Aus der Frühzeit der Menschheitsgeschichte
DIE PARABEL VOM KAFFEE- UND TEELADEN
Viele Menschen fragen sich, warum die Leute heute in so vielen Fragen immer in zwei Hälften zerfallen, die sich beide bis aufs Blut bekriegen; früher, so meinen sie sich zu erinnern, habe man doch noch verschiedener Meinung sein können, ohne sich gegenseitig zu beschimpfen oder gleich zu fordern, allen das Wort zu verbieten, die anderer Meinung seien. Eine Ladenbesitzerin erzählt:
Ganz am Anfang habe ich in meinem Laden Kaffee und Tee verkauft; es war nur ein kleiner Laden, aber manche Menschen trinken halt gern Kaffee und andere lieber Tee – ich selbst bin ja ein Tee- und ein Kaffeefan, es kommt halt auf die Tageszeit an oder die Stimmung, manchmal mag ich lieber einen schönen starken Kaffee, und manchmal einen sanften, beruhigenden Tee. Natürlich hat sich da eine ziemlich wilde Geruchsmischung ergeben, aber ich mochte auch das, und die Leute hat es früher nicht gestört. Viele haben auch gern ein bisschen an den verschiedenen Kaffee- oder Teesorten gerochen, bevor sie sich für einen entschieden haben, man kam ins Gespräch über die Vorzüge und besonderen Eigenschaften bestimmter Sorten, man gab sich Tipps, und viele kamen immer wieder. Aber dann haben als erstes die ganzen Coffee-Shops in der Nachbarschaft aufgemacht; immer wenn ein alter Laden zugemacht hat und es wirklich schon genug Nagelstudios gab, kam ein solcher Coffee-Shop, da gingen all die jungen Leute hin. Sie haben ja auch keine Zeit mehr, so habe ich gehört, um sich einen schönen Tee zu brühen oder gar einen frischen Kaffee zu mahlen, so viel wie sie unterwegs sind und arbeiten müssen und studieren und all diese social media, da ist man ja den ganzen Tag auf dem Sprung! Und viele kauften jetzt natürlich auch ihren Kaffee oder Tee im Internet, da kann man ja alles kaufen; aber dran riechen, das kann man im Internet natürlich nicht.
Aber das wäre schon irgendwie gegangen, viel Geld hat der Laden ja nie verdient, und ein paar Stammkunden sind mir treu geblieben. Was aber schlimm war, das waren die Streitereien. Auf einmal fingen die Leute an sich zu beschweren, dass es hier so durcheinander röche. Man könnte ja seinen Lieblingstee gar nicht richtig riechen. Und überhaupt, Kaffeetrinken sei ja so ungesund; könne man nicht einfach besser nur noch Tee verkaufen, für die richtigen Liebhaber und Genießer, nicht all diese hektischen und immer angespannten Kaffeetrinker? Denen aber gingen, wenn sie nun in den Laden kamen, die Teetrinker auf die Nerven. So ein Kult, stöhnten sie, um ein paar getrocknete Blätter; um alles müssten sie eine Zeremonie machen, das sei doch nun wirklich nicht mehr zeitgemäß; und an der Kasse brauchten sie endlos, bis sie einmal ihr Portemonnaie fänden, das ginge doch wirklich schneller mit der Kreditkarte! Aber nein, Oma muss ihren Tee kaufen, in kleinen Portionen, und mit Kleingeld bezahlen! Ich versuchte ruhig zu bleiben. Was sollte ich schon sagen. Aber es war nicht einfach. Da kamen manchmal diese jungen Familien, wollten den Kindern mal einen richtig altmodischen Laden zeigen, mit Theke und so, wo man Dinge lose kaufen kann, nicht in Dosen oder eingeschweißt in Plastik. Aber dann fragen sie als erstes, ob es das auch in vegan gibt. Und ob die Kräuter im Kräutertee ökonomisch korrekt und zertifiziert angebaut wurden. Beim Kaffee das gleiche. Die Kinder interessiert das alles natürlich überhaupt nicht, vielleicht riechen sie mal aus Neugier an einer Dose, aber dann wollen sie lieber wieder raus und einen Softdrink. Keine Ahnung, ob Cola vegan ist! Interessiert wahrscheinlich keinen.
Und überhaupt, das Internet. Dass mein Laden auch irgendwann auftauchte, mit irgendwelchen Sternen und Bewertungen, war wohl nicht zu vermeiden; wenn die Leute aber bloß nicht so gemeine Sachen schreiben würden! Und da steht es dann, für die Ewigkeit: Ich weiß nicht, ob meine Teesorten vegan sind. Ich verkaufe Tee und Kaffee, obwohl doch so viele wissenschaftliche Studien die gesundheitlichen Gefahren und Risiken des Tee- oder Kaffeegenusses – also je nach Forum, bei denen ist Tee total gefährlich, bei den anderen Kaffee – längst bewiesen hätten! Zu teuer sei ich. Zu wenig Personal, man müsse an der Kasse warten, bis all die Teetrinker sich ausgemährt hatten. Ach, ich schaue gar nicht mehr hin. Ich trinke einen Tee, wenn mir danach ist, und einen Kaffee, wenn mir danach ist. Aber das darf man schon niemanden mehr erzählen heutzutage. Es ist wie eine Art Glaubensbekenntnis geworden: Man ist ein Kaffeetrinker, oder man ist ein Teetrinker. Mit den anderen spricht man nicht mehr, ja, man kann sie im Wortsinne nicht mehr riechen. Es ist ja auch tatsächlich so, dass man sich an Gerüche irgendwie gewöhnen muss; Kinder mögen sowieso meist weder Tee noch Kaffee, weder den Geschmack noch den Geruch. Aber wenn sie dann nur noch einen Geruch kennenlernen, je nachdem, in welche Schublade ihre Eltern fallen – falls sie überhaupt noch diese schlimmen Genussstoffe zu sich nehmen und nicht längst vollabstinent sind! –, dann denken sie eben, es müsse so sein, und das andere ist nicht nur fremd, sondern schlecht und sollte am besten verboten werden.
Ich meine, es ist ja irgendwie überall so. Katzen- und Hundebesitzer zum Beispiel. Natürlich sind das verschiedene Typen, ganz klar, wie alle Vorurteile stimmen auch diese zu einem gar nicht so kleinen Teil, auch wenn es natürlich immer Ausnahmen gibt. Ich selbst mag alle Tiere, und an Katzen mag ich ihre Selbständigkeit und an Hunden ihre Treue, aber eigentlich mag ich vor allem, dass Tiere nicht lügen und man immer weiß, was sie meinen, auch wenn es einem gelegentlich nicht passt. Aber inzwischen gibt es ja oft eine regelrechte Feindschaft zwischen Hunde- und Katzenbesitzern! Die einen werden geradezu hysterisch, wenn sie ein Hundehäufchen auf der Straße sehen und posten es gleich in alle Welt, mit entsprechenden Kommentaren auf den gewissenlosen Sch…-Besitzer dazu; und die anderen drehen hohl, wenn eine Katze mal wieder einen Vogel gerupft oder eine Maus gefangen hat oder ihren Garten umgewühlt. Ist halt Natur, in beiden Fällen, was soll man machen. Aber irgendwann reden die Hundebesitzer nur noch mit Hundebesitzern, auf ihren endlosen Internet-Foren oder in diesen chatrooms oder im Notfall auch auf der Straße beim Gassigehen; und blicken verächtlich herab auf dieses charakterlose und weichliche Katzenbesitzerpack, das genauso schleichend und intrigant und opportunistisch sei wie ihre Tiere. Und die Katzenfreunde akzeptieren nur noch andere Katzenfans, weil man mit denen ja sowieso viel besser reden kann und sie letztlich doch die besseren Menschen sind; Hundebesitzer sind nämlich alle Faschisten und stehen auf Befehl und Gehorsam und die hündische Unterwerfung! Natürlich werden alle Leute, die Haustiere haben, denen immer ähnlicher, das ist schon klar und eigentlich ziemlich lustig; aber wenn man dann sieht, wie sie sich auf der Straße oder im Internet anfauchen oder anknurren, dann ist das oft nicht mehr lustig.
Aber so ist das eben, wenn man immer nur mit den gleichen Leuten umgeht. Ich kenne junge Menschen, die haben die halbe Welt bereist, aber noch nie mit einem Arbeitslosen in der eigenen Stadt gesprochen, na gut, außer beim Fußball vielleicht, aber da wird es ja auch immer schlimmer mit diesen gewalttätigen Fans. Oder Leute mit Kindern und Kinderlose? Zwei Welten! Oder Akademiker, eigentlich reden Akademiker immer nur mit Akademikern, mit den sogenannten Intellektuellen ist es am schlimmsten; da kommt der Normalmensch gar nicht mehr vor, oder nur noch als Rückstandsprodukt, Spießer sagen sie dann, Himmel nein, die einzigen, die noch glauben, es gäbe Spießer, sind deren Verächter. Aber auf irgendetwas muss der Mensch wohl herabsehen. Da brauchen wir mit politischen Parteien gar nicht anzufangen, manchmal habe ich sogar den Verdacht, unsere Parteien sind inzwischen toleranter als die Menschen so in ihrem Alltag; natürlich gibt es auch in der Politik diese extremen Positionen, aber wenigstens weiß man das, es heißt ja Partei, und da erwartet man nicht direkt Vernunft und Offenheit. Aber beim Kaffee- oder Teetrinken, da hört die Toleranz wirklich auf! Schnupperkurse müsste man machen, damit die Leute wieder wissen, wie das Leben riecht, in all seinen Varianten. Aber es ist ja so viel einfacher, die Nase zu rümpfen!
DIE PARABEL VOM SCHUHMACHER
Viele Menschen fragen sich heutzutage, warum es eigentlich keine guten Schuhe mehr gibt. Die Experten sind sich uneinig und geben viele verschiedene Antworten auf diese eigentlich so einfache Frage. Aber einige wenige, keine Fachleute, sondern ganz normale Leute können sich noch erinnern an eine Zeit, in der es die wunderbarsten Schuhe gab: Sie saßen perfekt am Fuß, man lief in ihnen wie auf Wolken, sie hielten ewig und kosteten gar nicht viel Geld. Besonders ein Schuhmacher war ihnen in Erinnerung geblieben; und wenn sie ihn beschrieben, seine gebückte Haltung, seinen versonnenen Blick, immer etwas nach unten gerichtet, seine Werkstatt mit all den Leisten, sauber geordnet, wie eine Bibliothek, dann wird ihre Stimme weich wie ein sanftes Leder, und sie sprechen in Sätzen, die dahinschweben wie gleichmäßige Schritte auf einem weichen Waldboden.
Der alte Schuhmacher, so nennen wir ihn einfach – der Name tut nichts zur Sache, er selbst hatte sich nie besonders wichtig genommen – wollte sein Leben lang nur eines: Schuhe machen. Schon als Kind hatte er für seine Schwestern Puppenschuhe aus Stofffetzen genäht (zu dieser Zeit durften die Mädchen noch mit Puppen spielen), festliche mit Schleifen für die großen Puppendamen mit den seidigen blonden Locken und bunte, anschmiegsame für die kleineren Puppenkinder. Wenn er zur Schule ging (damals gingen die Kinder noch zu Fuß zur Schule), schaute er nicht auf die Autos und oder in die Wolken, sondern auf die Füße der Passanten: Er wollte wissen, welche Schuhe die Leute trugen, auf der Straße, in ihren Wohnungen, beim Arbeiten oder beim Feiern – wie sahen sie aus, wie gingen die Leute in ihnen, wie veränderten sie ihre Haltung und ihre Bewegungen? Er las Schuhe wie andere Leute Gesichter oder Bücher; er las die Geschichten ihrer Besitzer in ihnen, ihre Leiden und Freuden, ihre Krankheiten und Sehnsüchte, manchmal sogar ihre Zukunft. Natürlich ging er bei den besten Meistern in die Lehre; er schaute ihnen unermüdlich bei der Arbeit zu und lernte ihnen alle ihre Handgriffe und Tricks ab. Er kopierte geduldig klassische Modelle, seine ersten eigenen Modelle verwarf er bald wieder – sie waren ihm nicht gut genug, zu unreif, zu verspielt, zu jugendlich eben. Und erst als er sich reif fühlte, einen guten, soliden Schuh zu machen, ohne Schnickschnack und handwerkliche Fehler, eröffnete er seine eigene Werkstatt.
Am Anfang wollte er vor allem nützliche Schuhe machen: Schuhe, die schützen vor hartem Untergrund, Dornen und Stacheln, kleinen tückischen Kieselsteinen, fußbrecherischem Stolpersteinen (damals gab es noch Kopfsteinpflaster). Sie sollten die Füße warmhalten, aber nicht zu warm; sie sollten Schweißfüße atmen lassen und kalte Frauenfüße besser mit Blut versorgen; sie sollten Kinderfüße das Gehen lehren und alten Füßen behutsam den Weg zum Ende aller Dinge bahnen. Strapazierfähig sollten sie sein, ob auf Feld-, Wald- und Wiesenwegen oder im Stadtverkehr, aber bezahlbar bleiben; jeder sollte sie sich leisten können, und wenn er sah, dass jemand diesen Schuh und keinen anderen brauchte, um sein Leben zu verändern, aber kein Geld dafür hatte, dann gab er ihm den Schuh eben umsonst. Natürlich brauchten seine Schuhe Pflege, alles Gute auf der Welt braucht Pflege; aber wenn man sich ein wenig Mühe gab, alterten sie in Würde und bekamen schöne Falten wie eine lebenskluge alte Frau.
Denn je besser er sein Handwerk er beherrschte, desto wichtiger wurde es dem Schumacher nun, nicht nur nützliche, sondern auch schöne Schuhe zu machen. Er achtete auf die Auswahl der besten Materialien und verarbeitete sie mit aller Feinheit und Sorgfalt, der er fähig war; oft dauerte es Monate, bis er mit einem Modell zufrieden war. Er experimentierte mit verschiedenen Formen, Verzierungen, Zuschnitten – aber es war ihm wichtig, dabei nicht zu übertreiben; es sollten Schuhe bleiben und keine Prachtkutschen für die Füße werden, die die Aufmerksamkeit nur ablenken und den Geist verwirren. Um einen wirklich passenden, nützlichen und schönen Schuh machen zu können, konnte man seine Kunden nicht über einen Leisten schlagen. Man musste mit ihnen sprechen, sie beim Gehen beobachten, ihre Füße befühlen, von der Sohle aufwärts bis zu den Zehenspitzen, bis man seine ganz einzigartige Form mit geschlossenen Augen kannte. Passte ein Schuh jedoch am Ende, passte er perfekt, so war er eine Erleuchtung für seinen Träger: Mit jedem Schritt lernte er etwas über sich selbst, über den Gang der Dinge und den Gang der Welt, über den Zusammenhang von Gehen und Denken; die Schuhe verbanden ihn mit dem Boden unter seinen Füßen, er spürte die lebendige Erde unter sich beben und war ein Teil von ihr.
Derweil boomte um den Schuhmacher herum der Schuhmarkt; die Moden wurden immer ausgefallener und wechselten immer schneller. Andere Schuhmacher wurden reich von Damenmodellen mit immer höheren, gefährlich spitzen High Heels, die Frauen zu bewegungsunfähigen Puppen machten, die nur noch dekorativ auf Partys stehen konnten (nicht mal die Puppen hatte er damals so gefoltert); mit Spangen- und Schnallenschuhen, die Männer zu eitlen Gecken machten; mit Flipflops, die eine Lässigkeit und Jugendlichkeit vortäuschten, die ihre Träger längst verloren hatten. Es gab Spezialschuhe für alles und jedes, ob man sie brauchte oder nicht; es gab Markenschuhe, die verkauften vor allem ein Image von Originalität, Geschmack und Reichtum, und eigentlich wollte man sie gar nicht tragen, weil sie zu kostbar aussahen. Der Schuhmacher jedoch ging nicht mit der Mode; und originell wollte er schon gar nicht sein. Unverwechselbar war er sowieso, und wer jemals einen seiner Schuhe getragen hatte, wach und mit dem richtigen Bewusstsein getragen hatte, der wollte niemals mehr einen modischen Markenschuh tragen. Seine Modelle wuchsen mit den Jahren immer noch mehr an Wissen und Erfahrung, genau wie er selbst: Er kannte alle Materialien von innen, er dachte in verschiedenen Ledern und Naturfasern; ein Schnürschuh war eine Philosophie, ein Slipper eine andere, sogar ein simpler Pantoffel konnte eine Welterfahrung sein. Er erfand auch keine neuen Formen mehr, weil er der Meinung war, dass die Menschheit nur einer begrenzten Anzahl von natürlichen Formen fähig war; alles andere war künstlich und ausgedacht, nicht lebenstauglich, ein Gag nur für eine Saison und ein Rezept für kaputte Füße und kaputte Seelen. Am Ende hinterließ er eine Werkstatt, die keinen Nachfolger fand, und ein Volk dankbarer Kunden, von denen einige ihn nie vergaßen und für einen wahrhaft weisen Mann hielten.
Schon kurz nach seinem Tod jedoch wurde er berühmt, und die Schuhforschung, die Calciamentologie, begann sein Werk zu analysieren. Zuerst stürzten sich die Wissenschaftler auf sein Leben und gruben alles aus, was nur über ihn zu wissen war: sein Elternhaus, seine Herkunft, seine Kindheit und Jugend, seine Ausbildungszeit, die verschiedenen Werkstätten und Reisen, seine Vorbilder und die sogenannten „Einflüsse“ auf ihn. Am Ende war mehr über ihn geschrieben worden, als er über sich selbst hätte sagen können, und es stimmte ja auch irgendwie: Seine Person und sein ganzes Leben waren in jeden seiner Schuhe eingegangen, hatten an ihnen geformt und gearbeitet; aber Leben und Werk waren dabei so untrennbar verschmolzen wie eine gute Sohle mit dem Schaft, und man konnte aus dem einen nicht einfach das andere ablösen. Hätte er mit ihnen sprechen können, es ihnen erklären können, vielleicht hätten sie seine Schuhe wirklich verstanden – aber dafür war es nun zu spät.
Schon die nächste Forschergeneration kritisierte ihre Vorgänger von Grund auf: Auf diese vereinfachende Art und Weise würde man der komplexen Formgebung seines schuhmacherischen Werks ganz gewiss nicht gerecht, sagten sie, seinem geistigen, immateriellen Gehalt. Nun wurden die Leisten analysiert, die Formensprache in ihrer Beziehung zur zeitgenössischen Architektur, Dichtung und Musik; es wurden Epochen seines Schaffens voneinander abgegrenzt, es entstanden Lehrbücher, die seine frühe von seiner reifen und seiner späten Phase unterschieden und eifrigen Schülern die jeweiligen Merkmale eintrichterten. Kunstwerke seien diese Schuhe, sagten diese Wissenschaftler; man würde sie beleidigen, wenn man sie auf ihren einfachen Zweck als Schuhwerk reduzierte, sie trügen ihren Zweck in sich selbst und hätten ihre eigenen Gesetze – das sei eben die ‚Autonomie des Schuhes‘! Wie man jedoch einen Schuh, einfach so, als Zweck in sich selbst, hätte fertigen können, blieb etwas unklar, und der Schuhmacher hätte sich sicherlich schwer getan mit dieser Vorstellung: Denn die Form des Schuhs ergab sich ja erst aus seinem besonderen Zweck, wie sollte man denn einen Leisten für ein Phantasma fertigen? Unter seinen Kunden waren viele Künstler gewesen, die gern mit ihm sprachen, auch über ihre Arbeit; und keiner von ihnen hatte jemals ein ‚Kunstwerk‘ einfach so machen wollen, ohne Zweck und Nutzen. Sie hatten die unterschiedlichsten Gründe, sie wollten Geld verdienen, die Leute unterhalten, aufklären oder belehren, sie wollten ihre Erfahrungen mitteilen, sie hatten Spaß daran, etwas zu machen; es waren Arbeiter, wie er, die guten unter ihnen hatten ihre Kunst lange und gründlich studiert und geübt, und ihre Werke lebten wie seine Schuhe, es waren keine reinen Konstrukte, Fiktionen, bunt schillernde Seifenblasen oder Schäume! Nur diejenigen, die es nie zu etwas gebracht hatten in einer Kunst oder einem Handwerk, die sprachen immer davon, dass es ja nicht auf das Handwerk oder die Intention oder gar einen Zweck ankomme, sondern auf den Geist (von dem sie dann sehr viel sprachen)! Wenn ein Schuh aber keinen Nutzen mehr hatte, sondern nur noch ein Zeugnis des Geistes seines Schöpfers war – dann konnte man auch gleich Handschuhe zu Schuhen erklären. Oder Holzbretter, es war eigentlich egal. Man durfte sich dann aber auch nicht wundern, wenn keiner in diesen ‚fiktiven‘ Schuhen laufen wollte.
Aber auch das ging vorbei, und wieder kam eine neue Forschergeneration gelaufen, um den Schuh neu zu erfinden. Ihren Vorgängern warfen sie Vernachlässigung der sozialen Kontexte, der Macht- und Herrschaftsstrukturen, der Emanzipation der Frau, der Aufklärung der Massen und der Vorbereitung der Revolution vor; sie befragten stattdessen die ‚Nutzer‘ der Schuhe, wie sie sie nannten, sammelten Daten, legten Tabellen an und lasen aus einzelnen Modellen ganze Gesellschaftsanalysen. ‚Gesellschaft‘ war auch eines dieser Worte gewesen, die der Schuhmacher nie genau verstanden hatte, waren das nun die Leute alle zusammen, und waren sie alle zusammen irgendwie anders als einzeln? Und warum musste die Gesellschaft immer kritisiert werden, wenn es doch nur alle Leute zusammen waren, dann hätten sie sich doch einfach jeder für sich ändern können, und die Gesellschaft wäre dadurch insgesamt besser geworden? Andere ‚Schulen‘ von Wissenschaftlern, wie man das jetzt nannte, interessierten sich mehr für das Innenleben der „Nutzer“ und nicht ihr Grundeinkommen oder ihre Schulausbildung. Sie stellten das Freudsche Triebmodell vom Kopf auf die Füße und fanden den Penisneid in hohen Lederstiefeln, den Ödipuskomplex in Flauschpantoffeln und das Über-Ich in allen Arten von Schnürschuhen überhaupt. Natürlich waren seine Schuhe Persönlichkeitsmodelle, da hätte der Schuhmacher sicher zugestimmt; aber so einfach hatte er die Leute nie verstanden, und dass auf einmal alles mit Sex zu tun haben sollte, schien ihm eher mit den Interessen der Forscher und ihrer Neigung zu möglichst sensationellen Theorien als den alltäglichen Erfahrungen eines Fußgängers zu tun zu haben.
So entfernte sich die Calciamentologie schrittweise immer mehr und mehr von seinen Schuhen. Für die einen war die Schuhmacherei nur noch ein ‚Symbol‘ (für was auch immer, das war ein bisschen beliebig, man nannte es ‚Postmoderne‘), für die anderen ein ‚System‘ und für die dritten ein ‚Diskurs‘. Es ging jedoch nicht mehr um einzelne Schuhe, um sein unverwechselbares Werk, seine persönliche handwerkliche Leistung; einige behaupteten sogar, es sei gar nicht er gewesen, der in liebevoller Handarbeit und mit seiner ganzen Lebenserfahrung jeden einzelnen Schuh geformt hatte, sondern er sei nur ein Medium für diese ‚Diskurse‘, die durch ihn hindurch auf mysteriöse Weise Schuhe produzierten, die keinen Hersteller mehr hatten, keinen Zweck und auch nicht weiter von Bedeutung waren, außer dass sie gelegentlich als Beispiele für immer wildere Thesen herangezogen wurden (meistens stimmt dann noch nicht mal die einfache Beschreibung von Material und Form). Wieder andere machten die Schuhmacher generell nun für alles verantwortlich: Ihre Werke waren ein Mahnmal kolonialistischer Ausbeutung oder ein ökologischer Sündenfall: Woher kam das Leder? War es ökologisch korrekt? Erinnerte das Design einiger Sandalen nicht an das Schuhwerk römischer Senatoren, dieser Ausbeuter und Kolonialherren? Waren Stiefel nicht vorzugweise an den Füßen derer zu finden, die die Menschenrechte schon immer mit Füßen getreten hatte? Warum hatten die Schuhmacher die Füße nicht endlich befreit von allen ethnischen oder kulturellen Stereotypen und vor allem von vorgeformten Geschlechterrollen? Tatsächlich hatte der Schuhmacher Damen- und Herrenschuhe gefertigt, ohne je darüber nachzudenken; die Füße von Frauen waren einfach anders als die von Männern, die Bewegungen unterschiedlich, und infolge dessen natürlich auch das Denken – das wusste jeder Schuhmacher, das hatte noch nicht einmal etwas mit Mode oder Geschmack zu tun. Nie wäre dem alten Schuhmacher das alles in den Kopf gekommen. Er hatte Schuhe gemacht für Menschen, nicht für oder gegen Ideologien und Systeme.
Am Ende aber triumphierte die Wissenschaft: Sie hatte sich selbst schließlich ganz autonom gemacht, ganz so, so wie sie es immer von den Kunstwerken oder den Schuhen behauptet hatte; sie diente keinem Zweck mehr, sie war nützlich für niemand, sie befasste sich nicht mit konkreten Gegenständen, sondern verfasste Theorien über Theorien über Theorien. Auf Tagungen in aller Welt traf sich die erlesene Elite von Calciamentologen und sprach von ‚Meta-Schuhen‘ oder von der ‚Hybridisierung des Schuh-Diskurses‘. Meistens trugen die Wissenschaftler dabei schlechte Schuhe; Schuhe, wie sie die Mode gerade diktierte, bizarre Monumente der Originalität ihrer Designer, mit den auffälligen Labels großer Marken – und allein, dass man sie an den Füssen trug, wies ihren Träger als modisch auf der Höhe der Zeit fußenden Denker aus. Natürlich drückten sie. Natürlich konnte man in ihnen nicht laufen, schon gar nicht in der Natur, aber die Wissenschaftler liefen auch nicht, und die Tagungsräume waren mit weichen Kunstfaserteppichen ausgestattet. Natürlich deformierten sie die Füße so, dass der ganze Mensch deformiert wurde: von den Füßen aufsteigend über die weichen Knie und das schwache Becken über den untrainierten, zum Buckel tendierenden Rücken bis in den stets stolz erhobenen Kopf machten sie die Gedanken quer und schmerzhaft. Das merkte man an all ihren Theorien, die immer nur das Außerordentliche, Exzentrische, Schwerverständliche verkündeten, nie das Geläufige, Einsichtige oder Nützliche. Schuhmacher wie er waren niedere Handwerker für diese Calciamentologen, vorurteilsbehaftet, anachronistischen Traditionen anhängend, von begrenzter Ein- und Weitsicht in die das Wesen der Moderne; gerade nicht passen sollte er, der moderne Schuh, nur so entsprach er dem modernen Menschen in seiner Zerrissenheit, Verlorenheit, Widersprüchlichkeit! In seinen schwachen Stunden, wenn die Arbeit hart war und die Anerkennung rar und die Straßen voller entsetzlich widernatürlicher Schuhmodelle, hätte der Schuhmacher ihnen Blasen an die Füße gewünscht. Reale Blasen, keine fiktiven oder symbolischen. Jede Menge. Samt Fußpilz!
Derweil wurden die Schuhe draußen auf den Straßen immer schlechter. Die neuen Generationen von Schuhmachern wollten, verblendet von all dem Gerede über Meta-Schuhe und das Passende des Unpassenden als wahrer Ausweis von Modernität, kein Handwerk mehr lernen, sie wollten einfach möglichst schnell Erfolg haben und reich werden – und das funktionierte auch ganz gut, da es ja viel einfacher war, zerrissene, widersprüchliche, unpassende und ‚originelle‘ Schuhe zu machen anstelle von guten, haltbaren, persönlichen und passenden. Man benötigte auch keine Lebenserfahrung mehr, Menschenkenntnis schon gar nicht, sondern nur noch ein gutes Marketing, das den Schuhen ein Image verpasste – und in der nächsten Saison mussten dann sowieso neue her, weil nicht nur das Leder kaputt war, sondern auch das Image ausgetauscht werden musste. Es konnte auch schon lange niemand mehr einen Schuh reparieren, das sorgsam gepflegte Werkzeug des Schuhmachers samt der Leisten-Bibliothek hatte ein Schuhmuseum angekauft (aber eigentlich ging zu dieser Zeit schon lange niemand mehr in Museen, es gab ja das Internet). Zukunftsforscher priesen bereits den digitalen Schuh für jeden, selbst entworfen, frisch aus dem 3-D-Drucker; er sei zuhause im Internet der Dinge, habe ein integriertes Navi, Schrittzähler und Kamera gleich dabei, und wenn man wollte, könne man sich dreimal am Tag neue Schuhe drucken. Sogar ein Calciamentologe hätte sich damit einen Schuh machen können. Aber eigentlich interessierten die sich gar nicht für Schuhe, sondern nur für ihren eigenen wissenschaftlichen Aufstieg, und der fand auf Papier und im Kopf statt, nicht auf steinigen Wegen.
Und so kam es schließlich, dass es heute keine guten Schuhe mehr gibt. Natürlich, in einigen Spezialkatalogen, wo man die Klassiker wieder ausgekramt hat, werden jetzt die Schuhe des alten Schuhmachers repliziert und für sehr viel Geld an eine ausgewählte Kundschaft verkauft (Podofactum heißt die Marke). Aber es ist mehr Nostalgie als wahre Anerkennung dabei; denn so, wie keiner mehr weiß, wie man gute Schuhe macht, wird auch bald keiner mehr wissen, wie sich gute Schuhe anfühlen, wie man sich in ihnen bewegt, den Boden spürt und das Vergehen der Zeit, wie man sich selbst kennen lernen kann beim Gehen, und wie man sich verändert im Laufe der Zeit. Und vielleicht ist die Zeit tatsächlich über gute Schuhe hinweg gegangen wie über so vieles, was man eine kurze Zeit vermisst, bevor man es dann vergisst. Und man könnte sogar fragen: Sind Schuhe denn wirklich lebensnotwendig? Man kann schließlich auch barfuß gehen; Schuhe sind ein Luxus, die Urmenschen hatten so wenig Schuhe wie sie Literatur oder Theater, eine Toilettenspülung und eine Waschmaschine, Autos oder Flugzeuge hatten. Denn natürlich sind Schuhe nicht überlebensnotwendig oder gar ‚systemrelevant‘; für Tiere oder Engel jedenfalls ganz sicher nicht. Aber es könnte sein, dass sie notwendig sind für Menschen – so hätte es der Schuhmacher vielleicht gesagt in seinen philosophischeren Stunden: für Menschen, die es so schwer haben auf dieser Welt, die nicht für sie gemacht ist, auch wenn sie immer verzweifelter das Gegenteil behaupten; notwendig für ihre empfindlichen Füße und Seelen und ihr Bedürfnis, die Welt zu verstehen, in dem sie mit ihr – umgehen und sie nicht nur umschreiben.
Viele Menschen fragen sich, warum es heute eigentlich keine natürlichen Gärten mehr gibt. Nur einige wenige erinnern sich noch, dass die Gärten früher ganz anders aussahen. Ein alter Gärtner erzählt:
Früher gab es viele Gärten, vor allem auf dem Land, aber auch in der Stadt, und sie waren alle ganz unterschiedlich. In einigen wurde Gemüse gezogen, und wenn sich leuchtend rote Tomaten zwischen dem bunten Mangold emporreckten, der frische grüne Kopfsalat vom dichten Möhrengrün beschattet wurde und Kräuter aller Arten quer durchs Beet wucherten, war das ein Bild, bei dem Herz, Auge und Magen lachten. In anderen Gärten wuchsen mehr Stauden und Blumen, von den ersten Krokussen im Vorfrühling über den duftenden Flieder und die prächtigen Rosen im Sommer bis hin zu den Chrysanthemen im Herbst blühte immer etwas, und Scharen von Schmetterlingen und Bienen drängten sich um die wogenden Lavendelbüsche. Es gab Bauerngärten und Vorgärten, Balkongärten und Schrebergärten, Ziergärten und Nutzgärten – sie alle passten in ihre Umgebung, sie spiegelten das Wetter und die Bodenverhältnisse, die Geschichten und Traditionen der Landschaft und gaben Zeugnis vom Charakter ihrer Gärtner und Gärtnerinnen. Natürlich machte jeder Garten viel Arbeit: Der Rasen musste regelmäßig gemäht werden, das Schneider der Hecken und Sträucher und das Unkrautjäten waren anstrengend, das Erntegut wollte verarbeitet werden und die Werkzeuge instandgehalten. Nicht alles gelang, was ein eifriger Gärtner sich vornahm; manches Jahr meinte man in Erdbeeren und Äpfeln zu ersticken, aber schon im nächsten nahm ein früher Frost die Blüten, und es wuchsen nur einzelne, kümmerliche Früchtchen. Aber die Leute murrten nicht übermäßig, auch wenn die Sonne beim Unkrautjäten im Nacken brannte oder der Regen die Schnecken schneller als die Radieschen wachsen ließ. Ein Garten war eben wie das Leben, Müh und Arbeit und dazwischen ein kleines Glück – aus allem konnte man lernen und sich vornehmen, es das nächste Mal ein wenig besser zu machen. Abends traf man sich dann, oder vielleicht schon zu einem Kaffee am Nachmittag in der Laube, und während die Blicke über den Garten schweiften, erzählte man von diesem und jenem; war es wirklich schon wieder Zeit für die Beerenernte? Wuchsen die Stangenbohnen dieses Jahr nicht besonders prächtig? Hatten die Kartoffelkäfer wieder alles aufgefressen? Schon die Kinder mussten mit anpacken und bekamen kleine Beete oder Töpfe, in die sorgsam Samenkörner gepflanzt wurden, damit sie sehen konnten, wie alles wächst und sich entwickelt und wieder vergeht – oder auch einmal misslingt, denn nicht jeder Same geht auf, und manche Blume knickt der Sturm schon vor der Blüte. Natürlich gab es auch Gärten, die vernachlässigt wurden und verwilderten, sagte der Gärtner, das gehörte zum Lauf der Natur, und das zeugte ebenso vom Charakter des Gärtners. Aber wer in einem blühenden Garten groß wurde, vergaß es nie und sorgte dafür, dass seine eigenen Kinder wieder ein kleines Beet bekamen.
Als es den Leuten jedoch nach und nach immer besser ging und sie alles schon im Überfluss hatten, wollte auf einmal auch jeder einen eigenen Garten haben. Es sei ein menschliches Grundrecht, so sagten die Leute nun, nicht ein Privileg von einigen Besserverdienenden und Glückspilzen, die zufällig von den Eltern einen Garten geerbt hatten oder auf dem Lande lebten, wo es ein moderner Mensch sowieso nicht aushalten könne. Jeder solle sich an einem eigenen Stück Natur erfreuen können, das gehöre zur individuellen Selbstverwirklichung und zur gesellschaftlichen Partizipation, auf die alle einen Anspruch hätten. Deshalb wurden Gesetze erlassen, die jedem ein Stück Garten zumaßen. Natürlich war dafür nicht genug Platz in den Städten. Man musste Gärten überall anlegen: auf den Dächern, in kleinen Erkern, ja sogar in künstlich erleuchteten tageslichthellen Kellern; auf schmalen Streifen zwischen den Mietshäusern oder auf den Inseln in der Mitte großer Kreuzungen. Allerdings waren die Wachstumsbedingungen an diesen Orten nicht besonders gut. Es gab wenig Schatten, und die Sonne brannte in den Zeiten der beginnenden Klimakatastrophe immer länger und stärker vom Himmel; das Wasser musste über lange Strecken und komplizierte Leitungssysteme herbeigeschafft werden. Aber die Industrie stellte sich bald auf die neue Situation ein und produzierte gentechnisch veränderte Pflanzen, die praktisch überall wachsen und gegen alle bekannten Schädlinge und Krankheiten immun sein sollten. Eine Fülle von Spezialdüngern und Zusatzstoffen begann den Markt zu überwuchern, Ratgeber und Fachzeitschriften wurden zu Tausenden veröffentlicht, und im Internet konnte man zu jedem Problem in Sekundenschnelle eine Antwort finden; meist waren es aber eher hundert Antworten, sagte der Gärtner, und das half einem auch nicht weiter.
All die begeisterten neuen Gärtnerinnen und Gärtner merkten trotzdem schnell, dass so ein Garten Arbeit machte, selbst wenn er ganz klein war und auch bei der allerbesten Planung und technischen Unterstützung. Die Natur ließ sich den Gärten einfach nicht recht austreiben, und gegen das Unkraut, das sich gegen die gewieftesten gentechnischen Attacken immer wieder durchsetzte, war immer noch kein Kraut gewachsen. Deshalb verlangten die Leute nun mehr Zeit für ihre Gärten; sie wollten nicht mehr so viel arbeiten, sie wollten sich ganz der Pflege ihres kleinen Stückes Natur widmen, das ganz auf sie angewiesen war und in dem sie sich nun endlich völlig verwirklichen wollten. Schließlich leisteten sie, so argumentierten sie, damit doch eine wertvolle Arbeit für die ganze Gesellschaft; sie sorgten für Wachstum, für Vermehrung, für den Erhalt von vom Aussterben bedrohten Pflanzen- und Tiergattungen, für bessere Luft und eine schönere Umgebung, ja letztendlich für das Überleben der Menschheit! Dafür müssten sie aber auch entschädigt werden, weil sie nun nicht mehr so schnell Karriere machen könnten und weniger Geld verdienten und deshalb ungerechterweise weniger kaufen und konsumieren konnten; man würde ja sonst gerade und ausgerechnet die Gartenbesitzer von der vollen gesellschaftlichen Partizipation ausschließen!
Bald wurden eigene Parteien gegründet, die diese Position unterstützten und dafür sorgten, dass besonders alleinpflegende Gärtnerinnen (und Gärtner, meistens waren es aber Frauen) staatliche Unterstützung und Steuererleichterungen bekamen. Überall wurden Rabatte und Gutscheine für Garten-Center verteilt, und es gab kostenfreie Fortbildungskurse über alle Themen und Fragen der Gartenanlage und -pflege. Natürlich stritten sich die Spezialisten in den Kursen selbst über die allergrundlegendsten Fragen – aber das war schließlich überall so und regte schon bald keinen mehr auf; man verließ sich halt auf den Experten, der gerade da war und am lautesten schrie, und dachte nicht weiter darüber nach. All das musste jedoch bezahlt werden. Der Staat verschuldete sich halt einfach noch ein bisschen mehr, sagte der Gärtner, und viele Wirtschaftsexperten hielten das sogar für eine gute Idee; komischerweise waren sie sich darüber einig, aber wahrscheinlich fürchteten sie, sie würden sich selbst abschaffen, wenn sie der Natur einfach ihren Lauf ließen.
So kam es, dass die neuen Gärtner alles nur noch aus Büchern und Fernseh-Dokumentationen und dem Internet lernten. Sie wussten nicht mehr, welche Pflanze welchen Boden bevorzugte; man bestellte sowieso ein Spezialpräparat im Internet, und das funktionierte eben oder nicht. Sie hatten kein Gespür für den Ablauf der Jahreszeit und die Veränderungen des Klimas – im Keller war es immer tageslichthell, und auf den Dächern über den Städten hatte sich ein wenig wachstumsfreundliches Spezialklima entwickelt. Sie kannten keine Blume mehr beim Namen, nicht einmal die Stiefmütterchen; Rosen gerade noch, denn die kauften sie zu dumping-Preisen aus dem fernen Ausland und fanden sie ‚romantisch‘. Sie hätten eine Erbsenpflanze nicht erkannt, selbst wenn sie ihnen um die Beine gewachsen wäre mit ihren dünnen Ärmchen, sagte der Gärtner; Erbsen kamen für sie aus der Dose oder aus der Tiefkühltruhe, aber eigentlich kochte sowieso kaum noch jemand selbst, und ganz gewiss kein altmodisches Gemüse wie Kohlrabi oder Steckrüben (außer den Gourmet-Restaurants natürlich). Nein, die neuen Gärten waren Phantasieprodukte aus Gartenkatalogen oder Internetforen; sie kamen vorgestanzt, mit Pflanzschablonen und durch Züchtung bizarr veredelten Sorten; und sie wandelten sich nicht mehr mit der Jahreszeit, sondern mit der Mode. Wo eben noch asiatische Steingärten meditative Ruhe ausstrahlten, sprießten bald darauf englische Parks in Miniaturausführung, samt Ruine; wo gerade noch ein streng symmetrisches Barock-Parterre seine geometrischen Linien zog, blühte nun ein Bauerngarten im schönsten Durcheinander.
Natürlich wollten alle für ihren Garten nur das Beste; er sollte ganz auf der Höhe der Zeit sein, die neueste Technik haben wie dem neuesten style entsprechen. Deshalb engagierte man, wenn man es sich leisten konnte, hochbezahlte Spezialisten, und wenn man genug Geld hatte, konnte man mit dem tollsten Designer-Garten prahlen, ohne jemals eine Gießkanne in die Hand genommen oder einen Löwenzahn ausgerupft zu haben. Doch auch Gartenbesitzer mit wenig Geld wollten bald Gartensitter mieten. Ein Garten brauchte schließlich Pflege auch bei Geschäftsreisen oder Urlauben oder Krankheiten, sagten sie, und natürlich gab es bald auch dafür eine staatliche Unterstützung. Ganze neue Dienstleistungsbranchen gründeten sich, die nur noch mit der Anlage, Pflege und Betreuung der Gärten anderer Leute beschäftigt waren. Das hatte auch den Vorteil, dass sich niemand mehr für all die Fehlplanungen und Misserfolge in seinem eigenen Garten verantwortlich fühlen musste; jeder konnte doch sehen, dass selbst die Spezialisten oft nicht weiterwussten! Es war halt wie immer im Leben: Mit Geld konnte man vieles richten, aber nicht alles, und was war schon ein einzelner Mensch gegen die Tücken der Natur? Auf die Idee, einmal selbst anzupacken und dabei auf die Natur zu hören, kamen sie nie, sagte der alte Gärtner.
So wurde der ersehnte Garten, trotz all der gesellschaftlichen und finanziellen Unterstützung und trotz all des Expertenwissens, für viele immer mehr zu einem chronischen Problem statt dem erhofften Segen. Entgegen der Versprechungen der Gentechnik, man habe bald alle Schädlinge und Krankheiten endgültig besiegt, traten immer neue, resistente Schädlinge und Krankheiten auf; zu ihrer Bekämpfung brauchte man immer stärkere, giftigere chemische Substanzen. Die immer knapper werdenden Böden waren bald überdüngt, das Trinkwasser immer stärker belastet. Zwar kamen jeden Tag neue Züchtungen auf den Markt, aber viele der neuen Gemüse- oder Obstsorten sahen nur noch prächtig aus; die Bienen kannten sie nicht einmal. Viele Leute verloren deshalb irgendwann die Lust an ihren Gärten. Sie konnten sie nicht einfach verkaufen, schließlich hatten sie staatliche Unterstützung dafür bezogen und ihren ganzen Lebensinhalt darauf konzentriert. Aber es hatte nicht so funktioniert, wie sie es sich in ihren Träumen ausgemalt hatten und wie es ihnen in den Medien und von den Politikern versprochen worden war; es war eine Arbeit ohne Ende gewesen, vieles war fehlgeschlagen und sogar das, was gelungen war, hatte am Ende ein eigenes Leben gewonnen und stand fremd vor einem. So vernachlässigten sie ihre Gärten, bis sie schließlich wieder ganz verwildert waren – das ging schnell, viel schneller als all die mühsame Kultivierung zuvor, die Natur kam einfach zurück und nahm sich, was ihr gehörte. Und so, wie niemand mehr die alten Leute pflegen wollte, von denen es jetzt so viele gab, seit sich die Lebenserwartung mit Hilfe der Medizintechnik so drastisch verlängert hatte, so wollte auch keiner die alten Gärten übernehmen und pflegen. Die jungen Leute waren eine ganz andere Generation und bevorzugten den mobilen Garten, garden-sharing, community gardening oder gleich ganz virtuelle Gärten.
Das führte schließlich dazu, dass die natürlichen Gärten mehr und mehr durch völlig künstliche Gärten ersetzt wurden. Wozu sich noch mit Schädlingen ärgern, wenn ein 3-D-Drucker die schönsten Orchideen und pralle Ananas auf Knopfdruck produziert? Wozu sich die Hände mit Unkrautzupfen schmutzig machen, wenn ein dreidimensionales Hologramm den perfekten Garten vorspiegelt? Wozu sollte man sich überhaupt verpflichten, für etwas zu sorgen, und zwar nicht nur heute und morgen, sondern auf eine unbestimmte Dauer, wo doch die Zukunft der Menschheit sowieso immer fraglicher erschien angesichts der eskalierenden Weltprobleme, der Umweltzerstörung, dem Artensterben und der Schuldengebirge? Natürlich konnte man künstliche Ananas nicht essen, aber Landwirtschaft, Obst- und Gemüseanbau fanden schon längst irgendwo anders auf dem Globus statt, wo die Arbeitskräfte billig waren und niemand gegen chemische Keulen protestierte. Und wenn man Natur sehen wollte, konnte man ja reisen, die Welt war groß. Später würde man den Kindern die Fotos zeigen, Tausende und Abertausende hatte man schon angesammelt; man würde erzählen von seinen Erlebnissen, von der Freiheit von der Tyrannei der Natur, vom endlich erreichten politischen Anspruch auf Selbstverwirklichung ohne Verzicht. Falls man Kinder hätte, jedenfalls. Man hört ja, das sei schwierig, von der Zeugung über die Aufzucht bis hin zur Erziehung; viel Mühe und Arbeit, noch mehr Kosten, und keine garantierte Aussicht auf Erfolg und Vorzeigbarkeit, von Dankbarkeit ganz zu schweigen. Aber wenigstens gibt es Unterstützung vom Staat und von Experten, und man ist für das Ergebnis nicht verantwortlich.
DIE FABEL VON DER GOLDENEN WINDEL
Niemand wusste, woher sie gekommen war, und viele kannten sie gar nicht. Sie lag irgendwo, an einem stillen Ort, gebettet in ein wiegenähnliches Behältnis: abgelutschte Schnuller umgaben sie, bunte Mobiles mit hellen Glöckchen schwebten über ihr, und es roch nach – nein, niemand konnte den Geruch beschreiben, aber alle waren sich einig, dass er sie auf eine wundersame Weise an etwas erinnerte, das ganz tiefen unten schlief in ihrem Herzen. Sie wurde verwahrt und weitergegeben in einer Gemeinschaft von erfahrenen Müttern; aber man konnte sie nur zufällig finden, es gab nirgends eine Wegbeschreibung, und selbst das große weltweite Netz kannte sie nicht. Wer sie aber fand, Mann oder Frau, jung oder alt, der wurde von ihr unfehlbar in seinem Wesen erkannt. Am schlimmsten traf es die gewohnheitsmäßigen Bullshitter und Schönredner, die versuchten, sich bei ihr einzuschmeicheln: Sie wurden überschüttet mit einem wahrhaften shitstorm, der von äußerst unangenehmem Geruch und einer schleimigen Konsistenz war; er ließ die solcherart Betroffenen für einmal wenigstens kleinlaut und wortlos zurück. Für die Angeber und Großtuer, die mit ihren Errungenschaften und Einsichten prahlten, hatte sie eine besonders subtile Strafe: Sie regnete so viel Gold und Geld auf sie herab, dass sie in all ihrem Reichtum so einsam wurden wie der alte König Midas. Die wenigen aber, die in ihrem Herzen Kind geblieben waren und sich wenigstens eine Ahnung von ihrer Kindschaft erhalten hatten: Denen schenkte sie, in einem unbeschreiblichen Strahlen, das machtvoll aus ihrer goldenen Mitte brach, ihre Kindheit wieder. Kindheitserlebnisse in all ihrer Fülle, mitsamt ihren Freuden wie Schmerzen kehrten zurück, und sie waren wie neu, getränkt in das reine Gold des ursprünglichen Erlebens und Noch-Nicht-Wissens. Manche, so sagte man, hüpften danach davon wie neugeboren; alte Menschen vergaßen ihre schmerzgepeinigten Knochen, jüngere legten ihren Zynismus ab, ihre Zweifel, ihre Skepsis, und für einen Moment wenigstens glaubten sie alle wieder daran, dass die Menschheit eine Zukunft habe, und dass es sich lohne, diese Geschichte durch eigene Kinder fortzusetzen.
Viele Legenden rankten sich um die Goldene Windel. Viele Leute stellten sich vor, dass sie von einer dickbäuchigen, urtümlichem Matriarchengestalt mit großen hängenden Brüsten im frühen Dunkel schriftloser Zeiten gestiftet worden sei. Aber das war nur die Phantasie-Armut einer Zeit, der die Geschichten ausgegangen waren und die an wenigen groben Bildern klebte, die längst unter ihrer symbolischen Überladung zusammengebrochen waren. Denn die goldene Windel war keine Fruchtbarkeitsgöttin, sie war auch keine Wundermittel für schönere oder klügere Kinder (dafür gab es längst die Wissenschaft), und sie verkörperte auch nicht die Utopie einer idealisierten romantischen Kindheit jenseits aller Pflichten und Nöte des Erwachsenenlebens. Nein, die Gemeinschaft der Mütter pflegte zu sagen: „An ihrem Wickeln sollt ihr sie erkennen“, und sie meinten damit: Nur jemand, der aus den niedrigsten Exkrementen des Körpers das wahre Gold der Herzen machen konnte; nur jemand, egal ob Frau oder Mann, der sich in dem alltäglichsten Prozess des Behütens, der liebevollen, pflegenden Zuwendung, des innigsten Umgangs miteinander bewährte; nur ein solches Wesen hatte verstanden und erfahren, was Mutterschaft eigentlich sei und was ihr Zweck sei im großen Rahmen der Dinge.
Aber das war nur der eine Teil, die eine Hälfte. Denn ebenso wichtig wie die Mutterschaft, so sagten die Mütter, sei die Kindschaft: ein Urvertrauen in die Natur, in ihre Fülle und Fruchtbarkeit, und eine unzerstörbare Freude an ihrer Schönheit, all ihrer Monstrosität und ihrer Gefahren zum Trotz. Sie, die Natur, war die Mutter, und die Menschheit war ihr schwierigstes Kind. Aber ebenso war die Menschheit insgesamt, war jeder einzelne Mensch die Mutter, die die Natur wie ihr liebstes Kind pflegen und sie in all ihren Schöpfungen beschützen sollte. (Mit Gott, dem Vater, lebte die Mutter Natur zur Zeit in Scheidung; man versuchte sich noch gütlich zu einigen, wer nun die Sorgerechte haben sollte über den menschlichen Nachwuchs, aber das Verfahren versprach langwierig und kostspielig zu werden, zumal es als eine Art Musterprozess galt). Mutterschaft und Kindschaft zusammen, das erst brachte die Goldene Windel zum Strahlen. Und so konnte sie auch ausgewählten Kindern ihre mütterliche Zukunft zeigen, so wie sie ausgewählten Müttern ihre kindliche Vergangenheit zurückbrachte. Für sie selbst aber gab es keine Zeit, sondern nur den endlosen Fluss und Wechsel des Wickelns und Gewickelt-Werdens.
Natürlich waren die Mütter im Laufe der Geschichte immer wieder als quasi-religiöse Sekte verunglimpft worden; man hatte versucht, sie als terroristische Vereinigung oder männerfeindliche Verschwörung anzuklagen oder zu verbieten, aber sie hatten all das überstanden, ganz ohne PR-Propaganda oder kleinliche Rechtsstreitereien. Allerdings wurde es nun immer schwerer, die Goldene Windel zu finden. Und eine Vorhersage breitete sich aus, dass an dem Tag, wo die Goldene Windel endgültig aus ihrer Wiege verschwinde, es mit der Menschheit zu Ende gehen werde: Unaufhaltsam und gnadenlos werde sie aussterben, und niemand werde jemals wieder ein Kleinkind vor reiner Daseinsfreude jauchzen, während eine liebende Mutter sorgfältig seinen Po mit weichen Lappen wäscht, mit sanfter Creme einreibt, mit einer sauberen Windel umhüllt und ihm am Ende einen Nasenstüber gibt.