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Essays

Auszüge aus: Von Frauenzimmern, Blaustrümpfen, schreibenden Frauen und anderen Heldinnen (s. Shop)


Herakleia am Scheideweg 

Eine entlaufene Allegorie

Es ist einer der Ur-Erziehungsgeschichten schlechthin. Sie spielt im antiken Griechenland und erzählt, wie der junge Herakles, in der Blüte seiner Helden-Adoleszenz und in Erwartung großer Dinge, über sein weiteres Leben nachdenkt und dabei an einen Scheideweg gerät, einen innerlichen wie einen äußerlichen, gefasst von dem Sophisten Prodikos in eine nur allzu fassliche Allegorie. Es erscheinen dem jungen Heros nämlich zwei schon äußerlich sehr unterschiedliche Frauengestalten. Die eine ist aufgebrezelt wie Kim Kardashian und will ihn verführen; sie verspricht ihm ein Leben voller Genüsse und ohne jede Arbeit und Last und Zwang. Die andere, im schlichten Gewand und ungeputzt (nein, kein Beispiel fällt bei), will ihn überzeugen; sie preist ihm ein Leben im Dienste der Tugend voller Arbeit, aber auch voller Ehre an. Nun gut, der Erzähler hat einen ziemlichen bias in der Präsentation und rhetorischen Ausschmückung dieser Wahl, aber das war es gar nicht, was mich am meisten bei dieser Ge-schichte beschäftigte. Vielmehr versuchte ich mir vorzustellen, wie die Allegorie denn funktionieren würde, wenn Herakles – Herakleia wäre; also eine junge Frau, die versucht, eine Entscheidung über ihren Lebensweg zu treffen. Das ist nun eine berechtigte Frage, nicht nur am Internationalen Frauentag, und ich ging deshalb etwas in die innere Einsamkeit meiner Schreibstube und imaginierte mir zur Feier des Tages –

Herakleia, sie steht an einer Lichtung im Wald, und zwei Wege liegen vor ihr. Herakleia ist jung, hübsch, und es ist ihre Lieblingsstelle: ein Platz voller guter Gedanken (Plätze guter Gedanken erkennt man daran, dass man dort gern Yoga machen würde. Oder umgekehrt). Aber heute hat Herakleia zweifelnde Gedanken; sie knabbert an ihrer Lippe und denkt an ihre Zukunft. Da treten ihr zwei – nein, es sind gar nicht Männer-, sondern Frauengestalten entgegen! Natürlich ist es nett, sich den jungen Brad Pitt vorzustellen, in der Blüte seiner augenzwinkernden Verführungskraft; und der andere wäre vielleicht – nee, nicht Peter Sloterdijk, das würde so nicht funktionieren. Denn eigentlich, eigentlich, so dämmert es mir an dieser Stelle – müssen es wohl zwei Frauen sein. Sie ist schließlich nicht Helena, sondern Herakleia; und sie will sich nicht verlieben, sondern sich entscheiden!

Es nähern sich Herakleia also zwei weibliche Gestalten (nicht divers, das wäre noch eine andere Geschichte. Eindeutig weiblich) aus zwei verschiedenen Richtungen. Die erste läuft etwas unnatürlich, so also würde sie auf einem unsichtbaren Cat Walk entlang stolzieren; dazu passen auch die High Heels einer bekannten Designer-Marke, deren roten Sohlen grell im grünen Gras leuchten. Sie ist in ein enges Kostüm gepresst, man ahnt mehr als dass man es sieht, dass solche Körperformen außerhalb der virtuellen Welt nur durch Einsatz streng einschnürender Mittel geformt werden können. Ihre samtig-langen Haare hat sie Undinenartig über die eine Schulter gelegt, reflexartig streicht sie immer wieder darüber, dann sieht man ihre Finger mit den langen künstlichen Nägeln schimmern. Überhaupt schimmert alles etwas an ihr, von der Haut über das Handy bis hin dem schmalen Pad, das sie aus einer schimmernden Designer-Tasche zieht; offensichtlich hat sie eine Powerpoint-Projektion vorbereitet. Sie schaut sich etwas unsicher nach einer Steckdose um –

Nein, so geht das nicht, ruft Herakleia energisch dazwischen. Sie rauft sich die Haare dabei. (Welche Farbe haben ihre Haare eigentlich?)
Wie bitte? (das hatte ich auch nicht vorhergesehen. Aber wenn Geschichten sich selbständig machen, soll man sie laufen lassen).
Das geht so nicht, wiederholt Herakleia, jetzt etwas sanfter. Total das Klischee, du hast zu viel amerikanische Serien gesehen! (Ja, könnte sein)
Ja nun, wende ich ein, das ist nun einmal das Wesen von Allegorien. Sie spitzen zu, sie übertreiben, sie machen Dinge über-sichtbar, und damit landet man nun einmal bei Klischees. Es ist ja nicht so, dass Klischees nicht wahr sein können!
Ja klar, kapiert, literarisches Mittel, sagt Herakleia, etwas gelangweilt. (Woher weiß sie das?) Bin ja nicht blöd. Bin sogar gebildet (wtf???), bin ja nicht Herkules, das Ding mit der Keule fand ich schon immer ziemlich daneben. Ich habe aber auch die eine oder andere Spielzeugschlange getötet in meinem Babystuhl. Und nun gut, wir können dein kleines Allegorie-Spiel ja weiterspielen; aber darf ich das Gegen-Klischee machen? (das Bild der Dame mit den High Heels ist derweil stillgestellt; sie ist in einem ungünstigen Moment erwischt, ihr Gesicht zeigt eine Spur von Schwäche, von Unsicherheit, von -)
Dann mach mal, sage ich.
Also, holt Herakleia aus (sie hat braune Haare übrigens; oder hatte sie eben nicht noch blonde?): Ich sehe eine Frau, mittleren Al-ters, sie läuft etwas watschelig auf Birkenstock-Sandaletten daher, sie sind nicht mehr ganz neu. Ihre Kleidung ist – dem Wetter und der Gegend angemessen, zweckbestimmt, praktisch, sie hat auch viele Taschen. Ihren Händen sieht man an, dass sie viel arbeitet, sie sind etwas rau und ein Fingernagel ist eingerissen. Ihrer Figur merkt man an, dass sie Kinder gehabt hat, mehrere wahrscheinlich; danach ist sie nie wieder so richtig in Form gekommen. Sie versprüht einen Duft nach - warte, gleich habe ich es! -, ja nach Essig-Reiniger und Milchpulver, mit einer Kopfnote von Kamillentee. Mache ich es gut bisher?
Dafür, sage ich, dass das Klischee ja gar nicht so sehr in Serien verbreitet ist, machst du es sehr gut. Immerhin hast du ihr keine Kinder an den Rockzipfel gedichtet –
Ja,
sagt Herakleia, hatte ich überlegt. Aber man soll nicht übertreiben, wenn man übertreibt! (Jetzt spuckt sie auch noch altkluge Aphorismen aus!)
Gut, lassen wir es dabei, sage ich. Jetzt kommt der zweite Teil der Allegorie, die beiden großen Ansprachen. Ich mach dann mal weiter, wenn ich darf?
Aber bitte doch
! (Herakleia hat sich wieder verändert. Ihre Hautfarbe ist dunkler geworden, das Haar – wird, noch während ich schaue, schwarz und kraus? Heilige Diversität, wo soll das noch hinführen?)
Also, übernehme ich mit aller Erzähler-Souveränität, die ich noch meistern kann (meistern, dafür hätte ich auch gern mal ein weibliches Wort!): Frau Nr. 1, nennen wir sie, um im Klischee zu bleiben: die Powerfrau, zückt ein dickes, gleichwohl elegantes Marken-Portemonnaie, es ist bis zum Rand gefüllt mit Kreditkarten aller Farben und Banken. Du wirst reich sein, sagt sie, nein, nicht nur reich, sondern superreich! Du wirst leben von der Arbeit anderer, die du niemals zu Gesicht bekommst, denk nicht an sie. Du wirst Erfolg haben, nein: du wirst die Super-Karriere machen, du wirst in Aufsichtsräten sitzen und Regierungen beraten, die Presse wird sich reißen um dich, und du hast so viel Assistenten und Assistentinnen wie du brauchst, damit du dich um rein gar nichts kümmern musst. Männer wie Frauen werden dir zu Füßen liegen
Herakleia kann sich nicht mehr zusammenreißen, es hatte die ganze Zeit in ihr gegluckert, jetzt bricht sie in Gelächter aus: zu Füßen liegen, ehrlich? Auch noch koloniale Metaphern, oder was? Werden sie auch meine Füße küssen? Ich bin kitzelig an den Füßen!
Wenn du willst,
knurre ich (das Gör! Nein, ich schaue jetzt nicht mehr hin, welche Farbe ihre Haare haben, wahrscheinlich sind es pinkfarbige Dreadlocks). Der Punkt ist: Du kannst Sex haben ohne Ende, mit wem auch immer, wann immer, wo immer, mit welchen Hilfsmitteln auch immer. Du wirst liebreizende, wohlerzogene, bildhübsche Vorzeigekinder haben, soviel und mit wem und auf welche Weise du willst; aber deine Geburten werden nicht schmerzen, und die Kinder werden dich nie belästigen. Du wirst durch die Welt in deinem Privat-Jet fliegen, in den hipsten Gourmet-Restaurants essen und die Sonne wird nie untergehen für dich!
Ach ja
, sagt Herakleia verträumt, das habe ich mir schon immer gewünscht, direkt nachdem ich Indien fertig erobert habe, oder war es doch China? Und wahrscheinlich passiert auch all das noch klimaneutral und wer-weiß-wie-Öko-gelabelt? Bitte bitte! (sie schaut einen Moment wie Greta Thunberg, das war zu erwarten) Und Polarlichter, bekomme ich Polarlichter, zum Frühstück am besten?
Äh
, sage ich, das war nicht im Rundum-Sorglos-Paket für die Erfolgsfrau. Kostet wahrscheinlich extra.
Finde ich schwach
, sagt Herakleia. Soll ich den zweiten Teil wieder machen?
Aber sehr gerne doch!
(ich sehe, wie sie nach und nach kahl wird. Es ist nicht gar nicht schlimm, weil sie einen schönen Kopf hat. Ihre Stimme wird dunkel

Ich kenne dich Herakleia, und ich werde dir das Leben wahrheitsgemäß schildern. Vergiss niemals: Nichts Gutes geschieht ohne Mühe und Arbeit; und jedes Glück hat seinen Preis! Es kann sein, dass du Erfolg haben wirst in deinem Beruf; aber du musst deine Talente finden, sie ausbilden, und dann brauchst du immer noch eine Menge Glück. Du kannst Karriere machen, wenn du willst; aber glaube ihnen niemals, dass du alles haben kannst! Wenn du Karriere machst, ist es möglich, dass du die Freude an deiner Arbeit verlierst. Du wirst viele Dinge tun müssen, von denen du nicht überzeugt sein wirst; du wirst Kompromisse schließen müssen; du wirst Fehlentscheidungen anderer ertragen müssen. An der Spitze wirst du allein sein. Ein Netzwerk ist keine Familie. Eine Familie hingegen ist ein Projekt, und es ist eines der schwersten, weil es lebenslang ist und Opfer erfordert. Du kannst Kinder haben, Kinder sind ein Segen, und sie werden dir Schmerzen, Arbeit und Mühe machen; sie werden dir Enttäuschungen bereiten, aber auch unvergleichbares Glück. Es ist gut, wenn du dafür einen Partner hast. Du solltest deinen Partner sorgfältig auswählen. Es hilft, wenn man verliebt ist, aber es hält nicht ewig. Nach der Verliebtheit beginnt die Arbeit. Du wirst nicht immer so jung und schön sein, wie du heute bist. Du wirst alt werden, und du wirst krank werden. Gesundheit wird nicht geschenkt; sie ist etwas, wofür man arbeiten muss, und es geht nicht immer gerecht dabei zu. Sogar der Genuss muss erarbeitet werden, wenn man ihn beherrschen will und nicht von ihm beherrscht werden will. Doch je mehr Sinne du ausbildest, desto mehr Freuden wirst du haben können. Du musst sie aber auch verlieren lernen, denn du weißt nicht, was die Zukunft bringt, und es könnte gut sein, dass es schlimmer wird. Wenn du etwas zum Guten bewegen willst auf dieser Welt, geht das nur durch Arbeit und Mühe. Eine Gemeinschaft funktioniert nur, wenn viele gemeinsam für sie arbeiten, ganz konkret und Tag für Tag. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es, hörst du! Und rede nicht zu viel davon. Sei sparsam mit Worten und sei sorgfältig mit Worten; aber schenke jedem, der es verdient hat, ein gutes Wort und ein Lächeln. Und vergiss niemals, niemals: Nichts Gutes geschieht ohne Mühe und Arbeit, und jedes Glück hat seinen Preis!
Ich bin sprachlos. Es war die Stimme der Vernunft gewesen, die gesprochen hatte, so klar und rein, wie man sie selten hört. Etwas Melancholisches hatte Herakleia beim Sprechen umschwebt, wie der kleine Dämon auf Dürers Kupferstich; einen Moment versuchte ich auch, sie als Athene zu sehen, mit dem Medusenhelm und einer Eule auf der Schulter, aber das funktionierte nicht, die Eule wollte nicht stillsitzen, und Medusa grinste. Und als ich wieder hinsah, war sie einfach nur – Herakleia, eine junge Frau, an einem Scheideweg in ihrem Leben und unsicher und voller Zukunft, die an ihrer Lippe knabberte.

Kulturelle Klischees, sagt sie (sie schaut in meinen Kopf. Auch das noch!). Du musst aber auch immer deine Lieblings-Heldinnen recyclen, oder? Wie wäre es denn mal mit einem zeitgemäßeren Rollenmuster?
Das war jetzt gegen die Spielregeln
, sage ich. Du solltest ein Gegen-Klischee zur Powerfrau entwerfen, eine brave Hausfrau oder so, oder wegen mir auch eine grün-aktivistisch-bewegte Vorstadt-Mami, oder – ach, irgendwas konservativ- oder progressiv-biederes! Aber das war ja –
War mir zu langweilig
, unterbricht mich Herakleia. Und überhaupt, wer hat sich eigentlich diese dämlichen Spielregeln ausgedacht? Ein alter weißer Mann, gell? (sie lächelt dabei, wir lächeln gemeinsam, und dann lächeln wir gemeinsam nicht mehr) Alte weiße Männer hatten einige ziemlich gute Ideen, sagte ich. Klar, sagte sie, und einige ziemlich schlechte Ideen. Aber vielleicht kommt es ja eher darauf an, sagte ich, überhaupt Ideen zu haben, vorher weiß man sowieso von den meisten nicht, ob sie gute oder schlechte sind? Macht aber Mühe und Arbeit, sagt Herakleia. Kann ich nicht lieber den Ruhm von den Ideen anderer Leute abernten? Machen wir doch gerade, sage ich. Das Scheideweg-Spiel ist ja die Idee von jemand anderem, die wir uns, wie soll ich sagen: angeeignet haben? Aneignung, sagt Herakleia, ist ok, aber nur wenn sie  – „Mühe und Arbeit macht“ sagen wir im Chor.
Außerdem muss ich ja vielleicht nicht gleich ganz so vernünftig werden, sagt sie mit einem Augenzwinkern und einer Stimme, die wieder ganz jung ist und ein wenig ab und ab hüpft beim Sprechen, oder? Ich kann ja erstmal ganz was anderes ausprobieren, irgendetwas dazwischen, mit High Heels und Arbeit und Mühe, oder mit Birkenstocks und dem MacBook? Die Schuhe hätte ich nämlich wirklich gern, egal welchen Weg ich dann damit gehe! Weißt du, und dabei dreht sie sich schon um, die ganze Allegorie ist halt eine ideelle Fehlkonstruktion. Es sollte kein Scheideweg sein, sondern eine Kreuzung. Mit ganz vielen Straßen, und man kann in ganz viele Richtungen gehen. Und man kann auch wieder umdrehen, wenn man erkannt hat, dass die Richtung falsch ist. Dieses ganze Entweder-Oder-Schwarz-Weiß-Szenario ist so – unproduktiv! Kann es auch ein Kreisel sein, rufe ich ihr hinterher, ihre Gestalt ist schon fast im Nebel ihrer Zukunft aufgelöst; und ich will eigentlich nur noch ein wenig mit der Metapher spielen und noch einen Moment selbst wieder jung sein. Das ganze Leben ist ein Kreisel, singt es zurück; es singt vielstimmig und ein wenig dissonant. Das ganze Leben -



Denken Frauen anders?

Denken Frauen anders? Wenn man es doch nur wüsste! Denn historisch, das steht fest, haben Männer zumindest mehr, wenn nicht: beinahe ausschließlich gedacht, falls man darunter ein öffentliches oder veröffentlichtes Denken versteht. Männer haben Bibliotheken voller philosophischer Grundlagenwerke gefüllt, haben Systeme errichtet, turmhoch für die Ewigkeit, haben die großen Fragen gewälzt, immer wieder die gleichen Begriffsberge hinauf, haben die großen Ideen gepredigt, wenn auch selten mit ebenso großen Folgen. Frauen existieren in der Philosophiegeschichte ebenso wenig als Subjekte des Denkens wie als Objekte: Der Mensch ist, seit Anfang aller Philosophie, ein Mann, wie der monotheistische Gott, sein Ebenbild; und wenn Frauen darüber anders gedacht haben, haben sie es nicht aufgeschrieben.

Sie hatten, das muss man zugeben, auch kaum Chancen das zu tun, und zwar aus einer Vielzahl von Gründen. Der erste ist zum Gähnen langweilig und zum Abwinken trivial; trotzdem muss es gesagt werden, weil es wahr ist und die Wurzel aller intellektuellen Benachteiligung und Unterdrückung schlechthin: Lesen und Schreiben waren bis vor sehr kurzer Zeit sehr rare Bildungsgüter für Frauen und sind es in Teilen der Welt bis heute. Ohne Lesen und Schreiben jedoch kann Frau denken, wie und was sie will – es wird keinerlei bleibende Spuren hinterlassen, und wir werden niemals wissen, ob Xanthippe vielleicht eine noch ausgeklügeltere geistige Hebammenkunst entwickelt hatte als ihr hakennasiger Gatte, oder ob Descartes‘ Lebenspartnerin dem „cogito ergo sum“ ein energisches „ich gebäre, also bin ich“ entgegen geschleudert hat.

Dazu kommt: Philosophisches Denken ist, wie jeder Leistungssport, anstrengend und will trainiert sein – am besten von früh an, unter fachkundiger Anleitung, mit erprobten Trainingsmethoden, in einer anregenden Umgebung und, wenn es eben geht, mit Aussicht auf eine würdige Belohnung für all die Strapazen. Philosophische Naturtalente sind zwar sicherlich, ebenso wie mathematische Genies, musikalische Wunderkinder oder sportliche Naturbegabungen, vorstellbar – einfach, weil das menschliche Gehirn aufgrund des segensreichen Würfelspiels der Evolution offensichtlich zu jeder noch so bizarren Form von Hochleistung rein zufällig in der Lage sein kann. Sie sind nur etwas schwerer zu finden, da wohl die Weisheiten eines frühkindlichen Hegel eher unter die Kategorie „altkluges Balg“ verbucht worden wären („ist er nicht niedlich? Heute hat er schon wieder vom Weltgeist gebabbelt, ich weiß wirklich nicht, woher er das hat!“). Kleine Mädchen nun gar, die ihre Puppen zum philosophischen Symposion gruppiert hätten anstelle an ihnen neue Frisuren auszuprobieren, wären sicherlich ernsthaft von ihren besorgten Müttern zurechtgewiesen worden („niemand wird die Prinzessin wachküssen, weil sie so klug aussieht!").

Insofern wird der traditionelle Königsweg zum philosophischen Denken mangels Anerkennung als mentaler und geschlechterübergreifender Leistungssport samt entsprechender Förderkultur wohl weiterhin die ganz alltägliche Praxis sein: Üben, üben, üben – an verschiedenen Objekten, mit verschiedenen Sparrings-Partnern, in verschiedenen Techniken, vom allseits beliebten Syllogismus als Anfängerübung, über die Regeln der formalen Logik und den konsistenten Aufbau von Argumentationen bis hin zur Architektur von umfassenden Beweisführungen – oder gar, Krönung des philosophischen Denkens im akademischen Sinne, von Systemen. Das ist nicht nur entbehrungsreich – wer denkt, darf nicht spielen, essen, lieben, faulenzen, plappern, ganz zu schweigen von den vielfältigen medialen Unterhaltungs- und Ablenkungstechniken des digitalen Jahrtausends, die dem Denken sicherlich langfristig den Garaus machen werden, falls es nicht endlich Playstation-kompatibel wird. Es ist auch anstrengend, und jeder, der sich nach einer gedanklichen Verausgabung heißhungrig auf das nächste Stückchen Schokolade stützt, weiß ein Lied vom Energieverbrauch des Gehirns zu singen. Vielleicht wäre die beste Strategie zur Verweiblichung der Philosophie deshalb ein Diätprogramm nach dem Motto „Denken macht schlank!“ – jedenfalls, wenn man es irgendwie schafft, den Heißhungeranfall danach unter Kontrolle zu bekommen und gedankliche Jo-Jo-Effekte zu vermeiden!

Während bei Männern aber solche Denkübungen zumindest als Sekundärtugend für den späteren wirtschaftlichen Erfolg akzeptiert und deshalb als Ausbildungsgegenstand praktiziert wurden, auch wenn es gefährlich ist und eigentlich mit einem seitenlangen Nebenwirkungskatalog versehen werden sollte („fragen Sie Ihren Priester oder Arbeitgeber!“), ist die Gefahr für Frauen offensichtlich viel größer. Kluge Frauen werden nicht nur bis heute, wie alle einschlägigen Umfragen zeigen, nicht geheiratet (und wahrscheinlich auch eher selten geliebt) und reproduzieren deshalb auch keine gleichermaßen klug veranlagten weiblichen Nachkommen; sie werden auch nicht geschätzt, sondern als „Blaustrumpf“ bespöttelt und als unweiblich diffamiert. Besonders kluge Frauen stellen sich deshalb gern besonders dumm – was ihre Attraktivität zwar erhöhen mag, zumal wenn sie blond sind, aber nicht hilfreich bei der Suche nach der weiblichen Philosophie ist. Mangelnde Gleichverteilung der Bildungschancen wird somit ergänzt durch mangelnde Einübung der Bildungspraxis: Es denkt sich halt einfach nicht allein und von selbst, und die Belohnungen für einen auch nur zufällig gefassten und geäußerten eigenen Gedanken stellen sich auch nicht automatisch ein: Wer denkt, erntet Widerspruch, je eigener desto mehr, ist man als Faustregel zu sagen versucht. Widerspruchsgeist jedoch gilt, auch das ist zu bedenken, nicht direkt als Schlüsselqualifikation zum erfolgreichen Frausein.

Aber ist das nicht alles überholt und aus der gender-Mottenkiste hervorgekramt, versehen mit reichlich historischem Feinstaub und den Abnutzungserscheinungen allzu häufig gebrauchter Argumente? Frauen sind heutzutage emanzipiert, überholen die Männer mit inzwischen als erschreckend empfundener Geschwindigkeit in allen Bildungsstufen und -abschlüssen; kein kleines Mädchen muss mehr leiden, weil es lieber Philosophen-Quartett als Puppenküche spielt, und seine Gedanken (oder das, was sie/er dafür hält) darf sowieso jeder öffentlich kundtun, je weniger Substanz, desto lauter (auch wenn „Deutschland sucht den Superdenker“ kaum jemals quotenfähig werden wird). Trotzdem hat frau nicht das Gefühl, dass die Philosophie weiblicher wird, ja noch nicht einmal, dass das Denken weiblicher wird. Frauen, die Erfolg haben wollen in der Philosophie, setzen wie in der Wirtschaft nämlich besser darauf, sich zumindest männlich zu präsentieren, in Kleidung und Habitus ebenso wie in Sozialverhalten und Denkstil. Haben Frauen als Frauen also nichts zu denken bzw. zu sagen? Oder warum tun sie es jetzt nicht endlich?

Hier ist nun der Platz für ein Zugeständnis an den Mann: Männer sind (und alle Political-Correctness-Junkies mögen weghören, da es nun zur Sache geht und nicht um wohlfeiles Abnicken von gedankenpolizeilich genehmigten Floskeln), bei all ihren Fehlern, häufig hartnäckiger, ausdauernder, zielbewusster – eben auch im Denken, wo es genau darauf leider ab und zu ankommt: einen Gedanken nicht nur zu fassen – das gelingt beinahe jedem oder jeder irgendwann –, sondern ihn am Schopf zu packen, festzuhalten, ihn zu verfolgen, ihn gegen innere Widerstände („bin müde! Habe keine Lust mehr! Muss noch einkaufen!“) durchzuboxen, ihn, und das ist jetzt durchaus so ambivalent gemeint wie es klingt, zu unterwerfen, ihn einzubinden in einen größeren Zusammenhang und ihn bei all dem mit der unverwechselbaren geistigen Duftmarke seines Bezwingers zu versehen. Das tut dem Gedanken vielleicht nicht immer gut, der in diesem kämpferischen Prozess zu einer Härte und Festigkeit geschmiedet wird, die ihn (sagen wir es weiblich-vorsichtig) nicht immer kompatibel zu einer flexiblen, weichen, eher chaotischen denn zweiwertig-logischen strukturierten Lebenswirklichkeit macht. Aber es formt ihn zu etwas, mit dem fortan nicht nur zu denken, sondern zu argumentieren und kämpfen ist. (Männliches) Denken ist Machtausübung in einer sehr konzentrierten Form; und es belohnt sich im Übrigen nicht nur mit dem Gefühl geistiger Überlegenheit, sondern auch mit handgreiflichen Tatsachen in Form von Traktaten, Büchern, wissenschaftlichen Preisen vielleicht gar, und langfristig, für ein paar wenige: Unsterblichkeit.

Für seine Ideen zu kämpfen, galt deshalb seit alters her als Merkmal des wahren Helden des Geistes (auch wenn Philosophen nur sehr selten den sokratischen Beweis antreten mussten, für ihre Ideen auch, lächelnden Angesichtes, sterben zu können); und das, wie gesagt, nicht ganz zu Unrecht. Heldinnen des Geistes jedoch – wären sie wirklich als solche anerkannt worden? Selbst wenn sie es geschafft hätten, ihr Talent zum Denken zu entdecken, es zu trainieren, gefördert zu werden, angeregt zu werden, durch Gespräche, durch Lektüre, durch intellektuelle Herausforderungen, jawohl: auch durch Männer! – es wäre trotzdem ein schwerer und entbehrungsreicher Weg geworden. In Zeiten vor Erfindung einer halbwegs zuverlässig funktionierenden Geburtenkontrolle wären sie philosophisch sozusagen ungefähr gleichzeitig geschlechtsreif geworden wie biologisch; statt eines Traktats hätten sie ein Baby geboren, und dann noch eines, und dann noch eines, und wenn sie nicht bei einer der Geburten oder kurz danach am Kindbettfieber gestorben wären, wäre dies über eine relativ lange Spanne ihrer Lebenszeit hin so weiter gegangen. Und Geburten sowie ihre Folgen haben leider – oder Gottseidank? – die Eigenschaft, die geistigen Energien der an ihnen Beteiligten vollständig zu absorbieren; wer angesichts eines schreienden Babys oder eines die ersten Worte stammelnden Kleinkindes noch über die Windungen des Weltgeistes nachdenken kann, der mag zwar ein wahrer Philosoph sein, aber ist leider auch ein ziemlich herzloser.

Natürlich hätten unsere potentiellen Philosophinnen sich auch den Mühen des institutionalisierten Geschlechtsverkehrs und der biologischen Zwangsreproduktion entziehen können und, eben heldinnenhaft, ein Leben des Geistes wählen – allerdings ohne Aussicht auf finanzielle Versorgung und mit einer herben Einbuße an menschlicher Lebens- und Liebeserfahrung sowie allen daraus resultierenden, an der männlichen Geschichte der Philosophie so deutlich ablesbaren Einschränkungen. Und im Gegensatz zu ihren männlichen Heldenkollegen wären sie nicht dafür gefeiert, sondern als alte Jungfern und Blaustrümpfe verspottet worden. Das ist ein hoher Preis, und er wird bis heute von einigen wenigen bezahlt. Sollte es aber nicht möglich sein, in unseren achso emanzipierten modernen Zeiten, denken zu dürfen ohne das Leben dafür zu vernachlässigen? Wäre das nicht der wahre Beitrag der Frauen zur Philosophie (und selbstverständlich auch derjenigen Männer, die sich dazu berufen und qualifiziert fühlen): zu zeigen, wie das Denken im Leben wurzelt? Nicht irgendwie allgemein oder ontologisch überhöht (das Sein des Seienden), sondern zwischen Windeln, Kartoffelbrei und dem freiwillig gewählten, da man für professionelles Denken nämlich leider Zeit braucht, wie für jede anstrengende Arbeit, Halbtagsjob?

Ein solches Denken existiert im Übrigen tatsächlich; es nennt sich verschämt „Lebens“- oder Popular“-Philosophie und ist das notorisch schwarze Schaf in der weißgespülten akademischen Philosophenherde. Es bekommt deshalb keine Lehrstühle, sondern nur abseitige Nischen im allgemeinen Publikationsbetrieb; es wird nicht zu Philosophentagen und Kongressen eingeladen, sondern allerhöchstens – wenn es denn genügend skandalträchtig ist, eine fotogene Lockenpracht trägt und wenigstens ab und zu einen halbwegs verständlichen Satz produzieren kann – zu Talk-Shows. Es bekommt auch keine historisch-kritische Werkausgabe, wird aber vielleicht gelesen, von beinahe normalen Menschen – solchen nämlich, die sich für Philosophie als Lebenskunst interessieren und nicht für Philosophie als Rentenversicherungspolice. Es ist deshalb wenig attraktiv für den Mann als akademischer Leitwolf – und eine Chance für die Philosophin des Alltags, für die Denkerin zwischen Windeln, Kartoffelbrei und Halbtagsjob.

Denn diese Philosophin des Alltags weiß, im Gegensatz zum über den Dingen stehenden Systemphilosophen und dem ins akademische Zwangsrad eingespannten Dienstphilosophen, dass es im Leben und dem ganzen Rest nur sehr wenige Dinge gibt, die sich einer zweiwertigen Schwarz-Weiß-Logik, einer durchgängig kausalen Argumentationskette oder einem streng definierten Begriffskorsett unterwerfen lassen, und das ohne erhebliche Kollateralschäden an Realitätsnähe und Bezug zur Lebenserfahrung. Sie geht jeden Tag um mit Dingen, die nicht eindeutig sind, die sich verändern, deren Bewertung schwankt wie ihre Erscheinung; sie hat Erfahrungen mit der begrenzten Wirkung von Vernunft-Argumenten auf Lebendiges; sie ist vorsichtig geworden mit Verallgemeinerungen und Generalurteilen. Sie hat es auch, und zwar gar nicht zuletzt, häufig mit Körperlichem zu tun und weiß deshalb, dass man Körper und Geist nur sehr gewaltsam und künstlich voneinander trennen kann. Sie geht nicht mit Gedanken schwanger, sondern mit Embryonen, sie gebiert keine Theorien, sondern lebendige Menschen, sie versorgt nicht einen unersättlichen akademischen Betrieb mit Publikationen, sondern eine Familie mit Essen, Zuwendung und einem Zuhause. Wobei der Punkt nicht ist, dass das nur Frauen können oder gar sollten (von Geburten einmal abgesehen); der Punkt ist, dass sie es historisch getan haben und immer noch mehrheitlich tun, und dass es eine spezifische Lebenserfahrung prägt, die anders ist als die dominant berufliche oder politische oder ökonomische – die aber gerade dort, wo es um Menschlichkeit geht (und worum soll es eigentlich in der Philosophie gehen, wenn nicht darum?), auf keinen Fall abzuwerten oder zu vernachlässigen ist, sondern vielmehr einzubeziehen und zu bedenken.

Unsere weibliche Philosophin des Alltags formuliert deshalb nur sehr vorsichtige Einsichten, mit begrenzter Geltungsbreite und einem historischen Mindesthaltbarkeitsdatum. Und sie tut das in einer Form, die eher den zurückgelegten Denkweg als dessen Ergebnis spiegelt. Denn erzieht man so nicht auch Kinder? Nicht, indem man ihnen Weisheiten von oben herab verkündet, sondern indem man sie mitnimmt auf dem Weg der Erkenntnis, sich an ihrer Auffassungsgabe orientiert und versucht, ihnen die Sache schmackhaft zu machen, wenn es sein muss: in kleinen Portionen und mit handgeschnitzten Gurkengesichtern? Und hält man so nicht seinen Haushalt in Ordnung? Nicht, indem man perfektionistisch poliert von morgens bis in die Nacht und jedem Stäubchen den Krieg erklärt, aber auch nicht, indem man Faulheit und Verwahrlosung als kreatives Chaos verkauft, sondern indem man Routinen entwickelt und erprobt; indem man versucht, neben dem Nützlichen und Notwendigen das Unnütze und Schöne nicht zu vergessen; und indem man sich schließlich moralisch zusammenreißt, wenn es nun einmal sein muss, dass jemand den Müll wegbringt, auch wenn man dafür wieder einmal keinen Orden bekommt.

Geht man so schließlich nicht sogar mit Männern um, diesen seltsamen Wesen, die jeden Tag kämpfen und gewinnen wollen, aber so viel Bestätigung dafür brauchen; die die größten Heldentaten vollbracht haben und die furchtbarsten Verbrechen begangen; die so wenig Halt haben im Leben, dass sie verzweifelt versuchen müssen im Geist Wurzeln zu schlagen; und die schließlich, seit jeher, Frauen genauso in den Himmel gehoben und idealisiert wie unterdrückt und marginalisiert haben? Männer – man versucht sie zu verstehen als Frau, man versucht einigen von ihnen zu gefallen; man geht ihnen auf die Nerven oder aus dem Weg, aber niemals wird es ganz gelingen. Man bekommt Männer ebenso wenig in den Griff wie Gedanken und Ideen; und wenn man es täte, wäre es wie Systemphilosophie: ein Herrschaftssystem, rigide und abgehoben, manipulativ und arrogant, unter Ausschluss all dessen, was den einzelnen Mann/die einzelne Frau/den einzelnen Gedanken lebendig und produktiv macht. Denn darum geht es doch am Ende, unabhängig von gender-Stereotypen und real existierenden Unterschieden: dass man sich im Denken befruchtet – wofür zwei verschiedene Geschlechter, wie auch immer man sie nennt und wer auch immer sich zu welchem für zugehörig erklärt, vielleicht nicht der schlechteste Weg sein könnten: gerade wegen ihrer Unterschiedlichkeit.

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Die Schule von Athen und die verborgene
Schule der Athene.
Eine Welt voller Gegensätze



Das ist kein einfaches Gemälde. Es ist selbst eine Welt, und es ist die Geschichte einer Welt, ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft. Es ist aber auch eine Geschichte der Farben und der Bilder, der Wissenschaften und der Künste, und schließlich: die Geschichte der Menschen. Man möchte mitten hineinspazieren und sich unter die vielen Gestalten mischen; man möchte hören, worüber die beiden zentralen Figuren, nennen wir sie ruhig Platon und Aristoteles, streiten, man möchte wissen, was der alte Mann mit der Glatze und dem wolligen Bart in sein großes Buch schreibt, man möchte sich von den Weisen mit der Erdkugel und der Himmelskugel den Kosmos erklären lassen, und dann möchte man sich ein kleines Weilchen zu dem einsamen Mann in der Mitte setzen, der ganz für sich lässig auf den Stufen herumlümmelt, die Toga nur locker über die Schulter geworden und den Blick auf ein Blatt gerichtet. Und schließlich möchte man in dem Bild verschwinden, ganz im Hintergrund, wo der Himmel durch einen Torbogen scheint; denn dahinter ist ganz sicher das Paradies.

Die Szene ist sorgfältig gewählt für dieses große Panorama des Geistes und des Wissens: Es ist eine antike Prachtarchitektur, monumental und gleichzeitig einfach, mit perfekten Kreisen zum Himmel hin und perfekten Quadraten zum Boden. Man ist verleitet zu vermuten, dass das Muster des Gangs, auf dem die Hauptfiguren würdevoll daherschreiten, eine Art Quadratur des Kreises aufweist: Denn kann man, gleichzeitig, dem alten Platon vertrauen, der so gewiss zum Himmel hinauf weist, und dem in der Blüte seiner Jahre stehenden stattlichen Aristoteles, der energisch auf dem Boden bleiben will? Zwischen beiden, ganz genau zwischen ihnen, ist der Mittel- und Fluchtpunkt der perfekten Zentralperspektive; tatsächlich ist er, wenn man ganz genau schaut, in der kleinen leeren Stelle zwischen der blauen und der roten Toga. Und über ihnen, durch die runden Bogen, schaut der Himmel hinein, und das Gemälde wäre ein klaustrophobischer Alptraum, wenn er es nicht täte: Nur so können die Gedanken frei bleiben, können ausschweifen, können über all die Menschen hinweg sich auflösen in blauen Äther. Die Natur ist immer dabei, und wäre sie es nicht, wäre einfach nur eine „Schule“ dargestellt, dann wäre sie eine Zwangsanstalt, wie so viele Schulen. Hier aber herrscht Bewegung, man philosophiert im Gehen, und man geht vom Freien herein ins Gebäude; aber man kann auch wieder herumdrehen und hinausgehen ins Freie.

Der Raum jedoch ist nicht nur eine perfekte Architekturkulisse, er ist auch geschmückt mit Figuren. Man übersieht sie leicht, marmorblass stehen sie in ihren Nischen und werden in den Hintergrund gerückt von all dem bunten Gewimmel im Vordergrund. Lässt man sich davon, vor der Hand, nicht ablenken, und das erfordert schon einen ziemlichen Akt des Willens, sieht man auf der Seite von Aristoteles eine weibliche Gestalt in der Nische. Ihr Helm und ihr Schild weisen sie als Athene aus, die Göttin der Weisheit, der Künste und der Wissenschaften; die kluge Athene, die in voller Rüstung dem Haupt des Zeus entsprang und die die leichtlebige Medusa dazu verdammte, dass kein Mann sie anschauen konnte ohne zu versteinern: Klugheit und Begehren paaren sich nicht gut. Ihr zu Füssen aber ist eine mütterliche Szene abgebildet: Denn Frauen sind klug und mütterlich, hart und sanft. Ihr gegenüber, auf der Seite von Platon, steht Apollo, der schöne jugendliche Apollo, der Gott des Lichts und der Künste, mit seiner Leier; und ihm zu Füßen ist eine Kampfszene abgebildet, denn Männer sind sanft und kämpferisch.

Aber nun geben wir der Verlockung nach und stürzen wir uns endlich ins Getümmel, zwischen all die Figuren; und als erstes sind es die Farben, die den Blick leiten und reizen. Sie sind von einer geradezu überdeutlichen Klarheit, sie sind Inbegriffe von Farben, denen man noch ansieht, dass sie aus Naturstoffen gemacht sind, aber vom Künstler konzentriert wurden bis zur übernatürlichen Essenz einer Farbe, der Idee einer Farbe, wie Platon zweifellos sagen würde; aber sie haben auch ihren ursprünglichen Naturton bewahrt. Der Künstler hat seine gesamte Palette ausgeschöpft, er hat Gewänder eingetunkt, bis sie strahlten, und dann hat er sie angeordnet, scheinbar zufällig, scheinbar willkürlich, aber man wird den Verdacht nicht los, es war eine Art Vier-Farben-Problem, das er souverän gelöst hat. Und das Licht über all dem ist so weich und gleichzeitig so klar, dass man tief durchatmen möchte mit den Augen. Schwarz fehlt beinahe völlig; allein die Schiefertafeln sind schwarz, kleine schwarze Blöcke konzentrierten Lehrens, mit weißen Zeichen beschrieben; aber wenn man sie abwischt, hat man wieder eine reine Tafel, und man kann von vorn anfangen.

Auf die Tafeln zeigen Hände; und die Hände gehören zu den Hauptfiguren in diesem Welttheater des Geistes. Platons Zeigefinger weist nach oben, in den Himmel, wo die Ideen wohnen; Aristoteles‘ Hand widerspricht und verweist auf den Boden, den man bei all dem nicht verlassen soll, die Realität der Dinge und Phänomene. Es gibt Hände, die zeigen und demonstrieren, Hände, die zweifeln und behaupten, Hände, die schreiben, die grüßen, halten und stützen. Philosophie ist, so lernt man, eine handgreifliche Angelegenheit; sie findet statt zwischen Menschen, die philosophische Handlungen vollführen, bei denen ihr ganzer Körper mitspricht. Dementsprechend unterschiedlich sind auch die Menschen; ihre Hautfarbe changiert wie die Farbe der Gewänder, einige tragen altertümliche Kopfbedeckungen, eine Art Turban mischt sich darunter, ein Lorbeerkranz, ein kriegerischer Prachthelm; man sieht jugendliche Locken und alterskrause Bärte, Glatzen (etwas überdurchschnittlich viel Glatzen, bei genauer Betrachtung), und immer wieder, als Gegenstück: volle jugendliche Locken. Denn dies ist kein Altherrenstück, die Jugend ist da, sie lauscht mit offenem Mund, sie schreibt eifrig mit. Vor allem in der naturwissenschaftlichen Gruppe am rechten Bildrand scharen sich die wissbegierigen Jünglinge um die Figur, die mit dem Zirkel hantiert; daneben balancieren zwei Gestalten eine Himmelskugel und einen Erdglobus, beides natürlich, nebeneinander, den Himmel und die Erde. 

Aber vielleicht sollte man sich doch lieber der Gruppe am linken Bildrand zuwenden? Hier scharen sich keine Jünglinge, sondern gar Kinder um die schreibenden Gestalten; sie schauen dem Dichter über die Schulter, während ein etwas buckliger Alter dem Mann mit dem großen Buch etwas nach- oder abzuschreiben scheint; und man wüsste nur zu gern, was in dem großen Buch steht, was der Dichter liest, was der alte Mann da so fleißig abpinnt, aber man hat keine Zeit. Denn jetzt zieht ein dunkelhaariger, sehr kräftiger Mann den Blick an, etwas unterhalb von Platon sitzt er und hat als einziger ein marmornes Schreibpult abbekommen; aber sein Blick geht melancholisch weg von seinem Schreibtisch, er scheint mehr nach innen zu schauen, und sein Schreibfluss ist gestockt. Seine Kleidung wirkt beinahe modern, ebenso sein Haarschnitt; ist er die Zukunft, ist er das dunkle Bild einer Zeit, die die Schule verlassen hat und nun in der Welt ihr Heil sucht, jeder für sich, jeder Einzelkämpfer einer zutiefst melancholischen Moderne, die den Sinn nur noch in Büchern sucht? Aber zum Glück hat er einen Gegenspieler, den zweiten Einzelgänger auf dem Bild: Ganz locker sitzt er da, ein wenig rechts von dem Grübler, über die Stufen hingegossen, seine Toga hat er nur nachlässig geschultert, die eine Hälfte des Oberkörpers bleibt unbedeckt, halb unter ihm ruht sein Mantel, daneben eine Schale. Zwar schaut auch er auf ein Blatt in seiner Hand, aber wie groß ist der Unterschied in Haltung und Wirkung! Er gehört, zweifellos, zur aristotelischen Seite, aber er nimmt die Erde leicht, während sein grimmiger Nachbar den platonischen Ideen nachhängt und sie in sich selbst nicht zu finden scheint.

Allerdings ist, und darüber kommt die Betrachterin erst einmal schwer hinweg, die dargestellte Welt des Geistes in gewissem Sinne nur eine halbe Welt: Es ist eine Welt ohne Frauen, wenn man einmal absieht von Athene als Schutzpatronin der Weisheit, die ja selbst immerhin, vom Namen her, eine Frau ist: philo-sophia. Bei einigen Figuren, meist Randfiguren, beschleicht einen zwar ein Verdacht, dass es sich doch um eine weibliche Zuhörerin handeln könnte, die sich in der Schule eingeschlichen hat, in der Frauen natürlich prinzipiell nicht zugelassen waren; so fortschrittlich war die griechische Antike dann doch nicht. Aber wahrscheinlich sind es doch nur weiche, unfertige Jünglingszüge, wie sie Raffael in seinen Heiligenbildern so gern gemalt hat, jugendlich androgyne Johannes-Figuren. Eine etwas rätselhafte Gestalt gibt es allerdings, die dadurch auffällt, dass sie aus dem Bild hinaus schaut, dem Betrachter direkt ins Gesicht; nur das Selbstporträt des Autors auf der anderen Seite schaut ähnlich herausfordernd auf den Betrachter. Es existieren auch ganze Legenden dazu, welche Gestalt genau welcher Philosoph ist, aber darüber darf sich die Wissenschaft weiter streiten. Die rätselhafte Gestalt trägt zudem, ebenfalls als einzige, ein fast durchgehendes weißes Gewand, mit leichten Goldrändern gesäumt, das die Körperformen nicht nachzeichnet, sondern verdeckt; ihr Gesicht wird umrahmt von sanften braunen Locken, und ihr Blick mutet, man kann es nicht anders sagen, extrem weiblich an. Ist sie ein verirrter Engel, ein heller Schatten aus der anderen Welt des Himmels, auf den der Blick ins Blaue weist? Oder ist sie die zweite Hälfte des vor ihr stehenden, außerordentlich dunkel und energisch gezeichneten Mannes, der zweite hellere Teil des ursprünglich androgynen Kugelmenschen? Man wird es nicht beweisen können. Aber man kann Ideen haben.

Oder vielleicht ist es sogar ganz gut und richtig so, dass dieses Bild kein Geschlecht kennt. Denn würde man nicht sofort damit beginnen, Beziehungen zu suchen, Andeutungen für ein anderes, mehr handgreiflich erotisches Verlangen als das nach dem Wissen oder der Weisheit, würde man nicht Anzüglichkeiten sehen und Begehren, die alte, uralte, immergleiche Geschichte? Wäre es nicht denkbar, dass es eine Welt gibt, in der man einfach nur lernen möchte, im Gespräch mit anderen Menschen, mit der Natur und dem Himmel? Wäre es nicht vielleicht sogar denkbar, dass eine zweite Schule existiert, unbekannt, im Schatten der ersten; in ihr sind die Frauen unter sich, auch die Kinder und Mädchen dürfen mitkommen, und man diskutiert ganz frei, genauso frei wie die Männer, aber unbeeinflusst von ihnen und dem allgegenwärtigen Geschlechterkrieg? Vielleicht wäre sie im Freien angesiedelt, einer arkadischen Landschaft, nicht im prächtigen Architekturpalast, aber im Hintergrund könnte man ihn sehen, so, wie man hier im Hintergrund den Himmel sieht. Sie füllt sich nur langsam, diese Schule der Frauen, die ich gern die Schule von Athene nennen möchte. Aber wenn man ihr ein wenig Zeit gibt, werden die Gestalten allmählich hervortreten, genauso farbenreich und glanzvoll. Und dann erst wird die Welt des Geistes ganz sein.

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