer * Die Abholgesellschaft * Auf Augenhöhe herabgelassen * Gut aufgestellt oder gut aufgelegt? * In der Tiefe, oder: deep * Saubere Worte, oder: Serendipity * Superlative der Negativität * Gelegentlich. Wirklich! * Kriege, evaluiert * Rebooten * Die letzte Bastion * Unqualifizierte Gedanken

II. Rehabilitationen
Lob des Klaubens * Der arme Oberlehrer, oder: Von der Last, Recht zu haben * "Das wird man doch noch sagen dürfen!“ Die Meinungsfreiheit der Anderen * Die Notwendigkeit von Neiddebatten * Das ist aber populistisch! * Wer die Pfeife bläst * Rettet die Sekundärtugenden!

E. POPULARPHILOSOPHISCHER TEIL

Philosophie als Fenster zur Welt * Zarathustra in der Wellness-Oase * Marke und Metaphysik –  Neue und alte Hinterwelten * Verwandlungen, Bekehrungen, Erwachen: der Sprung ins Leben * Und jedem Ende wohnt ein Zauber inne – vom guten Geist des Endes und des Anfangs

F. ALLEGORISCHER TEIL

I. Göttergeschichten
Hermes' kleine Sinnwerkstatt * Kassandra und die Wunschmaschine * Hephaistos hinkte * Sisyphos als Autor

II. Parabeln aus der Frühzeit der Menschheitsgeschichte
Die Parabel vom Kaffee- und Teeladen * Die Parabel vom Schuhmacher * Die Parabel vom Gärtner

G. DIDAKTISCHER TEIL

Das Projekt Pädagogische Provinz. Bericht für eine Anstalt

CODA
Kumulative Sündenfälle * Wer ist schuld? Zwölf Kandidaten für das blame game * Der Rückweg ins Paradies – eine nachgetragene Parabel

Denkgeschichten
(vollständige Version zum Download)
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Leseproben


Philosophie als Fenster zur Welt

Wie kommt die Welt in den Kopf hinein? Und wie kommt der Inhalt des Kopfes wieder hinaus in die Welt? Eigentlich könnte man das als Grundfrage der Philosophie überhaupt bezeichnen: Denn ohne Kopf gibt es ebenso wenig eine Erkenntnis der Welt, wie es ohne Welt eine Einsicht des Kopfes geben kann. Wenn es überhaupt eine General-Unterscheidung gibt, die den Grund legt für unser Denken und Erkennen, dann ist das nicht Gut und Böse (eine nachgeordnete Subtilität); nicht Richtig und Falsch (immer abhängig vom Bezugssystem): Es ist Innen und Außen. Innen, das ist da, wo wir zuhause sind, es ist das, was wir meinen zu kennen (können wir es wirklich kennen? Sind wir ihm nicht viel zu nahe?); Außen, das ist das Fremde, das uns Gegenüberstehende, das, was bewältigt und angeeignet werden will. Dann aber kann es, ja: muss es auch wieder nach außen treten – sonst wäre Philosophie ein nimmer endendes Selbstgespräch des Kopfes mit seinen eigenen Verrücktheiten und nicht eine Äußerung, vielleicht sogar: eine Ent-Äußerung, die auf eine Ver-Innerlichung folgt. Innen und Außen: Ohne diese Trennung gäbe es keine Leben auf dieser Welt der Polaritäten (wohl aber ohne Gut und Böse, ohne Richtig und Falsch). Innen und Außen, das ist wie Ein- und Ausatmen, lebendige Kommunikation im Wechsel, und schon die alten Griechen hatten das gleiche Wort für Atem und Geist, Lufthauch und Seele: pneuma. Leben besteht daraus, dass ein Organismus eine Grenze zur Außenwelt aufbaut, eine schützende Hülle, in der sich das Leben entwickeln kann; bekanntlich ein temporärer Zustand, davor und danach gibt es keine Hülle, sondern nur ein großes Fließen. Das Leben hat einen Kern und eine Schale, und eines ist nicht besser oder wichtiger als das andere; beides zusammen erst, im ständigen gleichmäßigen Wechsel, macht das Ganze.

   Damit aber ist Leben, und mit ihm: Philosophie als reflektiertes Leben, ein Kommunikationsproblem. Denn wenn es Innen und Außen gibt, wenn es den notwendigen Zusammenhang beider gibt, dann müssen sie sich verständigen können. Irgendwie. Wunderbarerweise ist das schon in der Urszene der Philosophie, dem Platonischen Höhlengleichnis, vollständig erkannt und anschaulich präsentiert: In einer Höhle sitzen wir, einem geschützten, vom bedrohlichen Außen abgeschnittenen Innenraum von geradezu vorgeburtlicher Geborgenheit. Draußen laufen die Gegenständer Welt in einer permanenten Prozession vorbei, in all ihrer lockenden Buntheit und Gefährlichkeit. Aber wir sind gefesselt und sehen nur ihre Schatten, gespiegelt an der Höhlenwand; wir sehen also nicht das wahre Sein. Hier verlassen wir Platon nun, der in einer atemberaubenden philosophischen Volte deshalb gerade das Nicht-Materiell-Seiende, die Ideen, zum einzig Wahren und Wichtigen erklärt; wir bleiben vielmehr bei der Höhle und ihrer prekären Stellung zwischen Innen und Außen und der Frage, wie das Außen, die Dinge, in das Innen, die Köpfe in der Höhle, kommen könnte. Das, was man also bräuchte, wären vielleicht - Fenster, durch die etwas hineinströmt, Materie, noch unbearbeitet, Ein-drücke, wie man schon früh in einer Metapher gesagt hat (wenn man genau hinschaut, beginnen die meisten neuen Erkenntnisse mit einer Metapher). Man glaubte sogar einige Zeit, dass das Gehirn eine eigene Art Höhlenwand sei, auf der sich die Eindrücke mechanisch abdrücken, lauter kleine Realitätsstempel, einer über und unter dem anderen. Wie wir aber die Höhle verlassen könnten, um ins klare, freie Licht der Erkenntnis zu gelangen, zu den Dingen selbst – ach, wir wollen es ja gar nicht. Es reicht uns, durch ein Fenster hinauszuschauen, ein kleiner Ausschnitt, wohlgerahmt, gesichert, am besten mit einer Scheibe verschlossen. Aber sie ist durchsichtig, und je mehr man sie putzt und je feiner man sie fertigt, desto besser wird man durch sie sehen können. Im Alltagsleben aber dominieren die Schlieren; niemals wird ein Fenster ordentlich sauber, das weiß jede Hausfrau. Gelegentlich blendet die Sonne, gelegentlich verdunkelt sich der Himmel; und immer ist irgendwo ein Fliegendreck.  

Philosophie könnte solch ein Fenster zur Welt sein. Einige meinen natürlich, sie sei eher eine Tür: Man öffnet sie und geht hinaus und ist dann draußen, bei den Dingen selbst. Es kann aber sein, dass die Tür verschlossen ist und man nicht den richtigen Schlüssel findet; es kann auch sein, dass die Tür sich hinter einem schließt, und niemals wird man zurückfinden. Nein, Türen sind keine Lösung: Türen schließen ein und schließen aus, sie verbarrikadieren ein Inneres, und seit neuestem ist sogar häufig eine Alarmanlage installiert, die bei unkorrektem Denken anschlägt. Fenster hingegen – sind Öffnungen, die verwundbar machen, aber auch schützen. Natürlich kann man auch Fenster öffnen und schließen, man kann sich auch hinauslehnen und wieder zurückziehen, aber man bleibt auf der Schwelle zwischen Innen und Außen, ein wenig geschützt, ein wenig exponiert. Und draußen zieht die Welt vorbei, ein großes Theater der Dinge und Lebewesen, und wir schauen ihr eine Weile zu, wie von einem Logenplatz im Theater aus; es ist eine Aufführung, die sich von Minute zu Minute ändert, und wir kommen kaum hinterher mit dem Schauen und Staunen und Analysieren. Die Begriffe und Kategorien haben wir im Schrank hinter uns verstaut, hinter verschlossenen Türen; es sind nützliche Werkzeuge, aber sie stören beim Schauen, sogar wenn es Fernrohre oder Mikroskope sind: Sehen wir die Welt erst einmal, wie sie ist, bevor wir ihr mit menschlichem Werkzeug zu Leibe rücken!

Philosophie kann ein Fenster zur Welt sein. Natürlich, einige der berühmtesten Philosophen waren bekanntlich anderer Meinung, mit Platon und seiner Ideenwelt angefangen. Der Berühmteste unter ihnen war Leibniz, zweifellos ein Denker und Gelehrter und Universalist, wie es wenige gegeben hat; er hatte jede Menge Spezialwerkzeuge zur Bewältigung der Welt, er hat sogar einige ganz neue Werkzeuge selbst erfunden. Leibniz hatte also einen ganzen Palast voller Fenster, großer und kleiner, geometrischer und weniger geometrischer, alles stand ihm zur Verfügung. Aber im Herzen des Palastes wohnt, ganz für sich und verschlossener als das Paradies, die Monade. Die Monade hat, und es ist nicht nur erstaunlich, sondern sehr bedenkenswert, dass dieses philosophische Zitat wohl das am meisten zitierte Leibniz-Wort ist – die Monade hat, sagt Leibniz, keine Fenster. Sie ist nicht materiell, sie ist deshalb auch nicht teilbar, sondern ein Atom; sie hat keinen Anfang und kein Ende, sondern sie existiert in aller Ewigkeit, ist unsterblich und wird nicht geboren. Sie ist, so könnte man aus ein wenig Distanz sagen und wenn man dabei durch ein etwas skeptisch eingefärbtes Fenster schaut, eine Art Mini-Gott; eine Essenz Gottes, in die Menschen versetzt als Gott-Atom, als unzerstörbarer Kern, geschützt von einer hermetisch abschließenden Schale, der Materie. Die Monade ist, wir blicken weiter durch das skeptische Fenster, das philosophische Wunschdenken in Reinform, die Selbstermächtigung des Menschen über alle Grenzen von Natur und Materie hinaus, das reine Sein (und ist es nicht bedenklich, wie sich das reimt? – aber der Schein, er folgt dem Reim schon auf dem Fuße ...). Sie ist eine weiße black box, die schönste und reinste, die man sich nur vorstellen kann; und wehe, wehe, man versucht sie zu öffnen (undenkbar!).

Nun ergibt sich dadurch natürlich das oben bereits erwähnte Kommunikationsproblem; denn wie kommt die Welt in die Monade und die Monade wieder in die Welt, wenn nicht durch – Fenster? Denn interagieren muss man nun einmal, der Mensch lebt, Monade oder nicht im Kern, in einer Welt der Dinge und Materien, die sein Handeln beeinflussen, die er durch sein Handeln beeinflusst; er lebt zudem als Sinnenwesen, nicht nur als Geist- und Verstandeswesen, und wie kommunizieren seine eigenen Sinne also mit dem eigenen Geist, der Monade, wie steuert einer den anderen? Dafür erfand Leibniz einen Zaubertrick, und die Absurdität der Idee zeigt, wie groß das Problem ist: Er heißt „prästabilierte Harmonie“ und geht einfach davon aus, dass beide, Monade und Sinnenwesen, einem vorgegebenen Mechanismus folgen, einer inneren Uhr, einem vorprogrammierten Ablaufplan, wie immer man es nennen mag: Vom Moment der Schöpfung an läuft das große Programm ab, und der größte aller Schöpfer hat dafür gesorgt, dass es vollkommen synchronisiert abläuft, ohne Wechselwirkungen, gegenseitige Beeinflussungen, Unabsehbarkeiten, Systemfehler. Leibniz war der Urvater aller Programmierer, und es ist nur verständlich, dass er von einer Universalsprache träumte, die eindeutig und vollständig das Universum beschreiben würde und endlich, endlich, die Menschheit von der Misslichkeit der Kommunikation befreien würde. Leibniz hätte den Computer geliebt, das steht außer Frage: Eine blinkende blackbox, gefüttert mit Programm, Hardware und Software, und beides im schönsten Einklang. Die platonische Höhle, endlich vollkommen abgesichert von der Außenwelt. Keine Fenster, nur eine Schnittstelle!

John Locke, sein großer Zeitgenosse und Gegner, sah das naturgemäß anders als überzeugter Empirist: Zwar war auch für ihn der Geist eine ziemlich abgeschottete black box, aber sie hatte immerhin kleine, kleine Öffnungen nach außen, Fenster, so sagt auch Locke wörtlich, nämlich: die Sinne. Sinne-Fenster, das ist eine ziemlich naheliegende Analogie, auf die deshalb auch schon massenhaft Leute vorher gekommen sind, allen voran die christliche Theologie, die beispielsweise die menschlichen Augen als „Fenster zur Seele“ auffasste: Wir können niemanden in den Kopf kriechen, aber ein Abglanz der unsterblichen Seele fällt durch die Augen nach außen (und das war die Richtung, die die Religion von jeher mehr interessierte: Wesentlich war das Innen, und nicht das weltlich-kontingente Außen!); und wenn wir jemand ganz tief in die Augen sehen, können wir deshalb bis auf seine Seele blicken, wir sehen ihre Flecken und ihren Glanz. Aber bleiben wir einen Moment bei allen Sinnen, nicht nur bei den Augen. Ist nicht die ganze Schale des Menschen ein großer Sinnesapparat, der ständig Welt prozessiert und nach innen weiterleitet, damit der Verstand seine Arbeit beginnen kann in seiner Dunkelkammer? Haben wir nicht eigentlich sogar viel mehr als nur fünf sparsam unterschiedene Sinne: ein Zeitgefühl, ein Raumgefühl, ein, wie soll man sagen: Verdauungssensorium (der Darm ist bekanntlich ein Teil des Gehirns), sogar, vielleicht, einen natürlichen Sinn für Schönheit, Richtigkeit, Wahrheit, oder, evolutionär kodiert: Gesundheit und Nützlichkeit? Ach, es gibt so viele Fenster am menschlichen Körper, und viele von ihnen könnten besser geputzt, gewartet, benutzt werden! Wäre das nicht eine große Aufgabe für die Philosophie, die immer verzweifelter nach einer neuen Aufgabe sucht, nachdem ihr die Welt so weit abhanden gekommen ist, dass eine Kommunikation kaum noch möglich scheint?

Denn die Philosophie hat sich lange Zeit darauf konzentriert, die Fenster zu verschließen, zu vermauern, für blind zu erklären: Unzuverlässig seien sie, all diese Sinne, Blendwerk, gefärbte Scheiben, optische Verzerrung, Reizüberflutung. Selten wurde bemerkt, dass der Geist, der Verstand, die Vernunft, die Monade oder wie all die Kandidaten für die große schwarze box im Kopf heißen, offensichtlich auch nicht die zuverlässigsten Auskünfte über die Welt liefern: Wie könnte es sonst sein, dass nach gut zweitausend Jahren Philosophiegeschichte eigentlich in keiner wesentlichen Menschheitsfrage eine Einigung erreicht wurde, obwohl die besten und größten Köpfe (Aristoteles! Leibniz! Kant! Wittgenstein!) daran abgearbeitet haben? Aber nein, jeder hat die Box ein wenig anders konstruiert; am Ende war sie schön blankpoliert und systematisch abgedichtet, aber nicht direkt kommunizierbar. Derweilen traten die Sinne ersatzweise ihren Siegeszug in den Naturwissenschaften an, und es öffneten sich jeden Tag mehr Fenster in eine Welt, die Gesetzen durchaus zugetan war und eine schöne Ordnung liebte. Der Geist hingegen blieb allein zuhause. Eingesperrt, ausgesperrt. Sichtschutz, wohin man schaut. In der Höhle, spielend mit Schatten, immer mehr Schatten.

Doch wenigstens, so sagten die Philosophen, könne der Geist sich selbst erkennen, und gebe es eigentlich Bedeutenderes in der Welt als die Krone der Schöpfung: das menschliche Selbstbewusstsein?  Nun wurde im schmerzhaften Verlauf der realen Geschichte (nicht der des Geistes!) durchaus eine gewisse Empfindlichkeit gegenüber dem Prozess der Selbstkrönung entwickelt. Nicht unbedingt gilt es mehr als Erweis besonderer Führungsstärke, wenn man sich selbst zum Herrn des Universums erklärt und alle anderen zur Unterwerfung verpflichtet. Doch was anderes ist diese philosophische Obsession auf Selbstermächtigung des Subjekts, im Namen des Ideals, des Geistes, des Unreduzierbaren und Schlechthin-Komplexen, als eine kontinuierliche und nur in immer neuen Farben und flavours inszenierte Selbstkrönung? Warum soll man der Objektivität eines Wesens trauen, das sich selbst über alle andere Wesen erhebt? Warum sollte man jemand glauben, der die eigene Kernkompetenz ohne jegliche Begründung zur Königsgattung alles menschlichen Tuns erklärt; die Begründung ist, in einen sauberen Syllogismus verpackt: Der Mensch ist das einzige Wesen, das denken kann; Denken ist höchste aller Fähigkeiten; der Mensch ist das Höchste Wesen (ja, intendierte Bedeutungsgroßschreibung!) Wie immer steht und fällt der Syllogismus, eine sehr unzuverlässige logische Krücke, mit den Vordersätzen: Wir haben Denken sehr sorgfältig so konstruiert, dass es nur auf das zutrifft, was Menschen mit ihrem Gehirn tun; es ist sehr wohl möglich, dass andere Wesen weit besser denken mit ihren, zugegebenermaßen: kleineren Gehirnen, aber wir werden es nie erfahren können. Also denken sie nicht, logisch. Jede Biene, die die Produktion von Honig zur höchsten aller Fähigkeiten erklären würden, würden wir unter die ideologiekritische Lupe nehmen und, sieh da! Die Biene hat ein Interesse daran, dass Honigmachen die höchste Kompetenz schlechthin ist. Menschen aber … Wäre es nicht wirklich Zeit, sich perspektivisch einmal aus dem Zentrum des Universums hinauszunehmen und zu gestehen, dass man auch auf sich selbst, das heilige Individuum und sein allerheiligstes Innerstes, nur – durch ein Fenster blicken kann, in Ausschnitten, aus der Distanz? Dass die Sinne uns nicht nur die Welt zeigen, sondern auch der einzige Weg in die Höhle sind? Dass wir sind, was wir wahrnehmen, fühlen, erleben, tun, und dass unser Denken nur der Schleier ist, den die barmherzige Evolution um die Wahrheit gelegt habt, damit wir ihr nicht ausgeliefert sind in ihrer Nacktheit weit jenseits von moralischen Mäntelchen?

Denn Philosophie ist nicht nur ein Fenster zur Welt, sie ist auch ein Fenster in unser Inneres. Sie ist die Reflexionsinstanz, die hinter dem Fenster steht und die Daten verarbeitet, die uns ein bestimmter, begrenzter Weltausschnitt bei diesem Licht und in dieser konkreten räumlichen und zeitlichen Situation geliefert hat, mit allen Sinnen unseres ganzen Körpers. Aber natürlich muss die Welt auch wieder aus dem Kopf herauskommen, muss die Monade, die wir nun mit den Fenstern der Sinne ausgestattet haben, Leibniz möge uns verzeihen, mitteilen, kommunizieren, letztlich und leider: sprechen. Denn wäre es nicht schöner, sauberer, nützlicher, wenn wir direkt wieder ein anschauliches sinnliches Gebilde nach außen spiegeln könnten, eindeutig, vollständig, vielfältig, und unser Gegenüber würde es direkt wieder so erfassen durch die Fenster seiner vielfältigen Sinne? Aber Menschen müssen reden. Sprache ist alles, was wir haben, und wir tun uns viel darauf zu gut, fast so viel wie auf den Geist, aber sie ist ein sehr ungehobeltes Werkzeug. Jeder geht mit ihr um, wie er will. Schonen sollte man die Worte, achten auf ihre spezifische Bedeutung, hören auf ihren besonderen Klang. Aber wir gehen mit ihnen um, als seien sie bessere Putzschwämme: Wird schon noch eine Bedeutung mehr hineinpassen, auch wenn sie mit der ursprünglichen immer weniger und am Ende gar nichts mehr zu tun hat; und wenn man das Wort einmal versehentlich auspresst, kommt all der unverdaute gedankliche Müll wieder zum Vorschein. Eigentlich sollte man alle Wörter einmal pro Jahrhundert, mindestens, umtauschen, recyceln, wenigstens generalsanieren; was im Übrigen nichts und gar nichts mit politischer Korrektheit zu tun hat, die eher das Gegenteil einer reflektierten und verantwortete Sprachgestaltung ist, nämlich eine Sprachstanzmaschine, aus der nur noch bedeutungslose Schablonen fallen, konturlos, formlos, reduziert auf: moralische Richtigkeit (Wörter sind nicht moralisch, das liegt nicht in ihrer Natur; sie sind Bezeichnungen, die sich auf eine Sache, nicht auf einen Wert beziehen). Und je abstrakter und weniger gegenständlich ein Wort wird, desto saugfähiger wird es. Ein „Fenster“ ist, auch wenn es durchaus verschiedenen geformt und von verschiedener Größe, Machart, Durchsichtigkeit sein kann, ein Fenster. Was ist der menschliche „Geist“? Schon beim Sprechen beginnt der Mund zu schäumen. 150 Seiten braucht der Artikel im Wörterbuch der Deutschen Sprache der Brüder Grimm, und hinterher ist man definitiv noch viel verwirrter als vorher. Geben wir das Wort auf. Es bedeutet – alles und nichts. Wahrscheinlich kann man es noch nicht einmal nutzbringend recyclen, es würden nur lauter kleine Ungeister herausfleuchen.

Leibniz hatte von einer universalen, widerspruchsfreien Sprache geträumt, obwohl seine Monaden das doch eigentlich gar nicht nötig hatten. Die menschliche, sprachlich vermittelte Erkenntnis hingegen sei, so kategorisierte Leibniz schön in seiner universalwissenschaftlichen Art, entweder klar oder dunkel, entweder verworren oder deutlich – und das sind wohlunterschiedene Begriffe! Eine Einsicht, die uns klar vermittelt wird, erkennen wir wieder; einer dunklen sind wir ausgeliefert, wir werden sie niemals wiedererkennen, und wenn sie uns bis in unsere Träume verfolgt. Noch besser jedoch ist es, wenn eine Erkenntnis deutlich vermittelt wird: Dann können wir ihre einzelnen Teile unterscheiden und ihre Merkmale aufzählen. Nicht jedoch bei der verworrenen Erkenntnis, wo alles durcheinander purzelt; zwar hat sie durchaus ihre einzelnen Teile und Merkmale, aber die werden eben nicht – deutlich. Nun gibt es Dinge, die werden, zumindest in der menschlichen Sprache, niemals deutlich erkannt werden können, sondern nur klar, in einem einzigen, ganzheitlichen Erkenntnisakt – sagen wir: die Monade? eine Persönlichkeit? ein sinnlicher Gesamteindruck? ein Kunstwerk? Andere hingegen sind durchaus der Deutlichkeit fähig, und man verschenkt eine wichtige Erkenntnismöglichkeit, indem man alle begriffliche Deutlichkeit schlechthin und jeden Versuch einer genaueren Definition dessen, was ein bestimmtes Wort meint, dieses spezifische, eine Wort – zur unnötigen Wortklauberei erklärt, ich wisst doch schon, was ich gemeint habe, gell? Mit jeder Unterscheidung öffnet sich ein neues Fenster; es ist nicht immer ein Panoramafenster, sondern manchmal nur ein Mansardenfenster, aber man fühlt sich gerade in Mansardenfenstern ganz heimelig. Der Ausschnitt ist klein, aber präzise begrenzt. Man sieht nur ein kleines Stück Welt, aber das sieht man genau, wenn man richtig hinschaut jedenfalls und nicht in die Luft guckt und nach Luftschlössern Ausschau hält.

Ein wenig bekannter Philosoph des 19. Jahrhunderts, Friedrich Albert Lange hieß er und er wurde berühmt geworden durch seine Geschichte des Materialismus, hat in einer schönen Passage eben derselben eine Art Variante des platonischen Höhlengleichnis gegeben: „Denken wir uns […] einen Menschen, der ein Kaleidoskop für ein Fernrohr hält. Er glaubt höchst merkwürdige Gegenstände außerhalb wahrzunehmen und widmet ihrer Betrachtung allen Fleiß. Er soll nun in einen engen Raum eingeschlossen sein. Nach der einen Seite hat er ein Fensterchen, welches ihm einen beschränkten und getrübten Blick nach außen eröffnet; nach einer andern Seite ist das Rohr, mit welchem er in die Ferne zu sehen glaubt, fest in die Wand eingeschlossen. Diesen Ausblick liebt er ganz besonders. Er reizt ihn mehr als das Fensterchen; unablässig sucht er auf diesem Wege seine Erkenntnis von einer wunderbaren Ferne zu vervollkommnen. Das ist der Metaphysiker, der das enge Fenster der Erfahrung verschmäht und sich von dem Kaleidoskop seiner Ideenwelt täuschen läßt“. Niemand würde ein Kaleidoskop benutzen, um sich in der Welt zu orientieren, aber natürlich schauen wir alle lieber durch bunte Kaleidoskope als durch enge, getrübte Fenster. Philosophie aber, und damit variieren wir unsere Metapher ein wenig, sollte daran arbeiten, die Fenster zu putzen. Denn in der Höhle sind wirkliche Menschen, draußen werden wirkliche Gegenstände vorbeigetragen und wirkliche Konflikte verhandelt, und wenn wir uns verständigen, sollten wir das mit wirklichen Worten tun, nicht mit ausgelutschten Bedeutungsschwämmen. Philosophie ist die Putzfirma, die dafür sorgt, dass die Scheiben streifenfrei sind; sie ist der Architekt, der sich darum kümmert, dass genug Licht ins Gebäude fallen kann; sie ist der Hausmeister, der dafür sorgt, dass sich das Fenster gut öffnen und schließen lässt und nicht aus dem Rahmen fällt. Sie stellt auch Fenster zur Verfügung, historische, aktuelle, unterschiedlich geschnittene, die man ausleihen kann, nein: die jede und jeder ausleihen kann. Denn das Gute an Fenstern ist, dass jede und jeder ein natürliches Gefühl dafür hat, wie man mit Fenstern umgeht. Man braucht keinen Schlüssel für ein Fenster, keine Bedienungsanleitung, keine Sicherheitsbelehrung. Man muss nur hinaussehen wollen und dann möglichst unbefangen davon berichten, was man gesehen hat. Dann darf man auch wieder in die Höhle zurück.


DER RÜCKWEG INS PARADIES – EINE NACHGETRAGENE PARABEL

Alle anderen Bäume waren schon lange gefallen. Sie stellten eine zu große Gefährdung dar für die Menschen, hieß es. Immer wieder fielen einmal Äste herab, das führte zu Verletzungen und Klagen und Schadenersatzforderungen, die die Gemeinden irgendwann nicht mehr bezahlen konnten. Und wer wusste schon, was da alles kreuchte und fleuchte im Unterholz, Zecken, Fuchsbandwürmer, Eichenprozessionsspinner zwischen potentiell giftigen Pilzen und Schlangen? Und war vor fünfzig Jahren nicht noch ein Tollwutbiss tödlich geendet? Nein, die Bäume waren gefallen, einer nach dem anderen, die vier Flüsse waren voll von toten Ästen, die überreifen Früchte am Boden verströmten einen modernden Geruch, und Tiere hatte schon lange keiner mehr gesehen; bis auf die Schlange natürlich, aber war sie nicht doch nur ein Mythos? Allein ein einziger Baum stand noch, ganz in der Mitte: Knorrig streckte er seine Äste bis weit in den Himmel hinein, beinahe konnte man die Spitzen nicht mehr sehen!

Die Fälltruppen befiel, als sie sich mit ihren schweren Werkzeugen dem Monster näherten, ein seltsames Gefühl, sie erkannten es kaum, war es – Zweifel? Aber sie waren doch nur Befehlsempfänger, niemals hatten sie daran gezweifelt, dass sie auf der Seite der Guten waren; es war doch nur gut gemeint, dass die Menschen geschützt werden mussten vor diesen bösen Baummonstern, mit ihren unberechenbaren Verzweigungen und Verästelungen, die immer nur wuchsen, einfach wuchsen, in den Himmel wuchsen. Doch da war dieses seltsame Gefühl, und als sie anfingen, den Baum genauer zu betrachten, die großen Motorsägen schon vor Erwartung zitternd in den Händen, erkannten sie, dass er zwei Hälften hatte. Ein sehr kräftiger Blitz musste ihn irgendwann einmal gespalten habe, der Riss ginge mitten durch die Mitte, man sah noch die schon seit langem verkrustete Wunde. Und über dem Riss hatten sich zwei Hälften gebildet, die unabhängig voneinander weitergewachsen waren. Die eine war ganz überwuchert von Schmarotzern, die ihn von allen Seiten umrankten und umschlungen hatten; abgestorbene Äste hingegen seltsam verdreht hinab, andere schossen bizarr ins Nichts, und es herrschte eine unheimliche Ruhe in den Verzweigungen und leeren Höhlen. Die andere Hälfte war kleiner und schwächer geblieben, fast kümmerlich sah sie aus. Aber einige Vögel schienen dort noch bis vor kurzer Zeit ihre Nester gebaut zu haben, und hingen ganz weit oben nicht noch einige Früchte?

Während die Arbeiter noch schauten und die Motorsägen schon vibrierten und heulten, entspann sich auf einmal ein Streit unter ihnen. Es sei doch klar, dass man zuerst den schwachen Teil entfernen würde; das sei eine leichte Aufgabe, es sei wenig Widerstand zu erwarten, und schon bald würde man die erste Pause machen können, so sagten die einen. Die anderen spürten ein seltsames Ziehen am Herz, als sie die kümmerliche Hälfte betrachteten; aber um das unangenehme Gefühl zu verdrängen, schrien sie umso lauter: Nein, zuerst den Monsterteil natürlich, jetzt seien sie noch kräftig und ausgeruht, und vielleicht würde man dann ja den kleinen – aber da wurden sie schon von der ersten Gruppe über-stimmt: Wie man denn nur auf so eine böse – seltsamerweise sagten sie "böse", sie wussten selbst nicht recht warum – auf eine so böse Idee kommen könnte? Es sei doch offensichtlich eine gute Idee, zuerst den schwachen – aber da konnte man schon kaum noch ein Wort verstehen, so laut heulten die Sägen auf, als sich die beiden Gruppen drohend aufeinander zu bewegten. Durch den Baum ging ein warnendes Rauschen, die wenigen Vögel flogen kreischend auf, und schlüpfte da nicht eine Schlange, beinahe wirkte es so, als habe sie Beine bekommen –

Ganz am Ende sahen zwei einzelne Arbeiter auf das Schlachtfeld zu Füßen des immer noch verzweifelt rauschenden Baumes nieder. Sie hatten sich, als das Gemetzel losging, schnell aus dem Staub gemacht; nicht, weil sie Feiglinge waren, aber aus irgendeinem Grund wehrte sich etwas in ihnen gegen diesen sinnlosen Streit, war es denn nicht egal, musste man sich denn immer auf eine Seite schlagen, sahen die anderen denn nicht, dass es nur ein Baum war, ein einziger alter Baum mit einer tiefen Wurzel; die Wurzel, das ahnten sie schon, wäre das eigentliche Problem gewesen, nicht die Äste oder der verknorrte Stamm? Hatten sie denn gar nichts verstanden von den Bäumen?

Aus einem Impuls heraus warfen sie ihre Schutzkleidung von sich, sie rissen sich die Helme von den Köpfen, ja, sie begannen sogar, die Sägen zu demontieren. Der Baum beruhigte sich langsam dabei, einzelne Vögel kamen langsam zurück, zuerst ein Rabe. Und als sie die Metallskelette sorgfältig vergraben hatten und hochschauten, hatten sie das seltsame Gefühl, dass der Baum begonnen hatte, wieder zusammenzuwachsen. Er wuchs von unten her zusammen, die Wunde hatte schon begonnen sich zu schließen, und die Äste beider Seiten wiegten sich beinahe harmonisch im sanften Wind.

Man erzählt von den beiden, dass sie die Urahnen eines neuen Geschlechts waren. Es bebaute unter Schweiß den Boden und pflanzte neue Bäume. Und als ihre Nachkommen die ersten Früchte ihrer Arbeit ernten konnten, sahen sie: dass es gut war. Aber es interessierte sie nicht besonders. 



Sterben lernen

Aus Anlass des einjährigen Todestags meiner Schwester

Oft wird Sterbenlernen als eine Art Reifeprüfung für fortgeschrittenes Philosophentum verstanden. Man denkt dabei vage an Sokrates und fühlt sich gleich ein wenig erhaben. Wie so viele allgemeine Vorstellungen von Philosophie (besonders unter beamteten Philosophen!) ist auch diese größtenteils falsch. Die wenigsten Philosophen bringen es auch nur bis zum Lebenlernen, dabei wäre das die erste Reifeprüfung (denken lernen kann jeder. Fast jeder. Macht halt Mühe und ist mit viel Arbeit verbunden. Man bekommt auch keinen Nobelpreis dafür). Nein, Sterbenlernen ist den meisten Menschen angeboren, es ist eine natürliche Fähigkeit, die wie so viele andere natürliche Fähigkeiten (urteilen, Kinder erziehen, demütig sein) durch zu viel Erziehung verloren geht: Sie liegt unter einem Berg von Geplapper verschüttet, und darüber ist sicherheitshalber eine dicke Schicht Tabu geklebt (niemand darf sterben wollen. Die Verneinung des absoluten Willens zum Leben ist die moderne Todsünde schlechthin). Das kann man zum Beispiel noch gelegentlich an alten Leuten sehen, wenn sie sich irgendwie einen Rest natürliche Vernunft bewahrt oder sie versehentlich im Alter wiedergefunden haben, wenn das Tabu-Pflaster sich endlich abgelöst hat und das Geplapper nicht mehr gegen die gnädige Schwerhörigkeitkeit durchdringt (Goethe, im Alter in einem Brief an seinen Herzensfreund Zelter: „Ich mag weder hören noch sprechen mehr“). Sie sind oft ganz ok mit dem Sterben. Sie haben das Gefühl, dass sie an der Reihe sind, dass es der natürliche Gang der Dinge ist, und dass sich Jüngere gefälligst nicht vordrängeln sollten! Oft ist es gar nicht nötig, dafür alt und krank zu sein (es hilft aber, weil: Gang der Dinge, und wenn man lange genug gegangen ist in seinem Leben, und vor allem: weit genug, dann wollen die alten Knochen endlich Ruhe!). Sie sind einfach fertig. Sie hatten genug Reifeprüfungen, und nun sind sie sterbensreif. Lebenssatt. Schließlich ist der Tod nicht das Ende aller Dinge; er ist nur das Ende eines persönlichen Weges, der sich – schließt?

Denn dass ein Weg endet und sich gleichzeitig ein Bogen schließt, ist gar nicht eine Frage der Länge des Weges, nein: Ein Leben hat viele mögliche Schlusspunkte, man wäre geneigt zu sagen: unendlich viele, aber mit der Unendlichkeit ist das so eine Sache. Denn einen Schlusspunkt kann man immer setzen, es wäre, es ist, es kann sein: ein wirklicher Akt der Freiheit (geboren werden wir alle unfrei, entgegen einem weiteren verbreiteten philosophischen und politischen Missverständnis). Natürlich tut man dabei einer Lebenslinie einen gewissen Zwang an, biegt sie spontan und abrupt zurück zum Anfang, obwohl sie doch vielleicht ihren Höhepunkt noch gar nicht erreicht hatte. Aber wo sollte er denn sein, der Höhepunkt? Die wenigstens von uns stehen irgendwann auf einem Gipfel, wischen sich den Schweiß von der Stirn und schauen befriedigt umher auf sonnenumglänzte kleinere Gipfel, wo man auch schon mal war! (Die Täler sieht man nicht aus dieser Perspektive, sie sind zu weit weg, oder im Nebel versunken). Vor allem nicht in der Mitte des Lebens, wo die meisten von uns wohl eher mit Dante fühlen: „Als unseres Lebens Mitte ich erklommen, befand ich mich in einem dunklen Wald“. Das kann nun jede ausmalen, wie sie will, und selbst wenn wir es noch nicht fühlen, wird uns das allmächtige Klischee eines Besseren belehren: midlife-crisis hat man zu haben, wie Pubertät oder Altersdepression! Eine Krise ist natürlich häufig ein Wendepunkt, das sagt das Wort schon; aber, was gern dabei vergessen wird: zum Guten oder zum Schlechten, und in so mancher Krankheitskrise steht am Ende der Tod und hebt die siegreiche Faust!

Nein, die Lebenslinien sind ungefähr so beliebig wie statistische Kurven sein können: die Daten ein wenig geschönt, die Parameter ein wenig verschoben, so dass man ein Muster sieht, etwas erkennt, wo vorher nur – Chaos war, ungeordnete Abfolge von Daten und Ereignissen, eben das, was man: Leben nennt. Irgendwann aber könnte man als Mensch, in einer Phase Mittlerer Reife sozusagen, zu der Einsicht kommen, dass es unter diesen Bedingungen möglich ist, einen Schlusspunkt nicht nur am „Ende“ zu setzen: Nur weil alle Romane mit der Hochzeit und viel zu viele Filme mit einem happy end enden, heisst das noch lange nicht, dass das die einzig mög-lichen Lebensschlüsse sind, so ästhetisch befriedigend und herzerwärmend versöhnlich sie auch sein mögen. Nein, die Enden der Literatur sind nur die Muster, nach denen wir unser Leben inzwischen eingerichtet haben; es ist so bequem, mit all den vorgefertigten Stationen und vorgeschriebenen Gefühlen und fertigen Enden, man muss nur noch – nachleben, möglichst vollständig (das Leben ist aber kein All-Inclusive-Paket, auch wenn die Politiker und das allgegenwärtige Marketing daran arbeiten, es so zu verkaufen, sogar mit einklagbaren Grundrechten und einem verbrieften Anspruch auf Lebensglück; es gibt genug Buffets für alle, all you can live jeden Tag, und niemals Bauchweh!). Nein, irgendwann sollte man, kann man, können einzelne (oder viele?) sagen: Nun ist es genug. Aus welchen Gründen auch immer, Begründungen sind auch nur verkleidete Vorwände. Niemand muss den Teller immer aufessen! Das Leben ist keine endlose (unendliche?) bucket list; irgendwann gibt es gar keine Dinge mehr, die ich tun muss, bevor ich sterbe! Mein Leben schließt sich hier. Rundet sich jetzt. Weil ich es will. Von außen kann das sowieso keiner verstehen, und Trauer ist zum größten Teil das Selbstmitleid der Überleben-den.

Das macht sie übrigens weder überflüssig noch verwerflich (alles Mitleid ist im Grunde Selbstmitleid, und der mitleidigste Mensch kann trotzdem der beste bleiben). Aber man kann nicht mitleiden mit Toten. Sie haben fertig gelebt und gelitten, sie haben, und man lasse ihnen: endlich ihre Ruhe. Ruhe in Frieden, das ist der einzig würdige Grabspruch, und er spricht zu den Lebenden mindestens ebenso wie zu den Toten. Aber das lässt den Lebenden natürlich keine Ruhe, im Gegenteil eher: Sie hatte doch noch so viel vor! Sein ganzes (halbes, viertel, etc.) Leben lag doch noch vor ihm! Aber über entgangene Zukunft kann man, sollte man genauso wenig klagen wie über verschüttete Suppe. Uns allen entgehen Zukünfte aller Art, stündlich, minütlich, sekündlich. Es gibt kein Recht auf, keinen Anspruch auf, keinen Schadenersatz für: entgangene Lebenschancen. Verpasste Glücksmomente (von Geburt an verpassen wir Chancen: Todesfurcht ist nur die extremste Form von FOMO).

Natürlich trauern wir trotzdem, und das ist auch ganz richtig so, nämlich: über einen Teil unserer eigenen entgangenen Zukunft, die mit der gestorbenen Person dahin ist, die ein – kleiner oder großer, das ist im Prinzip egal, nicht aber im Empfinden – Teil unseres Wesens war; und genauso über einen Teil unserer entschwindenden Vergangenheit. Mit den Eltern stirbt uns eigene Kindheit (ein ultimatives Trauma, dem nur diejenigen entgehen, die schon vorher ein wenig selbst an diesem speziellen Grab schaufeln: Ruhet in Frieden!). Mit den Geschwistern stirbt die gemeinsame Jugend, die verbliebene Familie, ein Teil des Selbst, der instinktiv vertrauter und näher war, als einem die besten Freunde je kommen konnten (Ruhe in Frieden!). Was mit dem eigenen Kind stirbt, ist jenseits von Worten, ein nicht zu denkender Gedanke, ein bodenloses Grab. Immer jedoch stirbt etwas von uns selbst, selbst bei äußerlich Fernstehenden: eine geteilte Erinnerung und eine ungelebte Zukunftsmöglichkeit, beides in einem, und selten fällt die Zeit so in sich zusammen wie an einem Grab.

Deshalb aber, und der Trost mag so schwach sein wie Trost aus Worten naturgemäß ist, lernt man Sterben im Leben (und nur dort) Man lernt es nicht nur mit den Menschen, die uns verlassen; man lernt es auch mit Tieren, mit Pflanzen, mit Dingen sogar, die Vergangenheit speichern können, Erlebtes, Erfahrenes, Erinnertes, und deshalb kann man auch untröstlich sein über die zerbrochene Lieblingstasse oder den eingegangenen Kaktus: Ruhet in Frieden! Könnte man das irgendwann akzeptieren, wäre Sterben nicht mehr die groteske Singularität, die Fehlkonstruktion im Universum, als die es heute empfunden wird: Es wäre ein gradueller Prozess wie alles Natürliche (nur Berufs-Philosophen sind Schwarz-Weiß-Denker), man könnte es lernen, erst an kleinen, dann an großen Dingen, erst an entfernten, dann an nahen Menschen - und mit der Zeit gewöhnt man sich, es ist wirklich wahr, an jeden Gedanken und sogar an die meisten Gefühle. Und es ist ja noch nicht einmal logisch so, dass der Tod das einzige Unumkehrbare im Leben ist. Es gehört zwar zu den vielen Pseudo-Weisheiten des Alltags (die nicht alle grundfalsch sind, das nicht), dass man aus seinen Fehlern lernen kann, dass man geschehenes Unrecht wieder gut machen kann, dass man verpasste Chancen nachholen kann, ach, all die Wunder und Wunderlichkeiten der menschlichen Freiheit im Kampf gegen die unergründliche Bosheit des Determinismus! Faktisch kann man aber nicht. Die zerbrochene Tasse setzt sich nicht wieder zusammen, das sagt nicht nur der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Das verwundende Wort wird durch die Entschuldigung allenfalls mit einem Pflaster verarztet, die Wunde bleibt und schwärt. Und was man heute hätte besorgen können und auf morgen verschoben hat, wieder einmal, wird man niemals nachholen können, weil: Morgen ist anders. Die Welt ist morgen anders. Jeder Mensch ist morgen anders. Niemand steigt jemals in den gleichen Fluss, den gleichen Tag, den gleichen Seelenzustand. Das Leben besteht aus (unendlich vielen?) verpassten Chancen und sehr, sehr wenig zufällig verwirklichten. Das muss reichen.

Vielleicht wäre es das ideale Ende, wenn alles, woran man jemals sein Herz gehängt hatte, mit starken oder schwachen Fäden, vorausgegangen wäre, in Frieden vorausgegangen ist, und auf uns wartete. Aber vielleicht wäre es das auch nicht, und das perfekte Ende wäre: die Freude auf einen völligen Neubeginn im Nichts, endlich ein Anderer, und nicht – frei, aber gefangen in einem anderen Käfig? Man soll sich den Schluss offenhalten. Wenn man kann.

 

Zuhause


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